Ottomar Enking
Familie P. C. Behm
Ottomar Enking

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Die Ostseeküste von Schleswig Holstein blieb frei. Das Eis kam nicht wieder. Anna sah Körting deshalb nur selten, nur, wenn sie einander zufällig trafen. Dann blieb er stehen und rief dem jungen Mädchen fröhlich zu: »Nun, geht es gut, Fräulein Behm?« – Er sagte Fräulein Behm, wenn er laut sprach, denn hier auf der Straße waren sie in Gesellschaft und nicht einsam, wie auf dem hellgrünen Eisspiegel mit den tausend und abertausend Schneesternchen. Sie erwiderte freundlich: »Danke, ja, Herr Doktor, und Ihnen?« – Es kam vor, daß er ohne zu fragen mit ihr umkehrte und an ihrer Seite ging, bis sie an dem Hause waren, wo sie eine Besorgung zu machen hatte. Und wenn sie zusammen dahinschritten, fühlten sie sich doch allein, mitten unter den Menschen, und er füllte kühnlich 63 den leeren Platz hinter dem Wort Fräulein aus und nannte sie Fräulein Anna. Er erzählte ihr, daß er jetzt schon sieben Patienten habe, lauter jüngere und ältere Damen, denen nichts fehlte als ein Mann oder tüchtig Kartoffelschälen. Anna lachte und war nicht eifersüchtig; das waren ja nur solche, mit denen er kein vernünftiges Wort schnacken konnte! Die glaubten noch an das, was Pastor Borchert haben wollte. Über Religion sprachen sie nicht weiter. Das Thema war für sie abgethan, sie waren einig geworden. Statt dessen plauderten sie über hunderterlei Kleines, und Anna klagte ihm manchmal schon ihr Leid: »Ach, immer zu Hause sitzen. Jeden Tag dasselbe. Und meine Eltern . . .« – Sie wollte sagen: Die verstehen mich nicht, aber ein Familiensinn, dessen sie sich bisher nicht bewußt gewesen war, regte sich in ihr und hielt ihr die Worte zurück. Und sie fügte nur leise hinzu: »Ja, gut sind sie gewiß gegen mich.« – Er fühlte, was sie unausgesprochen ließ, und wollte gütig sein gegen die alten Leute. – »Mit Eigenheiten hat wohl jeder in seiner Familie zu rechnen. Mein alter Herr ist auch oft wunderlich.« – Aber damit war er doch nicht geschickt gewesen. Anna mochte nicht hören, daß ihre Eltern wunderlich seien. Sie meinte ein wenig hart: »Nein. Sie sind nur so bescheiden. Und sie haben ihr Leben lang fleißig gearbeitet. Vater reist sogar jetzt noch bisweilen auf Kundschaft. Bloß . . . es ist eintönig.« – »Lesen Sie nicht?« – »Dazu hab' ich wenig Zeit, so klein 64 wie das Haus ist. Ja, ja, Sie sollten meine Hände sehen.« – Er blickte zur Seite auf ihre Hand. Unter dem schwarzen Leder zeichnete sie sich kräftig ab. Sie war nicht klein, nicht zierlich, aber gerade das Starke an ihr zog ihn an. – »Ich mag diese charakterlosen Backfischhände nicht,« meinte er. – »Die hab' ich nie gehabt. Aber ein bißchen Zerstreuung möchte ich gern haben. Wir haben kein Geld, daß wir ins Theater gehen und reisen könnten, wie andere Leute.« – Er dachte daran, daß er oft Sonnabends nach Hamburg oder nach Kiel fuhr und dort tüchtig bummelte, bis er am Montag wieder in Koggenstedt war, und es schien ihm unrecht, sich solche Freiheit und solche Vergnügungen zu gestatten, wo Anna nichts von alledem hatte. Das Mitleid ließ ihn suchen, ob er ihr Freude bereiten und Abwechselung in ihr Leben bringen könne. Er fand nicht viel, aber was er fand, trug er ihr vor. – »Fahren Sie nie mit dem Dampfer nach Goldau?« – Das war ein Dörfchen auf einer Halbinsel am Ausgange der Koggenstedter Bucht. Dahin quirlte sich täglich des Nachmittags eine kleine Kaffeemühle von Dampfschiff mit dem hohen Namen »Swantewitt« und kam früh abends zurück. – »Da sind wir ein paarmal gewesen,« entgegnete sie, »aber das kriegt man auch leid.« – »Das schöne Meer? Und ein Blick von der Höhe aus, wenn man den Strand hinaufsteigt? Leid?« fragte er verwundert. – »Da war ich nie. Wir haben nur immer bei Hinrichsen im Garten gesessen.« – 65 »O, den Blick müssen Sie sehen! Können wir beide nicht einmal hinfahren?«

