Ottomar Enking
Familie P. C. Behm
Ottomar Enking

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Am Sonnabend abend um acht Uhr stieg Paul die Steinstufen hinauf und sah auf das Schild an der Thür. »P. C. Behm« stand da. »Jawohl,« murmelte er, »habe die Ehre.« – Er öffnete die Hausthür mit starkem Druck, daß die Schelle viel kräftiger schwang als gewöhnlich. Der Empfang war feierlich. P. C. Behm im langen schwarzen Rock und Frau Bolette im Seidenen standen auf dem Flur. Die beiden kleinen Leute begrüßten den Ankömmling ehrfurchtsvoll. Dahinter leuchteten Bernhards goldene Extrauniformknöpfe. Bernhard war Weltmann, er drängte die Eltern beiseite und sagte: »Bitte, legen Sie ab, Herr Dokter. Sehr angenehm.« – Dann gab Anna Paul die Hand und flüsterte: »Guten Abend.« – Er voran, nach ihm Bernhard, dann Anna und zuletzt die Eltern, so ging die Schwiegersohnprozession die Treppe aufwärts. Man trat in die Wohnstube. Der Tisch war schon gedeckt, und die Bierflaschen blinkten. Es kam Körting vor, als wäre das Zimmer ganz voll von Menschen, von lauter Behms. Nur Anna sah er gar nicht, und seltsam: er vermißte sie hier auch nicht. Hier konnte sie ja überhaupt nicht sein.

117 »Bitte, nehmen Sie Platz auf dem Sofifa,« lud Bernhard jovial ein und räumte den Lehnstuhl fort, damit der Gast hindurch käme. Paul folgte der Einladung, und als er saß, rieb er sich die Hände, um etwas zu thun, und sagte, nur um etwas zu sagen: »Es ist wirklich ziemlich kalt.« – Frau Behm sah besorgt nach dem Ofen: »Hätten wir auch einlegen sollen?« – »O, hier, hier ist es ja wunderschön, – ich sprach von draußen,« wehrte Paul ab. »Es ist ja dies ganze Jahr kühl.« – »Na ja,« fing Bernhard an, um die Unterhaltung endlich in richtigen Fluß zu bringen. »Aber so für die Ärzte ist es doch gut. Alle die Erkältungen, he? Den eenen sin Uhl is den annern sin Nachtigal. Bei uns auf der Post fehlen vier. Wissen Sie,« und dabei trommelte er mit Messer und Gabel auf seinem Teller herum, »es ist zu zuchig am Schalter. Man reibt sich auf. Aber schließlich: wer reibt sich heutzutage nicht auf? Und ich muß sagen, ich denke wie Bismarck: im Dienste des Vaterlandes – nicht wahr?« – »Sehr richtig,« antwortete Paul höflich. – Anna stand schüchtern da. Frau Behm forschte auf dem Tisch herum. – »Wenn nun irgend etwas fehlt, Herr Dokter,« bat sie, »so sein Sie so gut und sagen es. Wir haben lange keine Gesellschaft gehabt, und es ist ja auch man simpel bei uns. O, in Kopenhagen hatten wir oft so viele feine Gesellschaften. Mit Punsch.« – »Ach, Sie sind aus Kopenhagen?« fragte Paul, der froh war, einen Gesprächsstoff gefunden zu haben. »Da war ich im vorigen Sommer. 118 Es ist schön da.« – »Ja, wir wohnten dicht bei Tivoli. Abends konnten wir die Musik hören,« erzählte Frau Behm mit glücklichem Lächeln. »Und der König fuhr oft an unserm Haus vorbei.« – »Was Sie sagen,« meinte Paul mit höflicher Bewunderung und Achtung.

P. C. Behm hatte sich gesetzt. Auch Anna kam allmählich an den Tisch heran. Frau Bolette bot das Brot an: »Nehmen Sie bitte von unten, Herr Dokter, da hält es sich frischer. Wir haben schon heute nachmittag geschnitten.« – »Und wissen Sie, Dokter, diese Bismarckheringe lege ich Ihnen ganz besonders ans warme Herz,« fing nun Bernhard gemütlich an und hielt Paul eine mächtige Schüssel vor, wobei er den Essig überlaufen ließ. »Macht meine Altsche alles selber, freihändig.« – »Ah, ausgezeichnet,« lobte Paul, »ja, darin hat meine Mutter auch ihre Forsche.« – »O, in Hamburg sind sie gewiß viel besser,« meinte die bescheidene Hausfrau. – »Aber bewahre – nein – wirklich ungeheuer zart!« versicherte Paul und aß eifrig. P. C. Behm ersah bei der Heringsschüssel einen Übergang zu seinem Lieblingsthema: »Ja, die Heringe werden bei uns wohl bald knapp werden.« – Paul hielt inne mit Essen und sah auf: »Wieso?« – »Wenn Koggenstedt erst Kriegshafen wird. Die vielen Panzerschiffe vertreiben die Fische. Sie haben so große Schrauben.« – »Koggenstedt Kriegshafen? Ist das beschlossen?« – »Ja. Das heißt, vorläufig bloß bei uns, in der 119 Koggenstedtia.« – Pauls Blick fragte weiter. – »Das ist unser Klub,« erklärte der Alte und sprach das Wort weihevoll aus. »Wir wollen an den Kaiser schreiben. Ich habe schon mit dem Brief angefangen. Eine große, große Arbeit. Wenn ich Ihnen nachher mal ein bißchen vorlesen darf? Ich möchte gern wissen, was Sie als gebildeter Mann davon denken.« – »Bitte sehr, wird mich lebhaft interessieren.« – »Trinken Sie, Dokter, immer trinken,« redete Bernhard zu, »der Fisch will schwimmen. Hier Salvator aus der Aktien.« – Er schenkte ihm und sich selbst ein, mit viel Schaum.

P. C. Behm hatte seinen Hering gegessen, jetzt erhob er sich und sagte tiefernst: »Erlauben Sie mir, Herr Dokter, daß ich Sie im Namen der Familie P. C. Behm herzlichst willkommen heiße. Wir sind nur einfache Leute, aber wir haben unsern Ehrenschild stets hoch gehalten und haben ein Herz in der Brust, ein Herz, Herr Dokter! Möge es Ihnen unter unserem schlichten Dache wohlgefallen, mögen Sie sich bei uns wie zu Hause fühlen. (Frau Behm wischte sich eine Thräne aus den Augen, Bernhard trank einen langen Zug, und Anna war rot.) Ich bin kein gelehrter Mann und kann meine Worte nicht so setzen, wie ich das am Ende müßte, aber nehmen Sie so fürlieb mit meinem Willkommengruß aus treuem Gemüt.« – Er hielt Paul an der Seite der Lampe über der Heringsschüssel die Hand hin, in die der Gefeierte einschlagen mußte. Dann stießen sie an. Paul war der 120 Hals wie zugeschnürt, er konnte nur sagen: »Danke, danke, Herr Behm, zu gütig, zu liebenswürdig.« – Darauf stießen sie noch einmal an, auch Frau Behm schloß sich nicht aus. Sie kam mit ihrer Theetasse, und Paul machte ihr eine tiefe Verbeugung. God save the Schwiegermutter, dachte er. Anna blickte still auf ihren Teller, ihr war beklommen zu Mut. Paul wollte ihr zutrinken und sagte: »Fräulein?« – Da schaute sie ihn, fast wehmütig, an und dankte mit langsamem Nicken.

