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Baber

Nein! er hätte gestern der allerdings heftigen Ohrenschmerzen und des kalten Mondscheins halber noch lang nicht Opium nehmen müssen. Zwar waren dann goldene Sterne zum Tanz an der Zimmerdecke erschienen, überirdischen Rosenduft und unnennbares Entzücken aushauchend, bis Granatäpfel, die eine durchaus angenehme Bitterkeit mit ihrer Süße verbanden, auf seinen Lippen zergingen, und er eine Mir Taimuri-Melone zu kosten vermeinte, von derartiger Zartheit des Geschmacks, daß er darüber in Ohnmacht fiel. Aber als er endgültig aus dem Schlaf sank, lächelte nicht in ihm die Seligkeit genesenden Jünglings, dumpfe Schauer rüttelten an einem der vielen Anstrengungen satten Körper. Von außen kam gewiß mehr keine Hilfe. Die Türkise vom Berge Myoghil hatten nicht geholfen. Vergebens trug er ein goldgeziertes Geflecht aus den Schwanzhaaren der Bergkuh. Wie viele Ärzte und Mullas waren befragt worden! Keiner fand den Trank der Gesundheit. Quacksalber und Charlatane! Auch die Träume waren nicht beruhigend gewesen. Gänse hatte er gesehn, die sich mit der Schlinge ihres Halses an Ästen kahler Bäume erhängt hatten. Die mehrdeutige Auslegung, die Abul Baka, Oberst der Koranstecher, diesem Gesicht gegeben, war ebenfalls alles eher denn befriedigend zu nennen. Schwäne zu werden, hätten die Gänse diese streckende Übung ihres Halses vorgenommen. Dem Padschah Baber stehe bevor, in ein Reich einzuziehen, wogegen Hindostan ein kahler Ast sei. Noch wollte er nicht in jene Welt, in die ihn nur der Tod gebären konnte. Zwar, wenn man die Sache recht bedachte, was gab ihm noch das Leben? Heute, kaum er sich mühselig erhoben, das nicht eben große Vergnügen, den unseligen Maharadscha Tschanden Singh in Abschiedsaudienz zu empfangen. Denselben Maharadscha, den er seines Landes beraubt, gedemütigt und mit einer dürftigen Statthalterschaft abgespeist hatte. Aber welcher Dschinn hatte auch diesen Menschen geheißen, Humaiun einen wunderschönen blauen Falken zu schenken, der bald, einem Reiher nach, entflog? Da der arme Humaiun gerade von einer wilden Krankheit genas, hatte durch diesen Verlust aufgerufener Schmerz einen Rückfall verursacht, der den Kranken in ein dumpfes Hinbrüten versenkte, aus dem ihn nicht einmal der Anblick ähnlicher Falken reißen konnte. Und er, der Vater, mußte sich gesund stellen, täglich blutenden Herzens Siegesfeste feiern, Dankgebete sprechen, nach wie vor gleichgültige Menschen empfangen, jedem halbwegs mächtigen Mogul seine außerordentliche Freude aussprechen, ihn zu sehn … Allah sei Dank! die frische Luft begann ihre Wirkung zu tun, die Sonne schien freundlicher zu scheinen, die Geschwüre brannten nicht mehr, er fühlte sich wieder wohler, die Leichtigkeit des Schrittes, die er anfangs der tausend Augen des Hofes wegen erzwingen gemußt, sie stellte sich von selbst ein. Die Kraft kam zurück. Was sollte, was konnte er tun? Sollte er saure Kirschen, rote Brustbeeren, Trappeneier essen, das weiße Tier jagen, unter gewaltigem Palmweintrinken auf einem Gangesschiff das Fest der Erinnerung an irgendein Weib oder an eine Schlacht mit tausend Toten feiern, deren blutige Augen ihn dann doch unwiderruflich in der nächsten Nacht heimsuchen würden? … Kämpfe wütender Kamele und Elefanten auf einer Insel, wo sie nicht ausbrechen konnten – recht spannend, außerdem hätte er längst schon wissen wollen, wie sich ein Rhinozeros einem Elefanten gegenüber verhalten würde. War er aber dann besser als der kleine Nasir Schah von Bengal, der Liebhaber der Kampfheuschrecken? Wie wär es, wenn er über die Dschamna schwämme und versuchte, in weniger als dreiunddreißig Stößen hinüber zu gelangen, was er noch im vorigen Jahr geleistet, womöglich zu unterbieten. Nein! Die Anstrengung konnte ihm schaden, besser: er stellte sich vor den Spiegel und schaute, wie ihm das Diamanten-Diadem und der goldene Gürtel