Das kam ihm heraus, weil es ihn drängte, sie froh zu machen, und weil er hier doch etwas Herrliches wußte, das er gern mit ihr teilen wollte. Kaum hatte er's freilich gesprochen, als es ihm keck und aufdringlich däuchte. Aber er trotzte der Reue und wiederholte fast bittend: »Wir beide, Fräulein Anna.«– »Das ginge nicht, Herr Doktor.« – »Ach, es geht alles! Wenn Frühling ist, nicht wahr? Dann riskieren wir es einfach.« – »Was die Leute sagen würden.« – »Leute! Leute! Vor lauter Leuten wagt hier in Koggenstedt kein Mensch einen Schritt zu thun. Sie sind doch frei. Lachen Sie die Leute aus!« – »Aber meine Eltern und mein Bruder.« – »Brauchen die es zu wissen?« – Das war das erstemal, daß er versuchte, sich zwischen Anna und ihre Familie zu drängen. Aber er hatte sie lieb und glaubte ein Recht zu haben, ein kleines Geheimnis für sich und Anna zu schaffen. In Anna goß er damit Neues, Wunderbares hinein. Sie sollte etwas thun, was ihre Familie nicht zu wissen brauchte? Das konnte sie erst nicht begreifen, und sie verneinte. – »Denen zu Hause darf ich nichts von mir verschweigen.« – »Ach, Fräulein Anna, das ist auch nur Vorurteil. Sie leben schließlich für sich selbst. Zu befehlen hat Ihnen niemand. Und ist es denn eine große Sache? Die vier Stunden, die wir fort sind! Das ist nicht aus der Welt.« – »Doch!« rief 66 Anna und war erregt. »Herr Doktor, das ist aus der Welt. Wenigstens beinahe so weit. Ich bin noch nie eine Stunde fort gewesen, daß meine Eltern es nicht wußten.« – »Dann wird es aber hohe Zeit, Fräulein Anna, daß Sie sich endlich einmal losmachen. Da wird Ihnen frisch zu Mute.« – Das sagte er ehrlich und überzeugend, und Anna war schon bereit, ihm nachzugeben. Es lockte sie, ganz Koggenstedt ein Schnippchen zu schlagen, ja, es lockte sie sogar, eine Heimlichkeit vor ihren Eltern zu haben. Dabei empfand sie Stolz, weil Körting ihr solchen Mut zutraute. Aber wehren mußte sie sich dennoch, denn sie merkte deutlich: er erbat eine Gunst von ihr. Die Gunst mußte sie erst verweigern, damit er recht begierig wurde. – »Es geht nicht,« antwortete sie darum, viel entschiedener, als ihr um's Herz war. Und nun erlebte sie eine Überraschung.

Er bestand nämlich nicht auf seine Bitte, sondern fing von anderem an. – »Ich habe noch ein Buch von Ihnen. Die Koggenstedter Chronik.« – Sie hatte gehofft, er werde fortfahren, in sie zu dringen. Als er das jetzt nicht that, war sie bestürzt. Sie hatte sich gleichsam gegengestemmt, um ihm Widerstand leisten zu können. Nun kam er gar nicht. Darauf war sie nicht gefaßt gewesen und mußte rasch einen Schritt vorwärts thun, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Es genierte sie, überrascht worden zu sein; sie nahm es ihm fast übel. – »O,« meinte sie kurz, »das können Sie gern behalten. Die 67 Geschichten sind Ihnen aber wohl zu dumm.« – Er erstaunte. Was hatte er ihr gethan, daß sie einen rauhen Ton anschlug? – »Ich lese Chroniken sehr gern,« sagte er, »und behalten möchte ich's schon, ja, wenn Sie mir es schenken wollten. Aber da steht der Name Ihres Vaters darin. Weiß Ihr Vater denn nicht, daß Sie es mir geliehen haben?« – Sie schüttelte den Kopf: »Mein Vater hat noch eine Chronik, eine viel ältere. Deshalb hat er mir diese gerade gegeben. Er vermißt sie nicht.« – Nun richtete er sich auf: »Dann haben Sie ja schon eine Heimlichkeit vor ihm!« – Er war ein großer Sieger, als er sie überführte, und sie war eine kleine Besiegte. Erst wollte sie trotzig werden. Er jedoch lachte lustig: »Sehen Sie wohl?« und sah sie gut dabei an. Das Zornesfünkchen zischte aus, und sie vergab ihm seinen Triumph und meinte mitlachend: »Ich bin eine schlechte Tochter.« – »Schlechte Töchter sind riesig verständige Mädchen. Sagen Sie, soll ich Ihnen das Buch zuschicken?« – »Das macht Aufsehen.« – »Soll ich es Ihrem Bruder beim Dämmerschoppen mitgeben? Ich komme allerdings nur selten. Die Gesellschaft . . .« – Er verschluckte das: »gefällt mir nicht mehr,« und lenkte schnell ein: »Ich kann es ihm mitgeben.« – Anna wollte nichts davon wissen. Was sollte Bernhard dazwischen? – »Der macht bloß seine Bemerkungen.« – Aufs neue wagte er einen Angriff: »Dann will ich Ihnen etwas sagen: Sonnabend Nachmittag treffen wir uns irgendwo, und ich geb' es 68 Ihnen selbst, nicht wahr?« – Er erbat also abermals eine Gunst. Anna wollte sich zunächst wieder weigern, indes sie gedachte des Schreckens, den sie vorhin bekommen hatte, als sie ins Leere stemmte. So sank ihr der Kopf ein bißchen nach vorn, und sie antwortete aus Zaghaftigkeit leise: »Meinetwegen.«

Lebhaft beredeten sie Ort und Zeit und nahmen Abschied wie Verschwörer. Anna ging heim, der Furcht und der Freude voll. Sie hatte ein Stelldichein versprochen und zitterte, man könne ihr das ansehen, sie könne sich verraten. Bernhards Kartoffeln schwammen an diesem Abend im Fett. Das war eine Art von Abbitte, die Anna ihrer Familie leistete, weil sie Heimliches vorhatte.

* * *

Ja, sie freute sich ihrer Heimlichkeit. Als der Sonnabend gekommen war und Familie P. C. Behm ihr Mittagsessen verzehrt hatte, ordentlich Brotsuppe mit Rahm und schöne weiche Leber mit Bohnen und saurer Gurke, wusch Anna schnell ab, und als der Kaffee getrunken und Bernhard aufs Amt gegangen war, während P. C. Behm noch einmal zu Land mußte, weil Stoltenberg auf Regelank zwölf Paar warme Sommerstrümpfe brauchte und seines Rheumatismus wegen nicht selbst zur Stadt kommen konnte, um sich die richtige Nummer auszusuchen, da kleidete sich Anna bangfrohen Herzens so fein an wie sonst nur am Sonntag und machte ihr 69 Haar sorgfältig, als sollte sie zu großer Kaffeegesellschaft. Dann eilte sie hinunter und öffnete die Ladenthür eben, damit Mutter alle ihre Anstalten nicht sah, und rief hinein: »Ich geh' nachher bei Lauritzens vor, ob Meta mir morgen nicht bei dem neuen Kleid helfen kann. Und erst will ich ein bißchen spazieren.« – Eigentlich wollte sie die Thür zumachen, als sie das gesagt hatte, aber ihr schlug das Gewissen und hielt sie fest, und sie mußte hören, ob Mutter das mit dem Spazierengehen auch glaubte. Frau Bolette Behm war gar nicht mißtrauisch, sah nicht einmal von ihrem Strickstrumpf auf und meinte nur: »Ja, so kannst du sacht bei Meier vorgehen, daß er mir Torf bringt.« – »Gern, Mudding.« – Das kam leicht heraus. Anna war vergnügt, weil Mutter keinen Verdacht hegte. Aber gerade, wie sie die Thür schließen wollte, machte Mies von ihrem gewöhnlichen Platze neben der Wiegeschale einen Satz auf den Fußboden zu ihr hin, glühte sie mit den Augen an und sagte: »Jauuh!« Das sollte wohl gar heißen: Mädchen, da ist was nicht richtig! – Anna erschrak beinah und eilte davon.