Paul forschte in ihrem Gesicht. War das Anna, die er in Goldau geküßt hatte? War das jenes junge Geschöpf, das frei an seiner Seite schritt und mit ihm spottete über Philisterei und mit ihm schalt über Steifigkeit und Enge? War das das Wesen, mit dem er von allem sprechen konnte, was ihn bewegte? Sie kam ihm hier viel älter und gebunden vor, und als er sie mit der Mutter verglich, fand er, daß beide einander ähnelten. Jetzt schon. Und hier war sie aufgewachsen, in dieser kleinen Stube, unter solcherlei Gesprächen. Hier gehörte sie hin. Nein, das war ein ganz anderes Menschenkind, das er heute abend sah. Anna ward von seinem Blick unruhig. Seine Gedanken zitterten in ihr. Sie mußte ihm zu erkennen geben, daß sie doch die Anna war. Munter mußte sie sein. So zwang sie sich und meinte: »Es ist wohl schrecklich für einen Junggesellen, Abendbrot in der Familie zu essen, wie?« – Das sollte schelmisch klingen, aber es war mißglückt. Es hatte ganz frostig 121 geklungen. Sie fühlte das deutlich, und er wußte wirklich nicht recht, ob sie gescherzt oder schroff zu ihm gesprochen hatte. – Deshalb erwiderte er mit einem Anflug von Ärger: »Weshalb denn? Wirtshausessen ist mir gräßlich. Ich halte mir mein Abendbrot immer zu Hause und kaufe beinahe alles selbst ein.« – »So werden Sie ein guter Ehemann,« bemerkte Frau Behm anerkennend. Schwiegermama macht schon Anspielungen, sagte Paul zu sich. Anna schoß eine neue rote Welle ins Gesicht. Paul nahm aus Verzweiflung schon den dritten Bismarckhering, denn Frau Behm sah immer auf seinen Teller und nötigte, sobald er halb leer war. Bernhard sorgte für Getränke. – »Ja,« begann er wieder, indem er auf Schaum schenkte, »ich könnte auch nirgend anderswo essen als im Schoße der Familie. Gemütlicheres giebt es gar nicht. Das heißt, bisweilen speise ich gern mal in einem anständigen Hotel. So Kaisersgeburtsessen oder sonst mal. Aber für gewöhnlich nicht in die la main mit dem Wirtshausfraß. Na, es wird wohl bald jemand anders für Sie einkaufen, Dokter. Prosit.« – »Prosit, Herr Postassistent.«

Die Verlegenheit wurde immer größer. Man hörte, wie Paul am Bier schluckte. Annas Messer kreischte auf dem Teller. – »Kommen Ihre lieben Eltern nicht und besuchen Sie, Herr Dokter?« fragte Frau Behm. – »Ach, die haben wenig Zeit. Ich fahre öfters hinüber, und dann bin ich meistens auf meine Schwestern angewiesen.« – »Jawohl, Herr 122 Dokter hat zwei Schwestern,« erläuterte Bernhard. –»Gott, die lieben Mädchen,« sagte Frau Behm mütterlich gerührt und schob Mies beiseite, die ihren Teil am Brot aufgezehrt hatte und sich miauend am Stuhl scheuerte. – »Wenn Sie schreiben, bitte, grüßen Sie freundliche, Dokter,« bat Bernhard. – »Danke sehr.« – »Ich hatte auch zwei Schwestern,« fing P. C. Behm an zu erzählen, »eine starb ganz jung, als sie beinah verlobt war. In deinem Alter, Anna. Sie bekam es auf der Brust. Na, das hat ja nun bei dir keine Not. Und die andere ist erst vor einem Jahr gestorben. Die bekam einen schlimmen Leib. Sie wollte immer keine wollene Unterwäsche tragen. Und das muß man.« – »Ja, das ist sehr gesund, hauptsächlich im Winter,« pflichtete Paul bei. – »Wir verkaufen viel diese Normalhemden mit doppeltem Achselverschluß,« erzählte P. C. Behm weiter. »Neulich hat noch Frau Kanzleirat Rettich ihrem Mann vier Stück zu Geburtstag geschenkt.« – »Das sind sehr feine Leute,« ergänzte die kleine Frau Behm. – Paul verbeugte sich respektvoll. – Behm fuhr fort: »Wir tragen alle Wolle. Anna auch.« – »Ich auch,« sagte Paul. Er hätte Messer und Gabel auf den Teller schleudern und davon laufen mögen. Was sollte er denn nur hier? Bei diesen Menschen? Zu denen sagte Anna »meine Familie«? Da wollte sie ihn hineinziehen? Nicht um die Welt.

»Na, Dokter, noch 'n Bismärcker, he?« lud ihn Bernhard ein und hielt ihm von neuem die riesige 123 Schüssel unter die Augen. – »Und ein Stück Brot,« bat Frau Behm. – Paul wehrte sich mit ablehnender Handbewegung, zu sprechen vermochte er gegen das ewige Nötigen nicht. – »Na, denn Käse, sehen Sie hier, echter Holsteiner!« rief der unermüdliche Bernhard, lüftete die Käseglocke und ließ den strengen Geruch, den er mit Wonne einsog, in die Stube dringen. »Der ist durch, sage ich Ihnen. Sind eigentlich Bazillen hier in diesem Rotten?« – »O ja, warum nicht?« meinte Paul und schnitt sich ein kleines Stück ab. – »Wir haben einen Kollegen,« berichtete Bernhard, »der hat sich auf 'm Markt so 'n Mikroskop gekauft. Da kann er alles mit sehen. Neulich hielt er eine Käserinde unter. Das wimmelte von Biestern. Aber denn mag ich den Käs' eigentlich am liebsten.« – »Na,« entgegnete Paul und würgte, »das ist nun Geschmackssache.« – »Aber diesen mögen Sie doch, Herr Dokter, nicht?« fragte Frau Behm ängstlich, »sonst kann Anna ja schnell noch hinüber laufen und holen Tilsiter.« – »O bewahre, bewahre! Liebe Frau Behm! Ausgezeichnet!« – »Na, prost Rest, Dokter.« – »Wohlsein, Herr Postassistent!«

Das Essen ging ja auch vorüber, wie lang es Paul dauern mochte. Und dann kam der Nachtisch. – »Laß uns abdecken, klein Anna,« sagte die Mutter, »und bring' reine Teller. Wenn der Gelatinepudding bloß steif genug ist. Manchmal hat er es so unter sich, daß er nicht will und nicht will.« 124 – »Noch mehr?« fuhr Paul bestürzt auf, »was haben Sie nur meinethalb alles für Umstände gemacht.« – »Bitte, bitte, das gehört sich doch so, Herr Dokter. Wenn einer zum ersten Mal in unsre Familie zu Besuch ist,« lächelte Frau Behm geschmeichelt.