des besiegten Rana Sanka zu Gesicht ständen … Was hinderte ihn, künftiger Langeweile vorbeugend, den Auftrag zu erteilen, ihm nach und nach alle Untertanen und Untertaninnen seines ungeheueren Reiches vorzuführen, auf daß er jeden ansehe und mit ihm spreche, ob vielleicht mit einem von ihnen eine Vereinigung der Seelen möglich wäre und er dadurch vollends genese, den Dattelbaum seines Daseins auf den Dattelbaum des Daseins eines andern pfropfend zur süßesten Frucht der Freundschaft … Dies konnte er, was noch? In doppelt besohlten Stiefeln von einer Mauerzinne Agras hoch durch die Luft zur andern Zinne springen, unter jedem Arm einen Mann … und Gedichte machen im Metrum »Zerb, gerb, abter gah, mahbun mehzuf«! Viel mehr Möglichkeiten standen ihm ja nicht zu Gebot. Alles kehrte wieder. Der Fall der Sonne, der Aufstieg des Mondes und übrigen Himmelsgeschmeides, nein! Himmelsgelichters. O Größe des Wechsels! Und da gab es noch Leute wie diesen Tokteh Bugha Sultan, die mit dem im Schädel eines Pferdes gefundenen und in Tierblut getauchten Zauberstein der Abwechslung wegen Regen machten, wenn es trocken war, und umgekehrt … Wenn er sich wenigstens betäuben könnte! Sein Verlangen nach Wein ward plötzlich so heftig, daß er fast Tränen vergossen hätte vor unbefriedigt wütender Begier. Und da – wahrhaftig, die Gärtner rechneten gar nicht mehr mit seiner Genesung und ließen den Park verwahrlosen. Ein Haufen Ameisen mitten im Weg. Die einen schleppten mit ihren Kieferzangen Samenkörner von Kräutern herbei, andre trugen unter großer Trauer die Leichen der Gestorbenen fort … Wie es bei seiner Beerdigung zugehn würde? Er sah es vor sich: die Trauerzeremonien würden verrichtet werden, und nachdem die Trauerzeit vorüber und die von Allah bestimmte Anzahl von Tränen abgeweint, würden von Köchen, die es nichts anging, Speisen zugerichtet und an Bettelmönche, Arme und Hilfsbedürftige verteilt werden. Der Scheich ul Islam würde Lesen des Koran und Gebete für die Seele des Verblichenen anordnen, und die Trauer der verschiedenen Herzen durch diese Zeichen der Liebe beschwichtigt sein. Der Nachfolger, wer er auch sei, würde nach einigen Tagen ruhig dem Guß einer Kanone zusehn und die Früchte des Mangobaums genießen, dabei den Tanz eines Mädchens bewundernd. Mehdi Kwajeh, sein Schwiegersohn, vielleicht nicht, denn dieser Kriegsheld hatte nie den Mut, ein vollbrüstiges Weib gerad anzuschauen … Gut, daß Syed Dekni Schirazi ihm jetzt entgegenkam. Er hatte diesem Wasserfinder, Rutengänger erst unlängst große Geschenke gemacht, aber mit den Wasserkünsten im Garten war es noch recht armselig bestellt. Wegen der Unordnung im Park zur Rede gezogen, machte der Syed lächerliche Ausflüchte, und konnte den Wein zum Schluß nicht hindern, mit leiser werdender Stimme zu fragen, ob, was Allah verhüten möge, Sultan Humaiun Khan wirklich krank darnieder liege? Eine schneidende Handbewegung, das Mahnwort: »Die rote Zunge gibt den grünen Kopf oft den Winden preis«, ließ den Schwätzer verstummen, plötzlich jedoch schrie der Syed mit den Fingern in die Luft, solche Heftigkeit der Freude im Antlitz, daß Baber sich schnell einige Schritte von ihm entfernte, in der Meinung, der Wasserfinder sei vor Schreck in Wahnsinn gefallen. Aber ein wohlbekannter schwarzer Punkt auf einen andern größern niederstrebend, ließ den Padschah die Freude des Syed teilen und der bessern Aussicht wegen an den Teich vortreten. Ein kleiner Kieselstein am abschüssigen Ufer ließ ihn straucheln. Vielleicht hätte er sich vor dem seiner Erkältung gefährlichen Bad noch retten können, aber ein Rest vom Genuß des Opiums hinterbliebener Trägheit und noch etwas in ihm, das gern wissen wollte, welchen Verlauf die Dinge nehmen würden, wenn er in den Teich fiele – dies hinderte ihn, sich vor dem Sturz zu bewahren. Und als er auf einmal im kalten Wasser auf dem Grund lag, schien ihm in der Erstarrung seiner Seele