Und auf der Straße . . . Ja, was dachten die Leute nur, weil sie im Sonntagsstaat war? Sie schlug eine Richtung ein, die ganz wo anders hinführte als nach dem Lübecker Thore, bei dem sie einander treffen wollten. Auf die Art suchte sie die Menschen irre zu führen, daß die nichts merkten Als sie jedoch den großen Bogen um die Altstadt und 70 am Hafen entlang machte, bekam sie Angst, ob sie auch noch zur rechten Zeit hingelangen könne, sie beschleunigte ihren Schritt, und ihre Wangen wurden rot, denn es war ein warmer Vorfrühlingstag. Bald zauderte sie wieder: warum konnte er nicht ein wenig warten? Sie lächelte kokett vor sich hin. Laß ihn nur warten? Er sehnt sich desto mehr. Nur immer diese leidige Furcht, es möge jemand hinter ihr gehen und sie beobachten! Sie durfte sich doch nicht umsehen, das schickte sich nicht für ein junges Mädchen. Schließlich hielt sie's aber nicht mehr aus und blickte scheu zurück. Da ging bloß Jule Petersen hinter ihr mit ihrem Korb und verkaufte geräucherte Bücklinge. Die war ungefährlich, denn auf dem einen Auge war sie – Gott sei Dank, dachte Anna – blind, und wenn sie sprach, dann stotterte sie, und die Luft pfiff ihr überdies heraus, denn sie hatte nur zwei Vorderzähne. Anna wurde ruhig und fühlte sich sicher. Sie wurde sogar übermütig, schwenkte den Schirm und grüßte sich zu, als sie sich im Spiegel sah, der bei Barbier Martens im Fenster stand. Und sie fand, daß es hübsch aussah, wie die Maiglöckchen auf ihrem gelben Strohhut mitgrüßten. Nun hatte sie die Ecke an dem Lübecker Weg vor sich. Wenn sie dort umbog . . . war sie beim Stelldichein. Das Herz krampfte sich ihr zusammen. Wenn er nicht da war? Oder nicht kam? Sie konnte doch wirklich nicht vor dem Thor auf und ab gehen, als ob sie auf jemanden wartete.

71 Sankt Anschar schlug halb vier, sie erreichte das Thor, und Körting stand vor ihr und zog den Hut tief, wie wenn sie sich im Leben erst einmal gesehen hätten und nicht daran dächten, geheime Spaziergänge miteinander zu unternehmen. Sie erwiderte seinen Gruß feiersam, beklommen und sah zu Boden, indem sie weiter schritten, zur Stadt hinaus auf die Chaussee.

Er mühte sich, ein Gespräch zu beginnen. Aber zwanzig Schritte lang fand er nichts. Und er hatte sich so viel vorgesprochen, was er ihr alles erzählen wollte. Endlich fiel ihm was ein: »Regen giebt es heute nicht.« – »Nein.« – »Ach so. Ich dachte, Sie hätten einen Regenschirm mitgenommen.« – »Nein, das ist ein Sonnenschirm. Können Sie das nicht unterscheiden, Herr Doktor.« – Schalkig hielt sie ihm den hellblauen Schirm dicht vor die Augen. Da lachten sie, und die Knospe sprang. Er konnte reden. – »Wie schön, daß Sie gekommen sind, Fräulein Anna. Wie danke ich Ihnen. Sie glauben nicht, was es mir wert ist, mit Ihnen zu sprechen. Alle Tage denk' ich an Sie. Hier in Koggenstedt wird es mir immer enger. Wenn einer nießt, sagt die ganze Stadt prosit. Sie sind schrecklich höflich hier.« – »Bin ich denn unhöflich?« – »Sie sind lieb, Fräulein Anna. Lieb. Warum soll ich es nicht sagen? Ich mein' es ja. Gleich wie wir uns auf dem Eise kennen lernten, hab' ich etwas Warmes in mir gespürt für Sie. Das ich mir sagen mußte: 72 mit der verstehst du dich. Und ich bin vergnügt, das Sie mir meine Bitte nicht abgeschlagen haben. Das beweist mir etwas.« – »Was denn?« – »Daß es Ihnen gerade geht wie mir. Ich bin Ihnen nicht fremd.« – »Nein, Herr Doktor. Gewiß nicht. Ich habe schon viel von Ihnen gelernt. Wer weiß, ob das gut für mich ist.« – »Sie haben alles in sich. Man muß nur bei Ihnen anklopfen, dann wird's Ihnen bewußt.« –»Ja, mir ist auch oft, als sollte mich nur jemand wecken. Dann könnte ich etwas.« – »Fräulein Anna, wenn ich's nun wäre, wenn ich mich daran wagte, Sie zu wecken?«

Anna blieb still. Sie waren von der Chaussee abgebogen und schlenderten zwischen den Gärten hin, die schon sauber gemacht, umgegraben und zum Teil bestellt waren. Am Ligusterstrauch und an den Dornen saßen die hellen Knuppen, und die Stachelbeersträucher schimmerten grün. Die große Kastanie, an der sie vorüber kamen, steckte dicke, klebrig glänzende Knospenballen aus. Die Spatzen waren emsig beim Suchen auf den Wegen, und ein paar frühe Mücklein spielten um die Gehenden. Die braune Erde auf den Beeten glänzte fett, und ihre Schollen warfen blaue Schatten von der lieben Sonne weg. Die Steine sahen rein aus. – Anna blieb still. Es lag Ernst auf ihrer Stirn.