Der Gelatinepudding war mächtig steif, und die rote Johannisbeersauce (denn dafür hatte sich Familie P. C. Behm schließlich entschieden) war mild und doch kräftig. Ja, das war wirklich ein herrliches Gericht, und alle lobten es und sagten: »Mm, ja, soll wohl fein, fein fein fft.« – Frau Behm empfahl ihre Anna: »Die Johannisbeeren hat Anna eingemacht. Ja, einmachen, das versteht sie.« – »Prachtvoll! Natürlich. Ja. Delikat,« schwärmte Paul und aß, was er konnte, um seine Wut zu meistern. – Selbst der Nachtisch war nicht ewig. Bernhard kam mit dem Zigarrenetui und setzte eine Menge Aschbecher auf den Tisch: »Also los! Eine braune Schönheit. Dr. Rauchs gesammelte Werke Qualmtute. Extra muros!« – Er freute sich furchtbar über seine Witze, und auch der alte P. C. Behm nickte wohlgefällig. Geistreich waren sie doch in seiner Familie. Das hatten sie von ihm. Frau Behm war ebenfalls zufrieden, nur Anna wurde immer unsicherer. – »Ach, ich bin eigentlich kein Raucher,« dankte Paul. – »Aber heute, Ausnahmen bestätigen die Regel,« drängte Bernhard. Es wurde geraucht. Paul that der Dampf sogar wohl. 125 Er beruhigte ihn etwas. – »Und nun noch etwas Oel paa Flasker, wie die Dänen sagen,« ließ sich Bernhard wieder vernehmen und zog die Bierflaschen auf. Paul ließ sich alles, alles gefallen. Warum war er nur hergekommen? Und wann konnte er gehen? Gehen, um nie zurückzukehren.

»Wenn ich Ihnen nun vielleicht aus dem Brief an den Kaiser vorlesen dürfte,« sagte Behm, bescheiden und stolz zugleich. Der Abend sollte seine Weihe erhalten. – »Ach, Vater,« meinte Anna, »warte doch, bis du damit fertig bist.« – »Sechs Seiten sind ja schon fertig, da steht schon viel auf,« beharrte der Alte, Paul sagte: »Ja, bitte, bitte sehr,« Bernhard murmelte etwas wie: »Immer ran' an'n Baß und rin in's Vergnügen,« und Frau Behm flüsterte: »Unser Pappa schreibt schön. Als er war' ein Professer bei die Sjule.« – P. C. Behm hatte sein Manuskript aus der Kommode geholt, setzte seine Brille auf, that noch einen Zigarrenzug, trank noch einen Schluck Bier, räusperte sich und las vor:

»Allerdurchlauchtigster Kaiser! Großmächtigster, erhabenster und gewaltigster Kaiser, König und Herr! Wie Eure Majestät vielleicht schon zu wissen geruhen werden, wurde die gute und getreue Stadt Koggenstedt am fünften Februar 1207 von dem hochgeborenen und vieledlen Ritter Carolus von Rantzau gegründet, als welcher damals über diesen Strich Landes das Regiment führte und eines Tages mit einer Kogge, so man damals die Kriegsschiffe genannt hat, von 126 einem gräßlichen Sturm auf der Ostsee in unserer wunderschönen und für Kriegshafenzwecke sehr geeigneten Bucht Zuflucht gefunden hatte. Dieser legte den Grundstein zu dem ersten Hause, indem er die erhebenden Worte sprach: »Dysse Stede schall heeten Koggenstede von hüüt bet up ewige Tiden. So wohr uns Gott helpe sampt alle sine Hilligen.« Ferner ist Eurer Majestät am Ende schon bekannt, daß die aufblühende Stadt bereits im Jahre 1309 von schwerem Verderben betroffen wurde. Denn im Juli des genannten Jahres hatte ein verwerflicher Mensch, namens Johann Klutenpedder, die jungfräuliche Tochter des wohlgeborenen Herrn Bürgermeisters schmählich entehret und sollte um solchen Frevels willen nach Recht und Gerechtigkeit gestäupt, enthauptet und verbrannt werden. Ist er aber aus dem Turmverließ, wozu der Schlüssel verloren gegangen und der Wächter gerade trunken war, entwichen und hat die Stadt mit etlichen Spießgesellen angezündet, wodurch er mit des Teufels Hilfe einen so großen Brand hervorrief, daß nicht ein Stein auf dem anderen behaften blieb. Im Jahre des Herrn 1311 aber . . .« O Gott, erst 1311, seufzte Paul tief bei sich.

». . . kam der hochgeborene und vieledle Herr Graf von Reventlow, dem das Kloster zu Koggenstedt zinspflichtig war, und ließ die Stadt aus dem eigenen Säckel abermals erbauen.« Er hielt einen Augenblick inne. Es war doch schön zu lesen! »Sehr interessant,« sagte Paul, qualmte und trank Bier. – 127 »Kolossal, was?« meinte Bernhard. »So 'ne ganze Stadt. Aus freier Faust wieder aufbauen lassen. Das thäte heutzutage keiner! Ginge ja auch nicht. Unser Postgebäude allein kostet über vierzigtausend Mark.« – »Ach, so viel?« fragte Paul bewundernd. – »Ja, oder fünfzigtausend, ich weiß nicht. Das geht einen ja nichts an. Aber es ist lange zu klein. Wir müssen anbauen. Der Reichstag will bloß nichts hergeben. Diese Schusters. Was wissen die vom Postbetrieb? Keene Ahnung!« – Paul bedauerte die Enge, in der Bernhard seine Kräfte aufreiben mußte. »Kann denn das die Verwaltung nicht selbst bestimmen, wenn angebaut werden soll?« – »Ist möglich,« lautete die Antwort, »aber wissen Sie: unser Obermeier, der ist viel zu zaghaft. Der kriecht vor 'm Reichstag. Der hat Angst vor Bebel! Na, da sollte ich stehen. Was ich überhaupt alles reformieren würde, das glauben Sie gar nichts –»O gewiß,« beruhigte ihn Paul über diesen Punkt.

»Ja, und nun weiter,« schob sich P. C. Behm dazwischen. »Im Jahre 1314 . . .« – Aber Anna trat ihm entgegen: »Vater, das ist nun genug. Laß uns lieber noch ein bißchen was anderes erzählen.« – Dabei blickte sie mit einer Art von Scheu zu Paul hinüber. Und es fiel ihr ein: sie kannte den Mann, der dort saß, heute Abend ja gar nicht. Es war ihr eine Erlösung, als er sagte: »Ja, und ich muß nun bald aufbrechen. Ich habe noch einen Patienten.« – »O Herr Dokter!« bat Frau Behm. – »Ja, die Pflicht 128 geht doch leider vor, verehrte Frau Behm.« – Paul war sehr pflichteifrig auf einmal. Bernhard stimmte ihm zu: »Thut sie, thut sie. Sag' ich auch immer. Was wissen die Frauen von unseren Pflichten, wie? Noch 'ne Flasche und 'n Glimmstengel, Dokter! Denn geht das Kurieren um so besser.« – Paul lehnte jetzt entschieden, mit verzweifelter Entschlossenheit ab. – P. C. Behm sah ein, daß es mit dem Vorlesen nicht recht etwas würde, und legte sein Schriftstück ein wenig betrübt in die Kommode. Dann sprachen sie noch, während Paul auf dem Sprunge saß und nur darauf wartete, entschlüpfen zu können. Sie redeten vom Wetter, vom Postbetrieb, von den Telephonanschlüssen und von der neuen Gasleitung. Ob die röche. Dann über das Bier und den Reichstag und die Windpocken in Koggenstedt und die Pest in Indien. Kein Wort fiel zwischen Paul und Anna. Sie waren einander völlig fremd. Es wäre lächerlich gewesen, hätte hier einer von Verlobung fabeln wollen. – Da sah Paul, wie Frau Behm einnickte. Das war ein Grund, sich zu erheben, ein willkommener Grund! –»Ich muß wirklich, so gern ich noch hier bliebe.« – »O, o, Herr Dokter.« – »Ja, leider. Meinen allerherzlichsten Dank für den gemütlichen Abend.« – Bernhard lud gleich von frischem ein: »Machen Sie 's mal wieder so, ganz sans Scheene, tout unter na nous jungen Mädchen.« – »Gewiß, gewiß, danke sehr!« – P. C. Behm sprach den Abschiedssegen: »Es war mir eine große Freude und Ehre, Sie in meiner Familie begrüßen 129 zu können.« – »Wenn es Ihnen auch bloß bei uns geschmeckt hat,« sagte die zaghafte kleine Frau Behm. – »Aber! Aber! Großartig, verehrte Frau, ungeheuer dankbar, riesig nett.« – Schnell und hastig zog sich Paul an, schnell und hastig, mit einem Gesicht, das lächelnd sein sollte, verabschiedete er sich unter vielen Worten, drückte Anna nur obenhin die Hand und floh, raste davon. Die Thürglocke wimmerte hinter dem Flüchtling: lammel lammel lammel halt' ihn! – »Das? Das? Nie!« rief Körting wild und ballte die Hände. – –