ein solches Ende recht zu sein. Nur unwillkürlich regte er die Hände und tauchte empor. An das hochliegende Ufer konnte er nicht, Falke und Reiher, größer werdend, ließen ihn staunen über die Sinnlosigkeit der noch unabsehbaren Umwälzungen, die in einem so gewaltigen Reich ein kleines Tier hervorzurufen imstand war. Ein Tier, das ihn und Humaiun vom Leben zu trennen vermöchte und von Hindostan, dem unter tausend Gefahren errungenen. In nicht mehr Zeit, als Milch zum Sieden brauchte. Vorige Woche noch hatte er selbstbewußt niedergeschrieben: »Wir Dichterfürsten sind die Führer jener andern, die mit uns im Schlafe wandern«, und heut warf ihn ein alberner Falke ins Grab … Dem Syed hatte er mit Enthauptung gedroht – nun lag er im Teich des Syed! … Dann aber kehrte ihm das Lächeln wieder, als er der Dorflehrer gedachte, die unter Palmen, der Derwische, die in Moscheen von dem unscheinbaren Werkzeug reden würden, dessen sich Allah bedient, um den Ärgernis, Nachahmung erregenden Weintrinker und Vater eines Weintrinkers zu verderben … Die Schwertlilien am gegenüberliegenden Ufer verbeugten sich vor dem Wind, und ein weit weg im Leben mit einem Schreckens-Schrei auffahrender Pfau erinnerte sein dämonisches Gedächtnis nur an eine alte Aufzeichnung, in der er geschrieben, daß nach der Lehre des Imams Abu Hanifeh das Pfauenfleisch eine erlaubte Speise sei, aber gleich dem Fleisch der Dromedare mit Widerwillen genossen werde … Selbst Wucht, Blut und Kot des niedersausenden Reihers rissen ihn nicht aus seiner kalten Benommenheit. Erst der Syed, der den Teich angelegt hatte und ihm nun beim Herbeieilen einiger Höflinge zaudernd und ängstlich nachgesprungen war, als fürchte er die Rache des künftigen Herrschers, wenn er sich allzu hilfreich zeige, erst der Syed gab ihm einigermaßen das Leben wieder. Mit einer Art Schadenfreude sah er die Angst des Wasserfeindes in dessen Hand zittern, dann sah er irgendein Buch, am besten seine Denkwürdigkeiten, gebunden in die Haut seines Retters, in die Welt hinausgesandt von den Feinden Humaiuns, von Mehdi Kwajeh oder wer sonst sein Nachfolger war. Der Syed und einige Höflinge halfen ihm ans Land, trockene Mäntel wurden mit großem Eifer gereicht, er stieß sie zurück: nun konnte ihm nichts mehr helfen. Ja, wenn jener mongolische Wundarzt anwesend wäre, der ihm vor Jahren die Schädelwunde geheilt und andere Wunderkuren vollbracht hatte – dann! Aber der gesegnete Mann war seit langem schon verschollen … Haha! fast hätte er der Versuchung nachgegeben und den schuldtragenden Kiesel gesucht und aufgehoben, auf daß ihn der diesem Stück Erde alles verdankende Thronfolger in Gold fassen könne. Der ungleich schuldigere Falke – da sah man schnell, wie es um ihn und Humaiun stand: keiner vom Hof hatte sich um das Unheil bringende kostbare Tier gekümmert, es konnte fortfliegen, wann es wollte. Er streckte den Arm aus: der blaue Falke Humaiuns, blutigen Flaum in den Fängen, kam unsicher über die Kiesel geschritten und schwang sich ihm auf die Faust. Er preßte den heißen Tierleib gierig an sich. Vielleicht kam Genesung, vielleicht war der Falke das Glück, denn wie hatte er gelebt in den Tagen, da der Vogel fern gewesen – jetzt, jetzt würde wieder Friede einkehren in das Haus seines Herzens. Oder hatte Maharadscha Tschanden Singh, durch Mehdi Kwajeh von Humaiuns krankhafter Vorliebe für seltene Falken unterrichtet, aus Rache einen Flucht liebenden Falken abgerichtet, all dies Unheil zu bewerkstelligen? Und dabei stand auch schon der widerwärtige Pagan im Geist vor ihm, das einzige Aug von einem furchtbaren, blauroten Aussatz umfressen … Geschrei! Ein Eunuch hatte, zwei Schritte vor ihm, eine große Schlange erschlagen. Aus ihr kroch eine dünnere, die, offenbar kurz vorher verschlungen, nicht im geringsten beschädigt war. Aus der dünnen, betäubten kam wieder eine große Ratte hervor, die gleichfalls unverletzt schien. Ein böses Vorzeichen! Die große Schlange war natürlich er, die kleinere und die Ratte Humaiun und der Falke. Dies, und in seinen Adern das Rauschen eines nicht mehr fernen Fiebers, ließ ihn nun jede Täuschung der Großen außer acht lassen. In ihm schrie es wie unabänderlich: »Der Falke kam, so muß ich gehen.