»Sie wissen, was ich damit meine, Fräulein Anna,« fing Körting abermals an. »Wenn ich sage: wecken. So manches verdanke ich Ihnen. Ich bin 73 ein besserer Mensch geworden, seitdem ich Sie kenne. Nicht mehr so leicht. Ich habe die Menschen lieber. Glauben Sie das?« – Anna nickte. – »So geht es mir auch, Herr Doktor. Nur zu Haus . . . da gefällt es mir nicht mehr. Wir sind einfache Leute, Herr Doktor.« – Er sann nach. Ein Bedenken stieg wohl in ihm auf. Aber er sah das schmucke Mädchen, deren Kleider beim Gehen leise rauschten, und die ihn bisweilen, wenn der Fußsteig holprig war, mit dem Arme streifte, – dies Mädchen, deren Augen jetzt, wo sie sprach, ein wenig Müdes hatten und sonst doch hell blitzen konnten. Ihr dunkelblondes Haar bildete an den feinen Schläfen kleine krause Löckchen. – Ach was, dachte er, was gehen mich die anderen an? Und er wandte das Wort einfach um, daß es seine freundliche Seite zeigte, und gab es ihr wieder: »Gerade daß Sie einfach sind, Fräulein Anna, das ist das Wunderschöne bei Ihnen. Was ich noch bei keiner gefunden habe.« – »Das reizt Sie vielleicht. Wenn wir uns erst näher kennen, bin ich Ihnen doch wohl nicht genug.« – »Wie können Sie so reden!« rief er in aufrichtigem Zorn und schlug mit dem Stock auf die Büsche, daß die Spatzen davonschwirrten. »Wie dürfen Sie sich gering achten?« – »Sie kommen aus einem ganz anderen Kreise, Herr Doktor.« – »Na, das läßt sich nun halten. Und was gehen uns die sogenannten Kreise überhaupt an?« – »O ja, es ist ein großer Unterschied zwischen den Menschen. Ein viel tieferer, 74 als man gewöhnlich denkt. Das weiß ich aus kleinen Erfahrungen. Und davor fürchte ich mich.« – »Wovor, wovor denn eigentlich?« drängte er ungeduldig. – »Daß das nicht zusammen stimmt. Das wir lieber auseinander bleiben sollen.« – »Anna, ist es nur die Furcht wegen des Nichtstimmens mit . . . mit den anderen, die Sie abhält, mir gut zu sein?« – »Gut bin ich Ihnen.« – »Aber Sie wollen es mir nicht zeigen?« – Anna schüttelte den Kopf. – »Anna!« – Er ergriff ihre Hand und drückte sie innig. Zwischen Annas Lidern wurde es feucht, eine Thräne tropfte ihr herab.

»Ich meinte, wir wollten einen schönen Spaziergang machen. Und nun fangen Sie von Sachen an, daß ich traurig werde,« sagte sie. – »Daran bin ich nicht schuld. Warum sehen Sie Gespenster?« – »Gespenster sind das nicht. Das hat Fleisch und Bein, was ich sehe. Und das ist viel schlimmer, als wenn es nur Gespenster wären. Denken Sie später einmal an diese Stunde. Sie werden mir recht geben. Sie ändern sich noch sehr, wenn Sie länger hier wohnen.« – »Als ob ich einer bin, der heute so fühlt und morgen so.« – Er ließ ihre Hand unmutig los. – »Nein, das wohl nicht, Herr Doktor. Aber umwandeln thut man sich. Ich bin in diesen letzten Monaten manchmal so anders, daß ich mich kaum selbst wiedererkenne. Nur die übrigen, mit denen wir zusammen leben, die ändern sich nicht. Das ist es eben. Und weil man nicht von ihnen 75 los kann, soll man sich am liebsten hüten, fremde Gedanken hereinzulassen. Erst ist es schön, wenn sich alles weitet und öffnet, nachher merkt man aber, daß man nicht immer hinsehen darf. Lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen, Herr Doktor,« schloß sie flehend, »ich will Freude haben an unserem Spaziergang. Das gönnen Sie mir doch, nicht wahr?«

Körting blickte sie an und das schmerzvoll lächelnde Antlitz des jungen Mädchens bewegte ihn. – »Dann ein anderes Mal weiter davon,« sagte er. Sie versuchten, von allerhand zu reden, doch es wollte nicht recht gehen. Da war etwas zwischen ihnen, und sie fühlten, daß es besser sei, das Zusammensein zu enden. Sie traten auf die Chaussee zurück, und vom Wasser her kam ein starker Wind, der ihnen die spärlichen Worte vom Munde nahm. Schneller gingen sie, viel schneller, als sie hinausgegangen waren. Bald ragte das Lübecker Thor vor ihnen auf. Und als Anna den alten Bau sah, von dem in der Chronik viel gesprochen wurde, fiel ihr erst der eigentliche Zweck ihres Stelldicheins ein. – »Und das Buch?« fragte sie, »Sie wollten es mir mitbringen.« – Er wachte aus seinem Sinnen auf und warf gleichgültig hin: »Den alten Schmöker hab' ich vergessen.« – Das stimmte beide heiterer, und er benutzte die Gelegenheit, wieder anzuknüpfen, und meinte: »Den bringe ich Ihnen das nächstemal mit, Fräulein Anna, wenn wir uns hier treffen.« – »Das werden wir kaum, . . . adieu, Herr Doktor.«

76 Rasch, daß er nichts zu erwidern vermochte, hatte sie ihm zugenickt und war davon gehuscht, um die Ecke, in die enge Stadt hinein. Sie fühlte sich klar und war zufrieden mit sich, weil sie vernünftig mit ihm geredet hatte. – Er stand einen Augenblick, tippte mit dem Stock in den Sand, und dann ging er weiter um die Stadtmauer herum und pfiff eine nachdenkliche Melodei.