»Ich mein', wir haben es schön gehabt,« sagte Frau Behm und räumte auf. »Ganz wie bei uns zu Hause in Kopenhagen, wenn wir hatten Gesellschaft.« – »Sehr gemütlich, Mudding, feines Abendessen. Er ist ja noch 'n bißchen schüchtern, aber das giebt sich mit den Jahren,« bemerkte Bernhard wohlwollend und trank sein Bier aus. »Wird schon warm werden, wenn er uns erst näher kennen lernt.« – »Es ist wahrhaftig auch keine Kleinigkeit, in eine Familie einzutreten. Ich weiß, wie es mir ging. Er ist ein gesetzter Mann. Er müßte in den Klub kommen.« Damit hatte ihm P. C. Behm das höchste Lob gespendet. Man ging wieder einmal friedlich froh zu Bett.

Nur Anna saß noch auf in ihrem Stübchen. Ihr war unklar zu Sinn. Weltenfern hatte er gethan, und sie selbst hatte nicht zu ihm hin können. Kein warmes Wort war gefallen, kein herzlicher Blick zwischen ihnen gewechselt. Es drückte ihr die Brust. 130 Sie öffnete das Fenster. Der Hof lag vor ihr, eng und dunkel, und der Schornstein von der Waschküche stand nüchtern da. Ob Paul wohl hatte bei ihnen sein mögen? Ob er sie wohl lieb gehabt hatte heute abend? Und das Herz, das da draußen an seiner Seite immer freudig ja, ja pochte, zog sich schmerzlich zusammen. Was hieß das? Lieber Gott, hieß das nein!?

* * *

Körting blieb in der folgenden Zeit unsichtbar für Anna. Sie machte sich oft ein Gewerbe, um in die Stadt zu kommen, traf ihn aber nie. Das bekümmerte das junge Mädchen tief, und mehr als einmal wollte sie ihm schreiben, war nur zu stolz dazu. Daß seine Zurückhaltung absichtlich war, daran konnte sie nicht zweifeln, denn früher hatten sie einander fast jeden Tag gesehen. Und weshalb er sie mied, das war ihr auch längst klar. Es hatte ihm mißfallen in ihrer Familie, es war ihm nicht gut genug gewesen. Wenn sie nachdachte: ja, Vater und Mutter waren schlichte Menschen und wußten sich nicht zu unterhalten, und Bernhard war oft unfein. Aber wenn Paul sie lieb, wirklich lieb hatte, nahm er das alles in Kauf. Was konnte sie dafür? Was hatte er mit den übrigen zu thun? Sie begann ihm zu zürnen und blieb trotzig daheim, in der stillen Hoffnung, er werde sie suchen. Doch wenn sie sich nun so in das alltägliche Leben einspann, wie es bei ihr 131 geführt wurde, dann genügte ihr das nicht mehr, und sie wurde wieder von der Sehnsucht erfaßt, Paul zu sprechen. Ihre Umgebung kam ihr allzu simpel vor. Und dann die Fragen!

»Ja, nun sollte ich meinen, er müßte bald kommen,« sagte Frau Behm. »Es gehört sich, wenn einer sich will verloben mit ein junges Mädchen.« – »Ja, weshalb ist er noch nicht dagewesen?« meinte P. C. Behm. »Ich bin diese Woche immer zu Hause geblieben. Ein Mann von Ehre wäre längst hier und hätte um unsern Segen gebeten. Ich bin gleich zu deinen Eltern gegangen, Mamma, noch ehe wir uns recht kannten. Er hat bei uns zu Abend gegessen, und nun macht er die Verlobung nicht öffentlich? Ich muß sagen: da bin ich bedenklich bei.« – »Drängt nicht, laßt alles seinen Gang gehen!« bat Anna, »ich kann das ewige Reden darüber nicht anhören!« – In solchem dringenden, beinahe gereizten Ton hatte sie noch nie zu ihren Eltern gesprochen. Scham, daß sie dasaß, halb verlobt, – Groll gegen ihn, der sie vernachlässigte, und Zorn gegen die Familie, die von keiner anderen Sache mehr verhandelte: all das machte sie heftig und unwirsch, und sie rief aus: »Vielleicht will er mich gar nicht!« – »Aber!« erwiderte Behm und hob die Hände wie beschwörend, »die Beleidigung wird er wohl deinem Pappa und deiner Mamma nicht anthun!« – »Ihr seid doch in Goldau zusammen gewesen,« fügte Frau Behm hinzu, als gäbe es in der Verlobungsangelegenheit gar keine 132 zwei Fragen. – Anna zuckte die Achsel: »Warum habt ihr ihn eingeladen? Ihr konntet warten, bis er selbst kam!« – »O, wir wissen saa maend, was sich gehört,« entgegnete Frau Behm vorwurfsvoll. – »Wenn er nicht kommt,« sagte P. C. Behm und reckte sich wie ein Urgermane, »dann werde ich ihm einen Brief schreiben. Einen Brief, worin ich ihm deutlich mache, daß er der Ehre meiner Tochter zu nahe getreten ist!« – »Ah Snack, Pappa,« warf die Mutter geniert ein. – »Ja wohl! Zu nahe getreten!« P. C. Behm schwelgte in dem Wort. »Und P. C. Behm läßt sich das nicht gefallen!« – »Schreib' ihm bloß und bloß nicht, Vater,« flehte Anna. »Dann geht alles entzwei. Laß mich für mich selbst sorgen.« – »Wir sind deine Eltern, mein Kind,« sprach der Alte weiter, »wir haben die Pflicht, für dein Wohl zu leben. Und wenn dir jemand etwas anthut, dann komm' ich!« Dabei machte er eine Bewegung, als schwänge er eine Streitaxt. – »Kein Mensch thut mir etwas.« Damit brach Anna die Unterredung ab und eilte aus dem Hause, irrte auf den Straßen umher, aber sie fand ihn nicht. Sie nannte ihn feige, und die daheim nannte sie alte Kletten. Bisher war sie durchs Leben gewandelt, ohne das Gefühl des Hasses zu kennen, jetzt brannte es sie heiß und that ihr weh.