« Ohne daß er wußte, wieso sich ihm dieser Gedanke aufgedrängt hatte. Wohlan: brachte sogar der geliebte Vogel Humaiun keine Genesung, dann sollte Abul Baka nicht umsonst gesagt haben, der Allmächtige habe zuweilen das wertvollste Besitztum eines Freundes als Opfer für das Leben eines andern angenommen. Ob er einige Monate mehr oder weniger sich hinschleppte, jetzt von einem sinnlosen Aufregungszustand erfaßt, dann wieder eiskalt, das war nicht von Belang, wenn durch den spärlichen Einsatz so freudloser Tage der junge Humaiun dem Thron des Lebens erhalten werden konnte. Besser auch, ruhmvoll für den Sohn zu sterben, als nach dessen Hingang qualvoll am Gift der Tochter eines vertriebenen Herrschers, dem Dolch eines Veziers zu verenden oder zur Abwechslung, wie sein Vater, bei der Besichtigung eines Taubenhauses angeblich infolge eines Fehltritts vom Fels zu stürzen! Und wie, wenn die Krankheit Humaiuns Verstellung, oder der Rat des Koranstechers mit einem andern Prinzen und Verschwörer verabredet war? Eine Rechnung also mit seiner Liebe zu Humaiun, der, ob nun scheinbar krank oder in Wirklichkeit dahinsiechend, dann doch, trotz seiner Aufopferung ermordet, das Reich einem Fremden überließ? Daß er immer Taten, die zu vollführen vielleicht nur er schlecht genug war, andern zutraute! Humaiun sollte sich krank stellen, um dadurch den Opfertod des Vaters heraufzubeschwören? Wohin sich seine Gedanken noch versteigen würden! Am Ende war das ewige grundlose Mißtrauen der Wurm, der an seinem Leben fraß. Stets war er den Menschen gegenüber ein Löwe ohne Heiligen gewesen, während in allen andern Löwen ein Heiliger saß, der nicht zuließ, daß Schwächste überfallen wurden. Richtig: er war ja kein Löwe, er hieß Baber – Tiger. Als Kind schon hatte er grausam Gras zerzupft, Blumen geknickt, Zweige zerbrochen, Käfer und Menschen gemordet! Nun war die Reih an ihm. Vor dem Palast des Sohns angelangt, drehte er sich nach der Sonne um, denn ein Gefühl klagte in ihm, die Sonne sei verschwunden und werde nicht mehr sein. Kalt, eine gelbe Metallscheibe, klebte die Sonne an einem grauen Himmel, als könne sie sich loslösen und jeden Augenblick herabfallen, auf niemand andern als auf ihn. Zur Strafe. Er bückte sich unwillkürlich, wie um auszuweichen, lächelte dann über die krankhafte Furcht und sein noch dienstwilliges Gedächtnis, das ihm bei diesem Schrecken des Hirns, anscheinend ein eigenes Leben führend, unbeirrt und mit kaltem Hohn jene Gewaltigen der Vorzeit in Erinnerung gebracht hatte, die, wenn sie sich von der Erde erhoben, den Kopf senkten, um in den heiligen Himmel kein Loch zu stoßen … Das also war der Abschied von der Sonne, dem Garten, dem Leben! Oder? Es war und blieb doch ein törichter Einfall, von einer großen Schlange zu verlangen, sie solle eine kleinere, von dieser wieder, sie solle eine Ratte verschlingen, nur zu dem Zweck, daß er, der zufällig Vorbeigeworfene, aus ihrem Tod und dem Überleben andrer Tiere sein Schicksal entnehmen könne! Oder ein Falke entflog, um tödliches Siechtum des Besitzers hervorzurufen, kehrte zurück und stürzte dadurch den kränkelnden Vater des Besitzers in einen unangenehmen Teich. Aber Maharadscha Tschanden Singh, hieß es nicht von ihm, sein Auge vermöge Tod auszustrahlen? Seinem Besitz entstammte der Unglücksvogel. Vielleicht waren dem Paganen magische Kräfte nur seines furchterregenden Aussehens wegen zugeschrieben worden! Dann mußte es zur Heilung Humaiuns genügen, wenn der Kranke den magischen Falken wiedersah, andernfalls blieb nichts übrig, als den Zauber durch einen noch mächtigern zu brechen.