* * *

Ja, Anna war zufrieden mit sich. Etwas Eitelkeit mischte sich in die Zufriedenheit, weil sie standhaft gewesen war. Mit wahrem Hochgefühl türmte sie Mauern zwischen sich und Körting auf. Nie konnten sie zusammen kommen. Sie war ein armes, ganz armes Mädchen, ihr Vater war mit dem Pack zu Lande gegangen, und ihre Mutter konnte nicht einmal richtig Deutsch. Immer tiefer stellte sie sich und ihre Familie im Vergleich zu ihm. Er war ein Herr. »Herr« sagte sie ordentlich und stellte sich etwas Großes darunter vor. – Schließlich, als sie nach Hause in ihre Armut und Unbildung kam, war sie dann überrascht, wie wohnlich es bei ihnen aussah. Auf dem Bücherbrett lagen sogar Schillers Gedichte. Ganz so schlimm, wie sie es sich vorgemacht hatte, stand es also am Ende doch nicht bei ihnen. Mit diesen Gedanken trat gleich der Rückschlag ein. Während sie Abendbrot bereitete und die weißen Schüsseln und Teller in der Hand hielt, die im Lichte der 77 Küchenlampe sauber glänzten, fing sie an, auf sich zu schelten. War sie nicht thöricht gewesen? Hatte sie sich nicht erniedrigt, als sei sie seiner nicht wert? Hatte sie nicht ihre Familie schlecht gemacht? Ihr Vater und ihre Mutter und Bernhard – waren das nicht brave, wohlerzogene Leute? Konnte Körting hier nicht recht gut sein, in diesen reinlichen Stuben mit den hübschen Tüllgardinen und den dicken goldenen Rahmen um die schönen Bilder? Konnte er das vielleicht nicht essen, was sie herrichtete? Nein, was hatte sie nur gethan und wie war sie eigentlich dazu gekommen? Alles, was sie vorher hinabdrückte, schnellte nun auf einmal nach oben.

Als sie bei Tische saßen, fing P. C. Behm nach seiner Gewohnheit vom Klub an. – »In drei Wochen gründen wir ihn. Und ich werd' Präsident. Das muß ich doch auch, wie? Ich hab' es ja in die Reih' gebracht. Viel Arbeit, viel Arbeit.« – »Denn mußt du auch eine rot und weiße Schleife haben, mein Pappa,« sagte Frau Bolette Behm, »das ist fein. So hatte es in Kopenhagen der Präsident von den Klub auch, wo ich mal war zu Ball.« – »Schleife? Na, vielleicht nehm' ich lieber eine Rosette. Das sieht nach mehr aus. Schleifen haben sie alle.« – Anna, die früher mit Geringschätzung und unwillig auf solche Gespräche lauschte, fand heute gar nicht, daß sie ungebildet seien. Warum sollte ihr Vater als Präsident nicht eine Rosette tragen? Das gab ihm Ansehen. Und wenn das glückte, was 78 er mit dem Klub wollte, – waren sie da nicht die berühmteste Familie in Koggenstedt? – Bernhard sagte: »Morgen kommt hoher Besuch zu uns. Ganz was Geheimes aus Berlin. Na, meine Sachen sind in Ordnung. ›Herr Geheimrat,‹ sag' ich einfach, ›bitte sehr, Herr Geheimrat!‹ Oho, uns kann keiner! Und wer weiß? So einer merkt sich seine Leute. Vielleicht kriegt man mal einen kleinen Wink: ›melden Sie sich doch für Konstantinopel.‹ Da wechseln sie jetzt nämlich. Nach Konstantinopel würde ich gerne gehen. Bischen andere Luft da. Und wenn denn diese Türkenpaschas kommen, die Kerls. Kennimus: faule Knöppe. Natürlich Marken auf Pump nehmen. Aber die sollen sich was. Hand vom Brett. Die pfeifen wir einfach zum Tempel hinaus. So wie wir gebaut sind.« – »O Konstantinopel,« meinte die Mutter, »das ist weit. Was willst du da? Immer mit die alten Harems.« – »Nun eben! Pikant, interessant und belehrend für jedermann, insonderheit für die Jugend,« erwiderte Bernhard und blinzelte schlau, als habe er schon seinen Plan für eine kleine fidele Rundreise durch alle Konstantinopeler Frauenzwinger gefaßt.

Anna wäre für gewöhnlich von seinen Redensarten abgestoßen worden, heute aber empfand sie plötzlich Achtung vor ihrem Bruder: mit einem Geheimrat durfte er reden und kam vielleicht noch einmal nach Konstantinopel. Sie brauchte sich ihrer Familie wahrhaftig nicht zu schämen. – Die Stimmung hielt an, und zugleich wurde der Wunsch in ihr immer lauter, 79 das Unrecht, das sie den Ihrigen vor Körting angethan hatte, wieder gut zu machen. Sie ging aus, um ihn zu treffen. Das gelang ihr auch, und da sie sah, daß er nicht recht wußte, ob er stehen bleiben durfte, machte sie beinahe Halt und zwang ihn auf die Weise, sie anzureden. Und während sein Wesen zuerst etwas Zurückhaltendes hatte, war sie freundlich und nachgiebig und ließ kleine Künste spielen, bis sie siegte und er zutraulich war wie früher. Aber er forderte sie nicht auf, wieder einen Spaziergang mit ihm zu machen, und das wollte sie gerade. Ihr Verlangen machte sie kühn. Als sie am Hafen vorüberkamen, sagte sie: »Jetzt muß es schon herrlich sein in Goldau.« – Sie blickte ihn dabei an, wie wenn sie fragte: Erinnerst du dich nicht mehr, um was du mich früher gebeten hast? – Da schmolzen seine Zweifel, und er fühlte, wonach sie begehrte. Er vergaß alle seine Bedenken und schlug ihr vor: »Fahren wir bald einmal hinaus, Fräulein Anna!« – »Ich möchte wohl.« – »Ja, aber bald, bald!« rief er und war Feuer und Flamme. – »Wenn ich nur fort kann.« – »Ach, als ob ein Mädchen keinen Ausweg fände.« – Sie überlegten, und es stand fest bei ihnen: die Fahrt wurde gemacht, sobald die Gelegenheit günstig war. – Nun sahen sie sich öfter, weil sie sich treffen wollten, und jedesmal kamen sie näher zusammen, und immer inniger wurde die Sehnsucht, stundenlang bei einander zu sein, ungestört, nur sich selber gehörend. – Der Nachmittag brach endlich an. Sankt 80 Anschar schlug drei, und Kapitän Ellerholz ließ die Pfeife auf dem »Swantewitt« einmal lang und ein paarmal kurz ertönen, und dann fing die Kaffeemühle an, sich zu drehen. Vorn am Bug stand Dr. Körting, und auf dem Achterdeck saß Anna Behm. Kein Mensch konnte also ahnen, daß sie mit einander fuhren. Sie waren die beiden einzigen Passagiere. Buttje buttje buttje sagte die Kaffeemühle, und rusch rusch kamen die Wellen. »Swantewitt« war sehr stolz, so klein er war, denn er fühlte, daß er ein glücklich liebend Paar trug. Es ging ein freudiges Zittern durch seinen alten, schwachen Leib, als er hinaussteuerte in die Wogen. Ein Frühlingsjubel klang aus seinem Buttje buttje. Aber wer verstand ihn wohl?