Auch Bernhard bekam Dr. Körting nicht zu sehen. Am Stammtisch erschien der junge Arzt in dieser Zeit gar nicht. Um so mehr renommierte Bernhard mit 133 ihm. – »Na, ist Paul heute wieder nicht hier?« konnte er wohl fragen, und wenn er erstaunte Gesichter sah: wie kommst du zu der Vertraulichkeit? antwortete er selbstgefällig: »Ja, wissen Sie, wir treten uns vielleicht demnächst näher. Sogar sehr nahe.« – Nach einer Viertelstunde hatte er Andeutungen genug gemacht, daß jeder genau wußte, was los war. Das kam Körting zu Ohren. Die Leute sagten es ihm selbst. Da war der alte Ratsdiener Michaelis, den Körting wegen Reißens in der linken rechten Schulter behandelte, der tuschelte vertraulich: »Ick weet Bescheed. Man to. Is 'n lütt nüdliche Deern. Un dat Huus kriggt se noch mal.« – Und die alte kleine Frau Kommerzienrat, die immer dicke Kniee hatte, meinte, indem sie ihren Doktor gerührt ansah: »Ja, warum nicht? Es ist schon mancher auf die Art glücklich geworden. Geld und Rang thun es wahrlich nicht auf Erden. Das sagt Pastor Borchert auch.« – Solche Redensarten erbitterten Körting. Sein Widerspruch, den er, freilich mit bösem Gewissen, geltend machte, fruchtete nichts. – »Gott, wenn ein Paar junge Menschenkinder sich lieb haben,« sagte Frau Kommerzienrat süß und neigte milde das Haupt von der einen Seite zur andern, »denken sie an nichts. Ach ja, in Goldau ist es schön. Mein Mann selig und ich waren auch da, als wir verlobt waren. Aber da fuhren noch keine Dampfschiffe. Wir waren mit meinen Eltern zu Wagen da.« – Verärgert machte Körting, daß er fortkam.

134 An anderen Stellen sprach man nicht von seiner Verlobung, aber man empfing ihn kühler und lächelte etwas spöttisch dabei. Eines Tages nahm ihn auch sein Onkel Sanitätsrat beiseite und fragte: »Ist das wahr, mein Junge?« – »Was, Onkel?« – »Daß du dich verloben willst? Oder schon verlobt hast?« – »Onkel . . .« – »Heraus mit der Sprache. Mit Anna Behm?« – »Eigentlich ja, Onkel.« – »Aber uneigentlich nein? Mein Junge, ich will dir was sagen. Willst du hier bleiben und hier anständig existieren, – und das fällt dir alles in den Schoß, wenn du nur in meine Fußstapfen trittst, – dann rate ich dir dringend von der Geschichte ab. Fräulein Behm in allen Ehren; ist ein gesundes, ansehnliches und tüchtiges Mädchen, aber mit der Familie kannst du keinen Staat machen. Die wächst dir zum Halse heraus. Außerdem sind die Herrschaften hier, wenn sie ihren Arzt wählen, ziemlich abhängig davon, was die Frau Doktor für eine Geborene ist. Das macht die Kleinstadt. Wie klein die ist, ahnst du noch gar nicht. Owerlegg di dat, min Söhn. Und wenn du zurück kannst, – zuck' zurück. Es giebt eine schuftige Treulosigkeit und eine vernünftige Untreue. Die erstere wirst du nicht begehen. Aber solange dir der Weg noch offen steht, empfehle ich dir die letztere. Das klingt philisterhaft. Weiß ich. Du denkst vielleicht jetzt anders. Aber später wirst du mir danken, wenn du mir folgst. Das ist ein Schnitt, dann ist die Entzündung gehoben. Thut weiter nicht 135 weh. Deine Eltern spielen schließlich auch eine Rolle. Kannst du dir deine Mutter und deine Schwiegermama zusammen vorstellen? Schneiden, Paulemann!«

Thut weiter nicht weh? dachte Körting. – Alle die Einflüsse trieben ihn herum. Er wußte nicht, ob er Anna noch liebte, ob er sie je geliebt hatte. Scheu schlich er durch die Straßen. Bis dahin stand Anna ganz dicht vor ihm, er hielt ihre Hände in den seinigen und sah ihr in die Augen, hell und klar, aber nun war die segnende Familie dazwischen getreten und verdeckte ihm das Mädchen. Er verlor sie, ließ ihre Hände los und schämte sich dessen doch und fühlte seine Schuld ihr gegenüber. Aber das Wort von der vernünftigen Untreue war in ihm haften geblieben. Hatte er nicht schon andere Mädchen gekannt und sich seine Freiheit bewahrt? Zwar: das waren auch keine Annas gewesen. Er schalt sich, daß er die früheren mit ihr verglich. Bei denen suchte und fand er ganz etwas anderes, bei denen war ihm nie um's Herz gewesen wie bei Anna, die er immer ehrbar nennen mußte und mit der er einen Winter und einen Frühling verlebt hatte so schön wie keinen zuvor. Seine erste Liebe war sie und er die ihre. Das wußte er wohl. Und wenn sie allein gewesen wäre . . . wahrhaftig, er hätte nicht von ihr gelassen. Aber der Anhang, der Anhang. Er rief sich den Abend bei Behms ins Gedächtnis zurück. Da war Anna nicht wieder zu erkennen, und die Furcht kam über ihn, das sei am Ende ihre wirkliche Natur, die 136 da zum Vorschein trat, und das andere, das Frische, Muntere, Verständnisvolle, war nur ein bißchen Jugend und vielleicht auch ein wenig Koketterie. Nachher kannte sie auch keinen höheren Stolz, als Bismarckheringe zu machen, und trug Wolle, schreckliche Wolle, und saß im Lehnstuhl zu druseln. Das war die Zukunft. So redete er zu sich, eifrig und eifriger. Die Zukunft wollte er aber nicht. Also Bruch, wenn's auch erst schmerzte. Besser als versimpeln und in der Karriere gehemmt werden. Eine gehörige Einspritzung ins Gemüt, damit es fühllos wurde. – Nur ehrlich mußte er gegen sie sein, aufrichtig und offen, das war er ihr und sich selbst schuldig. Und obschon er sich jetzt Mühe gab, sie in seiner Seele zu verkleinern, um sich den Abschied leichter zu machen und sich einzubilden, er werde ihr ebenfalls leicht, stand sie ihm doch so hoch, daß er zu sich sagte: Sie denkt verständig genug. Sie sieht alles ein. Sie ist klug und gut dabei. Hat sie 's verwunden, wird sie ihrer eigenen und meiner Freiheit froh sein. – Er schrieb ihr: Laß uns uns aussprechen. – Anna war aber nicht am Lübecker Thor. Mochte er umsonst warten. – Er harrte und harrte und ging endlich zornig und mit verletzter Eitelkeit heim. Dazu kam auch noch die Enttäuschung: er hätte sie doch gern einmal wiedergesehen.