Humaiun erkannte weder ihn noch den Falken. Der Jüngling sah, ohne zu sehen. Eingesperrt in ein dumpfes Brüten, betrachtete er mit teilnahmslosen Augen, denen jeder Ausdruck fehlte, bald das Schloß seines Gürtels aus rot und weiß geflammtem Stein, bald nestelte er an den Schnüren seines Oberkleides. Da gab es keine andere Hilfe. Wenn der Sohn weiterleben sollte, mußte eben einer namens Zehir eddin Muhammed genannt Baber, sich damit bescheiden, die Form seines Daseins zu ändern. Falls der Sohn, wann immer nur auf einen Augenblick zur Besinnung erwachte und erfuhr, der Vater sei für ihn in den Tod gegangen – dies würde genügen, Humaiun das Leben wiederzugeben! Es war ja so einfach: wenn er das Gelöbnis geleistet, würde er sich einbilden, er müsse sterben, damit der Sohn leben könne, und an dieser Einbildung würde er sterben, Humaiun aber durch die Kraft einer andern Einbildung der Betäubung entrissen sein. Er ließ Humaiun auf dem Lager in die Mitte des Saals tragen. Abul Baka, seinen Entschluß wortlos gutheißend, begann laut zu beten. Nizam eddin Ali Khalifeh, der Großvezier, das Vorhaben ahnend, fiel ihm mit einer etwas tänzerhaften Gebärde zu Füßen und beschwor ihn jammernd, abzustehn von seinem Plan. Die alten Weisen hätten gesagt, nur das Teuerste unseres leblosen Hab und Guts solle dem Himmel geopfert werden. Die andern Höflinge, gleich ebenso vielen Affen, benützten ähnliche Mienen und Worte, hüteten sich aber weislich, die Gunst des unbekannten Nachfolgers durch allzu dringende Bitten zu verscherzen. Eine Bewegung seiner Hand zerfetzte die Reden der Knienden in der Mitte und machte sie sinnlos. Der Scheikh ul Islam, eiligst herbeigeholt, erschien. Und mit ihm zu gleicher Zeit zwängte sich lächerlicherweise der dick schwitzende Sultanringer Zadik durch die Tür. Der Scheikh empfing die Weisung, das öffentliche Gebet für den Landesherrn von nun ab für Humaiun verrichten zu lassen, der Leibringer fragte lärmend alle Welt, was denn aus ihm werden solle, wenn sein Beschützer ihn und die Erde zu berauben, zu verlassen willens sei?