* * *

Swantewitt« hatte in seinem Wonnegefühl einen zu starken Anlauf genommen. Als er eine Viertelmeile vom Binnenhafen war, ging ihm die Luft aus. Es quiekste in seiner Maschine, immer langsamer ging die Welle, und endlich drehte sich die Schraube gar nicht mehr. Anna und Körting, die sich längst auf dem Achterdeck zusammengefunden hatten, schauten neugierig in das Maschinenhaus hinein.

»Wat 's dor all wedder los, Krischan, worüm löppt dat ol Diert nich?« fragte Kapitän Ellerholz von der Steuerbrücke herab den rußigen Maschinisten. – »Hett keen Öl, Käpten,« antwortete der sachtmütig und versuchte, das Wellenwerk mit der Hand 81 in Gang zu bringen. Aber »Swantewitts« Herz blieb still. – »Denn smeer doch, Döösblaas,« meinte Kapitän Ellerholz. – »Heff man nix mitnahmen, Käpten,« entgegnete Krischan wieder in aller Seelenruhe. – »Gotts den Dunner, Krischan: Swien höden schullst du, awer keen Maschien föhren!« rief der Kapitän nun und trampelte auf seiner Brücke herum. – »Hett min Moder all ümmer to mi seggt, Käpten. Awer nu is 't to lat. Nu kann 'k keen anner Profeschon mehr anfang'n.« – »Din Moder kann mi 'n Puckel lang dalrutschen!« – »Kann se nich, Käpten. Is all teihn Johr dod.« – »Minsch, du büst 'n Aap! Ick binn mi leeber 'n rökerten Butt vor min Waterkutsch und lat mi vun den trecken, als dat ick noch een Tuhr wedder mit di fahr.« – »Wi hefft man keen rökerte Wor an Boerd, Käpten.« – Kapitän Ellerholz fluchte: »Wat schall denn nu war'n? Den Deubel ock. Wi künnt doch hier nich ligg'n blieb'n.« – »Bliwwt uns doch wol nix anners öwerig, Käpten. Wenn 't to Nacht dor baben kolt ward, denn künnt ja de beiden Herrschaften to mi in den Koi krupen. Hier is 't warm, un Kohlen heff ick ock noch.« – »Willst du een mit 't Tauend öwer din Klüwer hebb'n?« – »Dat helpt uns nich wieder, Käpten. Na, vellich kummt ol Sandböter Daebel noch mit sin Halleluja-Prahm von Bohrdörp rin. De kann uns denn ja man in 't Slepp nehmen.« – »Wat, ick schall mi rinreemen laten? Dat se mi an gansen Hab'n för 'n Uhl hebb'n?« – »Ja, wat wüllt wi 82 denn dohn, Käpten?« – »Gottverdammich, denn spieg in Dreedüwelsnamen in't Smeerlock rin, du Schoosterbuck du!« – »Dat kann 'k ja mal versöken, Käpten.« – Und nach Augenblicken stiller Sammlung »spiegte« Krischan so kunstgerecht und zielbewußt, wie nur je »gespiegt« worden ist, und siehe da: langsam setzte sich »Swantewitts« Herz wieder in Bewegung. Buttje buttje ging es wieder, und seine Flanken drängten von neuem kühnlich durch die Wogen. – »Dat harrn S' ock man glicks segg'n kunnt, Käpten, denn weern wi all 'n poor Knoten wieder,« meinte Krischan in vorwurfsvollem Tone zum Kapitän. – »Bullerdiwuddi!« brummte der und riß das Ruder nach Steuerbord hinüber. – Anna und Körting, die das mit angehört hatten, wußten nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollten. Das war garnicht poetisch. Und ihre Seelen wollten doch überwallen von all dem Frühlingsempfinden! Tief und vielfarbig mit zarten weißen Kämmen schaukelten und tänzelten die Wellen heran, und jede trug ein glänzendes Pünktchen auf der Schulter, wo die Sonne sich spiegelte. Einst blühten da die Eisblumen, jetzt blitzten die unzähligen goldenen Funken, die sich suchten, sich flohen, verschmolzen, zerperlten, erloschen und wieder aufblinkten. Die Wellen mit ihrem fröhlichen Gerausche reichten einander die spielenden Finger, bildeten Reihen und Netze, neckten sich, spritzten gegen einander, zerstäubten sich kichernd die Köpfe und thaten zornig, wenn eins dem anderen ein Bein stellte. Hellgrün 83 quirlte es um den »Swantewitt«, Bläschen sprangen auf, und ein weißer Wirbelstreifen blieb hinter dem Schifflein zurück, bis dahin, wo die See dunkelblau und violett erschimmerte. Und in der Ferne, ganz fern wurde das Meer wieder hell, fast so hell wie der Himmel, mit dem es zusammenfloß. Dort tranken sich die lichten Wolken aus dem Wasser satt und schwebten dann wohlig davon, in die Höhe. Das war da draußen, wo die Segelpünktchen auftauchten, wo der leichte Rauch sich längs schob. Aber zu den Seiten grünten die Ufer, und die Pappeln neigten sich in der frischen Brise, und hie und da sah man eine weißsilberne Kugel, – einen Kirschbaum in seiner Blütenpracht. Die Menschen waren emsig beim Acker: sie waren mit ihrer mühseligen Arbeit weit entfernt von Körting und Anna, deren Herz eine Feiertagsfreude erfüllte. Anna hatte sich auf die Bank gesetzt. Den Kopf hielt sie gesenkt und schaute träumerisch auf die Herrlichkeit. Er stand neben ihr, die Hand auf die Lehne der Bank gestützt, und festhalten mußte er die Hand, denn sie wollte sich gern auf Annas Schulter legen. – Sprechen? Was brauchten sie zu sprechen? Dann und wann trafen sich ihre Augen, lächelnde Augen, die da sagten: ich weiß, und du weißt auch. Ja, ja. – Und wenn sie einander angeschaut hatten, blickten sie wieder in den Lenz hinaus, der über Wellen und Felder seine Lichtkreise wob, und sie vermeinten ein Singen zu hören: Wir wissen, wir verstehen uns! Uns ist innig zu Mute! – Das war ein Jubel. – 84 »Swantewitt« aber, der Gott, den Krischans Opfer erlöst hatte, wrickte sich wacker durch die Flut.