Anna hatte sich bezwungen nicht hinzugehen. Bei ihr zu Hause war es nicht auszuhalten. Die Eltern und Bernhard brachten das Gespräch immer wieder 137 auf Paul. Sie wurde heftiger: »Laßt mich doch in Ruhe damit! Ich bin nicht verlobt. Ich will nicht verlobt sein!« – »Nein, nein!« jammerte Frau Behm, »was du für einen Ton hast zu deine Eltern. Wir sorgen doch bloß und wollen dein Bestes.« – »Mein Bestes ist, wenn ihr endlich aufhört, mich mit der dummen Geschichte zu quälen.« – »Aber, Kind,« mahnte der alte Behm dann, »wir müssen über unsere Ehre wachen. Die Ehre ist das Heiligste, was wir haben. Sonst sind wir arme Leuten – »Wir haben ihn so nett aufgenommen,« meinte Frau Behm. »Minna von gerade schräg über vor frägt schon jeden und jeden Tag.« – »Laß sie fragen. Was geht's die an?« – »Und dein Ruf?« hub P. C. Behm wieder an, »und der Ruf der Familie P. C. Behm?« – »Dem werd' ich schon keine Schande machen.« – »Schande ist es aber, wenn ein Mann seine verlobte Braut mir nichts dir nichts sitzen läßt,« rief der Alte und schritt erregt in der Stube auf und ab. Die Schöße seines Schlafrockes wehten, und die Klunker am Strickgürtel schwangen weit in der Luft herum. – »Ich bin ja gar keine Braut!« fuhr Anna auf, und ihre Stimme klang scharf und schrill, »ich will Frieden haben, Frieden, versteht ihr mich? Sonst werd' ich wütend!«

Sie schlug die Thür hinter sich zu, daß es knallte. Schluchzend saß sie auf ihrem Kämmerchen und bereute, daß sie nicht zur Aussprache mit Paul gegangen war. Vielleicht wäre alles wieder gut geworden. 138 Vielleicht hatte er sie um Entschuldigung bitten wollen, daß er sie vernachlässigte, vielleicht hatte er den Tag darauf bei den Eltern seinen Antrag machen wollen. Das war verscherzt. Streit herrschte im Hause, Friedlosigkeit war in ihr, Kummer saß über den Augenbrauen ihrer Eltern. Und Bernhard, dem das Ganze ungemütlich war, machte alles nur noch schlimmer mit seinen beruhigenden Bemerkungen: »Wird sich schon zurechtziehen, wollen ihn wohl kriegen.« – Schrecklich war das. Und hatte so schön begonnen. Sie schämte sich und wußte doch nicht, weshalb. Nur das fühlte sie: Paul und ihre Familie, die paßten nimmermehr zusammen, eine Kluft war zwischen ihnen, über die er nicht ging, selbst um ihretwillen nicht. Und im innersten Herzen nahm sie es ihm nicht übel, gleichzeitig aber dachte sie: Warum sind ihm die Meinen nicht gut genug? Dann bin ich es auch nicht. –

P. C. Behm faßte einen Entschluß. Die beiden Alten lagen im Bett und wärmten sich an und blickten sorgenvoll zur Decke hinauf. – »Ja, Mamma, das thu' ich,« sagte Behm entschieden. – »Was, mein Pappa?« – »Ich geh' zu ihm. Ich will ihn fragen.« – Er kam in Bewegung, schob die Kniee heraus, daß die Decke ein Spitzdach über seinen Beinen bildete, und rückte mit der linken Hand an seiner Nachtmütze. Auch Frau Behm wurde von der Unruhe erfaßt: »Zu (sie sagte »ßu«) ihm? Fragen?« – »Ja, fragen, ob er einen alten Mann wie mich zum Narren halten 139 will oder nicht.« – »O, Pappa, Pappa, was er denn wohl sagt?« – »Muß ich das denn nicht, Mamma?« – Die Frage entmutigte ihn selbst, und er fügte hinzu: »Ich werde in seiner Sprechstunde zu ihm gehen. Das fällt nicht so auf.« – Das leuchtete Frau Behm ein: »Ja, thu' das. So kommst du leichter zu ihm herein.« – »Und denn soll er mir Rede stehen.« – »Die arme kleine Deern wird immer magerer. Die blaue Taille sitzt ihr schon so.« Sie faßte in ihre Bettdecke und machte eine große Falte: »So, Pappa.« – Vater Behm schüttelte den Kopf schmerzlich: »Dja, dja. Wir wollen doch unser Kind glücklich machen, nicht, Mamma?« – »O, so Gott, mein Pappa.« – Die Thränen liefen der kleinen Frau längs den Schläfen und tropften über ihre Ohren auf das Kopfkissen. – »Aber sag' ihr nichts davon, Mamma. Recht glücklich soll sie werden. Sie ist ein gutes Kind. Sie hat uns Freude gemacht alle die Jahre. Immer die schönen Zeugnisse.« – »Ja, lauter Einsen. Und wie nett sie aufsagen konnte. Schon in der vierten Klasse, zu Ostern. Da hatte sie das blau und weiß Gestreifte an.« – »Und Herr Pastor war immer mit ihr zufrieden. Sie war die allerbeste in der Konfirmandenstunde. Ja, Mamma, ich muß was für unser Kind thun. Das ist meine Vaterspflicht.« – »Das ist es sacht, mein klein Mann.« – »Das war ein guter Gedanke von mir, da wollen wir mal schön auf schlafen.« – Für die 140 beiden Alten war wieder einmal alles in bester Ordnung.