Nun waren sie in Goldau. Der Dampfer drehte an der kleinen Holzbrücke bei, und Kapitän Ellerholz vertaute ihn und schob das Laufbrett quer vom Mittelschiff auf die Treppe. Körting und Anna stiegen aus. Kapitän Ellerholz schloß sich ihnen freundlich an. – »Na, auch 'n büschen raus?« fragte er, »ja, meine Ältste is auch all verlobt. Die kriegt 'n Maat. Auf die »Moltke« is er.« – Das setzte die beiden in Verlegenheit. Körting wollte schon erwidern: wir sind kein Brautpaar. Aber das ging nicht. Denn was war Anna dann in des Kapitäns Augen? So erkundigte er sich nur nach der Abgangszeit, und der Kapitän bog beim ersten Seitenweg ab. Er wollte ins Dorf, zu Mutter Voß. Da waren die Groggläser viel größer als bei Hinrichsen. Sie atmeten auf. Sie waren für sich. Langsam gingen sie den Waldweg aufwärts. Die Buchenknospen waren noch braun und spitz, und nur hie und da flimmerte schon das weißbeflaumte grüne Blättchen hervor. Bienensang, roter und gelber, stand in blühenden Büscheln, Hirtentäschlein spreizte sich, Möschen duftete, die Farnwedel wollten sich aufrollen, und das Gras wurzelte saftig und gesund sprießend im vollnährenden lockeren Braun des Waldbodens. – Friedsam und glücklich schritten sie. Sie fühlten: es war reif geworden in ihnen, sie wußten: in dieser Stunde würden sich ihre Herzen berühren, und eine wonnige Furcht bebte in ihnen vor dem 85 Augenblick, wo eins des anderen Pochen hören sollte. Sie zauderten, sie wollten noch ein wenig draußen bleiben vor ihrem Garten, sich noch ein wenig von ihrer Sehnsucht quälen lassen. Es stand ja in ihrer Macht, ihrer schönen Macht, das Sehnen zu enden! So gelangten sie zum sauberen Wirtshause. Kein Gast war sonst da. Und als sie, ohne sich klar zu sein, wozu, in einem Laubengang Platz genommen hatten, kam die propre Magd und sagte nickend: »'n bischen netten Kaffe, nich?« – »Ja, bitte,« antwortete Körting. – »Und auch 'n Teller schönes Butterbrot?« – »Bitte, ja.« – Wieder nickte die Magd und eilte von dannen, und ihre eigengemachten Röcke rauschten um die Knöchel. Das kleine Ereignis brachte sie ein wenig in die Welt zurück. – »Nun sitzen wir hier. O, wenn das jemand in Koggenstedt erfährt!« rief Anna, und Freude über ihr Wagestück leuchtete ihr aus den Augen. – »Laß doch erfahren, wer will,« sagte Körting. – »Frei sein, frei sein – das ist herrlich!« fuhr Anna fort und breitete die Arme weit aus. – »Ja, unser eigen . . .« Das sprach Körting leiser, aber nachdrücklich, und seine Lippen öffneten sich dabei halb, wie verlangend. – Anna errötete. Sie zeichnete mit einem Strohhalm auf den Tisch. Dann sagte sie bestimmt: »Wir thun nichts Böses.« – Er schüttelte den Kopf: »Wenn die Menschen alle so gut dächten wie ich heute nachmittag: das müßte eine Himmelswelt geben!« – Er legte seine Hand auf die ihre und ließ sie inne halten mit Zeichnen, und sie war stille unter dem sanften Druck.

86 Kaffee, Brot und Butter kam. Anna wurde Hausmutter, schenkte ihm ein und bediente ihn zierlich, goß ihm Rahm hinzu und fragte, wieviele Stücke Zucker er nähme. Ganz fraulich that sie und bestrich ihm die großen, lockergebackenen Scheiben mit goldiger Butter, und er leistete ihr mit etwas absichtlicher Ungeschicklichkeit denselben Dienst. Sie schmausten das frische, würzige Gebäck und tranken den duftenden Kaffee dazu. Hei, wie das schmeckte! Dabei scherzten, tändelten sie, hatten ihre Einfälle. Er setzte den Zuckernapf auf den Rahmtopf und den Butterteller obenauf, das dünkte sie beide ein köstlicher Witz, und sie lachten aus vollem Halse. Und sie wollte aus den Zuckerstücken ein Hexenhäuschen bauen – wie spaßig war es, wenn die Wände unter dem Druck des schlechtgefügten Daches immer wieder einstürzten. Dann kamen gack gack gack gack die Hühner angeschechtet, und kleine Jip-jip-jip-Küken trippelten hinterher und torkelten über- und untereinander, und alle wurden gefüttert und pickten nach den Krumen. Es war ein Schauspiel. Ein Küken nahm Anna auf den Schoß, löste Zucker in Milch und ließ das Kleine die Süßigkeit aus dem Löffel naschen, und das Eiküken war ganz zahm und plusterte sein bißchen Federn, machte einen schiefen Hals und sah aus den runden Augen so lieb zu Anna hinauf, daß die es küßte. Und der Hahn kam mit Gravität und Selbstbewußtsein, jagte die Hennen weg, daß sie hingehen und Eier legen und sich nicht herumtreiben sollten, und das 87 Jip-jip-Zeug floh mit den Müttern. Der Hahn flatterte auf eine Stuhllehne, machte sich lang, sperrte den Schnabel auf und rief: »Kikerikiiuh!« Ja, es war ein Schauspiel!

Endlich war das Göttermahl genossen. Sie wurden wieder ernster. Ihre Stunde kam. –»Gehen wir an den Strand?« fragte Körting. – »Ja,« antwortete Anna kaum hörbar. – Sie brachen auf und wandelten weiter durch den Wald. Körting hatte Annas Hand erfaßt und sanft aufwärts gezogen. Das Mädchen gehorchte ihm und legte die Hand in seinen Ellenbogen. Sie schmiegten sich aneinander. – »Wie kann das nur sein, daß ich hier mit Ihnen gehe?« meinte Anna. – »Ja, wenn wir das wüßten. Aber wozu darüber nachdenken? Ist es nicht wunderschön?« – »Wunderschön,« wiederholte Anna. Ihr ganzes Wesen zitterte leicht, und sie sah durch die Knospen zum Himmel hinaus. Nichts andres gab es für sie, als was sie jetzt sah und hörte und was in ihrer Seele schwang. Ihr war leicht, frei, losgelöst vom Alltäglichen, sie hatte keine Familie, keine Enge daheim. Und er, je mehr er das Mädchen an sich merkte, desto holder erschien sie ihm. Kein wildes Begehren stieg in ihm auf, eine Heilige schritt da neben ihm.

Nun hemmte der Abhang ihren Fuß. Schroff-schräg hernieder fiel der gelbe Strand vom hohen Walde zum Meer. Dann breitete sich der Sand flach aus. Leise, leise kamen in breitem Zuge die kleinen 88 Wellen und sagten raahsch raahsch, darauf legten sie sich auf das weiche Kissen und träumelten ein. Weiter hinaus sprang hie und da ein Fischlein auf und klatschte lustig gekrümmt wieder ins Naß. Alle Farben lagen auf dem Meer, köstlich reine Farben – gelb und blau und rot und tief sattes Violett und leuchtendes Grün, alle, alle Farben schimmerten in unendlichem, ewig harmonischem Wechselspiel um die gewaltigen, abgeschliffenen Granite, die im Wasser ruhten und auch den Strand besäten. Fern von Nordlands gigantischen Gebirgen hatte sie einst der mächtige Eisstrom abgerissen und die Wehrlosen auf seinem breiten Rücken getragen bis hierher. Da war die Mündung des starren Stromes flüssig geworden unter der Sonne und immer weiter zurückgewichen, und die Blöcke sanken und stemmten sich tief in den Sand. Wie Fremdlinge lagen sie nun und schauten mit ihren runden Köpfen über See dahin, wo die hohen Berge, ihre Mütter, ragen sollen.

Hell und warm lag es über all der Pracht. Körting und Anna standen am hochragenden Ufer unter der alten Buche und schauten stumm in die Schönheit. Da wurde ihnen die junge Brust zu eng, da wollten sie zu einander und widerstrebten nicht länger dem Sehnen. Zart faßte seine Hand unter ihr Kinn und bog ihr das lächelnde Haupt zurück, und sie küßten einander.

Frühlingswind kühlte ihnen die heißen Wangen, im Grase zirpte das Grashüpferlein: »Sieh mal, 89 sieh mal!« und auf der Buche saß ein Vöglein, das zwitscherte: »Zu zwei, zu zwei, zu zwei!«

* * *

Tuht! sagte »Swantewitt«. Sie mußten erwachen. Hand in Hand, wonnig schweigend, kamen sie zum Dampfer. Heimwärts ging es. Die See war ein Spiegel, und von Sankt Anschar und Sankt Jakobi tönten die Abendglocken. Den beiden Menschenkindern wurde es schwer, Abschied zu nehmen von ihrer Stunde und von ihrer Welt und sich wieder zu vermischen mit dem Trubel drinnen in der Stadt. Aber was half es? Sie konnten das Wunderbare nicht halten. Auf Annas Schoß lag ein weißer Quarzstein mit goldenen Glimmerpünktchen. Den hatte sie zum Andenken mitgenommen von dem Platze, wo sie sich zum ersten Male du nannten. Wie rasch war das gegangen. Als ob sie niemals Sie gesagt hätten.

Als »Swantewitt« am Kai festgemacht hatte und sie auf dem Lande standen, trennten sie sich mit innigem Händedruck. Jedes wollte allein sein, wollte nicht die Angst haben, von Neugierigen beobachtet zu werden, wollte für sich träumen.

Anna ging um die Stadt mit einem unsagbaren Wohlgefühl in der Seele, mit dem Verlangen, grenzenlos gütig zu sein, mit hingebender Dankbarkeit an Paul. Und er, er konnte sichs nicht genug werden 90 lassen, sich sein Mädchen immer und immer wieder vor Augen zu zaubern, und es däuchte ihm eine absonderliche Glückseligkeit, an ihrer Seite zu ruhen.

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