* * *

Am nächsten Morgen traf es sich gut. Anna ging aus. So zog P. C. Behm seinen Sonntagsrock an, der ihm bis über die Kniee reichte, und setzte den hohen rauhhaarigen Zylinder auf, der fast bis auf seine Ohren herabsank. Dann machte er sich mit ernstem Gesicht und würdevollen Schritten auf den Weg, und Frau Bolette sah ihm weinenden Auges nach. – Der Alte trat ins Sprechzimmer. Da saßen schon Männer und Frauen und ein Kind. Der Doktor öffnete die Thür, um eine Patientin hinauszulassen, und sagte: »Bitte, der Folgende.« Dabei fiel sein Blick auf den Alten, der sich respektvoll erhoben hatte. Körting dachte: Was will denn der hier? Als Behm an der Reihe war, lud er ihn ein, näher zu treten. Der faßte feierlich seinen Zylinder und kam. Körting sah ihn fragend an. – »Herr Dokter,« begann Behm, »entschuldigen Sie. Ich bin eigentlich nicht krank.« – Körting blickte ihn unverwandt an. – »Herr Dokter, ich stehe als Vater vor Ihnen. Als Vater von Anna. Ich wollte Sie fragen, fragen, was es damit auf sich hat (er wurde verzagt, aber er nahm allen Mut zusammen), daß Sie noch nicht bei uns gewesen sind? Sie wissen wohl, weshalb. Hat mein Kind das um Sie verdient, Herr 141 Dokter?« – Es lag viel Schmerz in seiner Stimme. Aber Körting hörte den Schmerz nicht, ihm schoß das Blut zu Kopf: »Darf ich fragen, Herr Behm, kommen Sie in Annas Auftrag?« – »O bewahre. Sie weiß von gar nichts. Aber ich muß für mein Kind sorgen. Daß sie ihren guten Namen behält. Und meine Familie, Herr Dokter . . . wir sind eine wohlehrbare Kaufmannsfamilie.« – »Das bezweifle ich nie.« – »Nun? Also? Sie können doch nicht leugnen, daß Sie meiner Tochter . . . näher getreten sind, Herr Dokter?« – »Aber Ihnen nicht, Herr Behm.« – Die Kälte benahm dem alten Mann den Atem. Ihm war, als sei er im scharfen Frost plötzlich aus der warmen Stube ins Freie getreten. – Er stotterte: »Ja, aber doch . . . meiner Familie.« – »Herr Behm, was zwischen Ihrem Fräulein Tochter und mir vorgegangen ist, geht nur uns beide an. Vor ihr werde ich mich rechtfertigen. Mit anderen spreche ich darüber nicht. Dazu steht mir Ihr Fräulein Tochter viel zu hoch.« – »Aber, Herr Dokter,« rief der Alte und war ganz verwirrt, »ich bitte Sie . . . Sie sind doch . . . Sie haben doch . . .« – »Herr Behm, nochmals: ich habe nur mit Ihrem Fräulein Tochter zu thun.« – Schnell erhob er sich vom Stuhl, die Unterredung zu endigen. Da wallte es in dem kleinen Mann auf, er fuchtelte mit seinem Zylinder herum: »Glauben Sie denn, daß ich gekommen bin und betteln will? P. C. Behm hat noch nie gebettelt! Thun Sie, was Ihnen Ehre und Gewissen erlauben. Für einen, 142 der es nicht ernst meint, ist meine Anna zu gut!« – Er wandte sich kurz um, und stolz darauf, daß er stolz gewesen war, kam er heim. Aber er zitterte doch. – »Du bist ja blaß, mein klein Mann,« sagte Frau Behm ängstlich. – Er setzte sich und wischte sich die Stirn. »Ich hab' gethan, was ich konnte. Ich hab' mich sogar einen Augenblick gedemütigt. Aber nur einen Augenblick. Er soll sich nicht einbilden, daß er jetzt noch meinen Segen bekommt. Und wenn er tausendmal darum bittet!« – »Was denn, Vater?« Anna sah mit quälender Spannung auf ihn hin. – »Das ist ein Unwürdiger, Anna. Den können wir nicht in unserer Familie haben.« – »Vater, was denn nur?« – »Ich bin bei ihm gewesen, weil wir dich glücklich machen wollten. Bei ihm, den wir erst eingeladen haben, weil wir glaubten, er meinte es ehrlich . . .« – »Vater! Bei Doktor Körting?« – »Ja. Das muß aus sein zwischen euch. Ganz aus. So wie er deinen Vater behandelt hat. Das bist du deiner Familie schuldig. Mich soll es nichts angehen, was er mit dir hat. Mich soll das nichts angehen, Mamma!«

Anna war erst fassungslos. Dann brach der Haß gegen ihren Vater und ihre ganze Familie in ihr los. Sie kreischte: »Warum mischt ihr euch hinein? Wie dumm das ist! Alles zerstört ihr mir. Mein ganzes Leben!« – »Anna,« sagte der Alte und hob feierlich seine Hand, »wenigstens hab' ich dir deine Ehre gerettet.« – »Ach was, Ehre.« – »So dankst du es deinem alten braven Vater, daß er ist für dich 143 gegangen und hat gekämpft für dich?« schluchzte Frau Behm. Anna hatte Hohn im Haß. »Dank? Auch noch Dank? Was geht euch Doktor Körting an? Kämpf' du doch für deinen alten Kriegshafen!«

Das war der schwerste Stoß, den der Alte im Leben bekommen hatte. Das traf ihn tief, tief wie ein spitzer Dolch. Er sank zusammen und murmelte: »Denn ist ja nun alles hin. Denn hab' ich wohl gar keine Tochter mehr. Sie verspottet ihren alten Vater. Mamma womit haben wir das verdient?« – Sein grauer Kopf lag auf seiner Brust. Er konnte keine Luft kriegen. Und Frau Behm rang die Hände und eilte auf ihn zu und nahm seinen Kopf und legte ihn an ihre Brust und weinte und streichelte ihm die Backen und rief: »Snell, snell, Anna, gieß' Kamillen auf für Pappa, daß wir Umschläge machen können. O nein, o nein, wie haben wir es jetzt immer traurig bei uns. Wir stakkels, stakkels Menschen. Stakkels Pappa. So, so.«

* * *

Noch einmal schrieb Körting. Anna kam. Die Bäume vor dem Thor hatten schon große Blätter, und die Kirschen und Äpfel und Birnen und Pflaumen in den Gärten blühten schneeweiß. Der Salat sah frischgrün aus den Beeten heraus, und das Gras auf den Wegrändern war saftig. Die Dornen waren dicht. Man konnte nicht so weit 144 sehen wie damals, als sie den Pfad zum erstenmal miteinander geschritten waren. Es war heimlicher um sie. Aber all das Heimliche wurde ihnen nicht zur Traulichkeit.

»Ich habe nichts davon gewußt, daß mein Vater zu dir wollte,« sagte Anna. – »Nein,« entgegnete er fest. »Selbstverständlich nicht. Und ich danke dir, daß du jetzt gekommen bist. Anna . . .« – Er wollte ihr die Hand reichen, aber sie schüttelte den Kopf: »Laß das doch.« – »Anna, wenn wir in einer großen Stadt lebten. Aber du ahnst nicht, wie mich das Nest hier bedrückt. Zuerst hab' ich das nicht empfunden. Aber allmählich wird es mir immer enger. Und ich muß doch hierbleiben. Meine Eltern . . . (weil er mich nicht so liebt, muß er hierbleiben, dachte Anna. Warum könnte er mich sonst nicht fortbringen, in eine große Stadt?) Ich nehme immer mehr Rücksicht. Dazu wird man erzogen. Ich bin lange nicht so frei mehr, wie ich war. Ich riskiere nichts mehr.« – Anna mußte lächeln. Die vielen Worte! Wie hoch stand doch ihre eigene Liebe über der seinen. Er fuhr fort: »Und dann, Anna, ich will dir nichts vorlügen: Der Abend bei euch.« – »Ja, ja, ich weiß.« – »Anna, wie hältst du das Leben zu Hause bloß aus?« – »Darüber hast du mir erst die Augen geöffnet. Früher schien es mir gut. Ich habe mir nichts Besseres gewünscht. Nichts anderes denken können. Jetzt freilich weiß ich oft nicht, wie ich es ertragen soll. Das dank' ich dir, und . . . . Paul, 145 ich dank' es dir auch wirklich, so viel Unheil ich davon zu leiden habe, von dieser Erkenntnis. Hinaus kann ich nicht. So will ich mich denn wieder einspinnen. Und zuweilen an Goldau denken. Da war es noch schön in meinem Leben.« – »Anna, mach' mir bitte nicht solche furchtbaren Vorwürfe. Wenn ich damals schon gewußt hätte, wie das hier ist, ich hätte dich wahrhaftig nicht . . .« – »Warum nicht? Gönn' mir doch mein bißchen Sonnenschein. Ich bin gern mit dir gegangen, wohin du mich führtest. Und ich finde auch schon meinen Weg zurück. Allein. Dahin, wo ich hin gehöre.« –

Er hatte sich vorgenommen, »streng sachlich« zu sein, wie er bei sich sagte. Aber das Mädchen an seiner Seite war ihm noch nie so edel und tapfer und gut und liebenswert erschienen wie heute. Schuft, sagte er zu sich selbst. Konnte es denn nicht doch sein? Konnte er sie nicht an sich reißen und für sich behalten? Allem trotzen? Recht unpraktisch sein? Liebte er sie nicht genug dazu? Wie die Blüten auf einmal gleißten, wie hell das Grün war, wie jubelnd die Vögel sangen, wie frisch der Wind ging!

Er ergriff ihre Hand. – »Anna.« – Sie blieb stehen. Er drängte sich an sie. Sie duldete ihn. In ihren Augen lag Hingabe. Eine Blüte fiel auf ihr Stirnhaar. So schön war sie. Er küßte sie, und sie sog an seinen Lippen. Dann ließ sie sich langsam aus seinen Armen gleiten. – »Das war der Abschiedskuß, Paul.« – »Nein, Anna, bitte bitte nein!« – Er 146 wollte abermals hin zu ihr. Doch sie wich ihm aus. – »Der Abschiedskuß, Paul. Ich kenne deine Liebe zu genau. Ich will dich nicht ins Elend bringen.« – »Wir können uns ganz abschließen, Anna, von aller Welt. Nur für uns leben.« – »Das können wir nicht. Die anderen stecken von allen Seiten ihre Finger hinein. Nach ein paar Monaten hättest du mich nicht mehr lieb, und dann wäre ich bitter unglücklich. Jetzt will ich es schon tragen. Du wolltest doch vernünftig sein, als du dich von mir zurückzogst. Nun muß ich wohl schließlich noch die Vernünftige für dich sein? Bin ich auch. Laß uns nicht länger sprechen. Bitte nicht. Jetzt gehen wir schön auseinander. Die Eltern darf man sich nicht verachten lassen, Paul.« – »Verachten, bewahre, verachten.« – »Nenn' es, wie du willst. Ich weiß, wie es gehen würde. Und nun nicht mehr bitten und drängen. Es soll leise ausklingen zwischen uns.«

Sie schlug einen Weg ein, der rasch auf die Chaussee führte. Noch wollte er sie halten, wollte mit ihr reden. Aber sie wehrte alles ab: »Nein, nein. Nichts Lautes mehr.« – Sie eilte vor ihm her. Und wie lieb er sie in dieser Stunde hatte, es saß doch ein Fünkchen Erlösung in seinem Herzen, so groß wie ein kleiner Stecknadelkopf, daß alles glatt gegangen war.

Sie bogen in die Chaussee ein und kamen ans Lübecker Thor. Da aber stockten ihnen beiden jäh die Füße, denn die Straße heraus gingen Mutter Behm und Bernhard. Körting und Anna erblicken, und einen 147 Geniestreich thun, um dem armen Mädchen zum Glück zu verhelfen, war für Brüderlein eins. Er winkte mit der Hand und rief lustig: »'n Abend, Schwager!« – Frau Behm legte den Kopf schief und sagte gerührt: »Ach du lieber Gott, ja.« – Körting fuhr zusammen und sah einen Augenblick finster auf Anna. Die beschwor ihn mit flehenden Händen: »Nein, nein! Ganz zufällig, ganz zufällig!« – Aber Körting grüßte obenhin, machte Kehrt und verschwand. – –

Daheim, bei Familie P. C. Behm, kam es zu einem Auftritt, wie ihn das alte kleine Haus noch nicht erlebt hatte. Anna schrie: »Das habt ihr davon! Schändlich habt ihr an mir gehandelt! Alle drei! All mein bißchen Ansehen raubt ihr mir, wie ihr mir das bißchen Liebe geraubt habt mit eurem Dazwischenmengen. Schändlich! Schändlich! Jetzt bin ich erst unglücklich. Durch euch!« – Mies kroch in den Winkel neben dem Ofen und lugte hervor, als fürchte sie Schläge. Anna stand mit geballten Händen: »Ihr mit eurer Zudringlichkeit. An den Hals habt ihr mich ihm werfen wollen. Da ist es ganz natürlich, daß er mich nicht nimmt. Und nun glaubt er noch, daß ich ihm zuletzt eine Falle gestellt habe. Oh!« – Sie stöhnte. Furchtbar beleidigt war sie und beschämt. – Die anderen saßen still und geduckt, die gefalteten Hände zwischen den Knieen. Anna kam nicht zur Ruhe, es tobte zu schrecklich in ihr. – »Ich laß mich auf der Straße nicht mehr sehen. Daß sie mich auslachen, nicht? alle die dummen Weiber, weil ich ihn nicht gekriegt habe. 148 Kein freundliches Gesicht mach' ich euch mehr. Weg will ich überhaupt von euch, weit weg, und wenn ich als Dienstmädchen gehen soll. Ihr mit eurer Familienehre. Ach, das ist alles so simpel bei uns, simpel wie die alte Tasse da. So möchte ich es in Stücke schlagen!«

Sie faßte die Tasse und schleuderte sie hart zur Erde, daß die Scherben von einander stoben. Mies schrak zusammen und kroch unter die Kommode. Auch die anderen zuckten scheu. Kein Wort wagten sie, und ihre Augen starrten entsetzt auf die weißen Tassenstücke. Anna sah sie haßerfüllt an, tiefe Bitternis grub sich ihr ums Kinn ein. Dann warf sie ihnen noch hin: »Macht, was ihr wollt. Wir sind geschiedene Leute!«

Sie stürzte hinaus und hinauf in ihre Kammer, warf sich aufs Bett und lag starr, bis sie endlich weinen konnte. Und nun weinte sie lange, lange, im Dunkeln, denn ihre Seele war unendlich traurig um den Frühling, der so köstlich aufgeblüht und so unbarmherzig vernichtet worden war.

Es klopfte an der Thür. Das war Bernhard. »Schwesting! Schwesting!« – Sie antwortete nicht. Er trat ein. Im Mund hatte er die Zigarre, in der einen Hand trug er ein brennendes Licht und in der anderen eine Flasche Bier und ein Glas. Anna warf sich zur Seite, von ihm weg. Das Licht that ihr weh, und sie wollte keinen Menschen hören, keinen Menschen. Er aber kam näher und ging bis an ihr Bett.

»Schwesting,« sagte er demütig, »willst du nicht n' Glas Bier trinken, daß du ein bißchen ruhiger 149 wirst?« – Sie schüttelte bloß heftig den Kopf. Er setzte das Licht auf den Tisch, schenkte sich selbst ein und trank in tiefem Zuge. Dann hockte er sich auf die Bettkante zu ihr. »Schwesting, mein klein Annemusch, es thut uns ja fürchterlich leid. Fürchterlich leid thut es uns. Aber wir können doch nichts dafür, wie? Wir haben doch nur dein Bestes gewollt, nicht wahr? Dein Allerbestes, mein arm klein Schwesting.«

Er hatte die eine Hand auf Annas vom Weinen leise erzitternden Rücken gelegt, trank sein Bier in Trauerschlucken und rauchte voller Wehmut seine Zigarre.

 
Ende des ersten Buches.

 


 


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