Kaiserliches Schwert, Fahne, Roßschweif, Trommel und Sonnenschirm wurden Humaiun zu Füßen gelegt. Ihm die Waffen umzugürten, war bei seinem Zustand nicht rätlich. Dann ward der Jüngling nach mongolischem Brauch auf ein weißes Lammfell gesetzt und zum Khan aller Khane ausgerufen. Bleich und blicklos saß er da, wie die heidnischen Götzenbilder, die er fromm eines Tages zur Heilung gottgeschickter Magenschmerzen allenthalben in Indien hatte vernichten lassen. Ein Kind, dem in solcher Weise gehuldigt worden, hätte sich geregt, geweint oder mit den Füßen gestrampelt, Humaiun aber war in einer Weise anwesend, als ob ihn die ganze Sache gar nichts anginge. Ein toter Kaiser saß auf dem Thron von Hindostan. Bald jedoch würde der Abgestorbene zu neuem Leben auferwachen. Der Sohn würde in dem Augenblick, wo der Vater das Gelübde tat, mit einem Feuerblick wieder Besitz ergreifen von den lodernden Schönheiten dieser dem Jüngling noch neuen und kostbaren Welt, er aber still und lautlos hinsinken, wie Iskander Zualkarnain mitten im rasenden Kampf mit Rustan vom Rosse glitt, weil weit weg auf einer wüsten Insel im Meer ein Mann seinen Seelenvogel erwürgte.

Wenn ihn nur nicht, bevor er das Gebet vollendet, das heranschleichende Fieber überwältigte!

Als er zum erstenmal stumm betend im Kreis um das Lager Humaiuns herumschritt, vermochte er seine Gedanken noch nicht auf das eine, das not tat, zusammenzuballen. Er sah nur einen mißfarbenen Wasserkreis am Boden, und ihm kam in den Sinn: die Freundschaft Burhan eddins, des Königs von Bamian, müsse in den Wogen des Kampfes notwendig ebenso undicht werden und Farbe lassen, wie der von ihm übersandte Seidenmantel im Teich. Dann schien es ihm, als hätte er eine ähnliche Bewegung schon oft vollführt – das letztemal in Kafferistan, als er das Grab des heiligen Lameh, des Vaters Noahs, umwallte … Wieder und wieder wurde er um Humaiuns Bett gerissen, rastlos, alle Gedanken fielen aus ihm, kleinliche und furchtbare, ihm war, wie wenn seine Seele aus ihm herausgehoben würde und waagrecht über Humaiun schwebe. Das Schweigen, das über allen lag wie eine schwere Scheibe, schwoll an zu den mit übermenschlicher Kraft herausgestoßenen Worten »Ich habe es gewendet« und diese Worte kamen nicht aus dem zusammengepreßten Mund, sondern entrangen sich seinen geballten Fäusten. Er fühlte noch, wie etwas in ihm zusammenbrach; gleich als hätte die furchtbare Anstrengung den Rest seines Lebens mitgenommen: er fiel um, ward behutsam wie ein Weib aufgehoben und irgendwohin gebettet.

Und dann begann die Flucht.

Er mußte fliehen vor dem Wasser, dem Feuer, dem Schwert und dem Wind, der Sonne, den Bäumen und Menschen. Und lehnte er am Anfang auch noch so sehr an der Mauer von Samarkand und sprach Recht denen, die es haben wollten: die Mauer hob sich – zu wanken! Er fiel. Im emporsteigenden Staub wurden feindliche Reiter sichtbar. Wenn er sich noch retten wollte, mußte er in den Fluß. Wie ihn die Strömung immer zurückwarf! Schon erstarrte er im Wasser. Gavials hinter ihm, nein, es waren Krokodile. Eile tat not – er würde von nun an auch immer den Andersgläubigen Almosen geben wie die Sufis. Endlich am Ufer. Eine Hütte, Sicherheit vor den Feinden. Ein Greis war in der Hütte, ein Scheich in grünwollenem Kleid, auf dem Turban die Schwungfeder eines Falken. Der Alte sah jenem mongolischen Wundarzt ähnlich … er war es. Rettung! Der Mann schüttelte eigensinnig das Haupt … sein grauer Bart war von axtförmiger Gestalt … Baber krümmte sich unter den Streichen des Bartes bei jedem Nicken des Kopfes. Es war nicht ein Kopf, nun waren es schon viele Köpfe. Abgeschnittene, verbissene Schädel mit aufgeschlitzten Nasen fingen an zu grinsen und liefen ihm nach. Nichts Menschliches lag in den Gesichtern der Enthaupteten, es waren die Häupter der ersten Onager, die er getötet … blutig krochen sie am Boden und die Gebisse schnappten auf und klappten zu, und eines schloß sich über ihm, daß er aus dem Fieber fuhr. Das Fieber ließ ihn auf einen Augenblick los, dafür packte ihn sein Gehirn. Keine Ruh. Er mußte feststellen, wie nichts auf Erden umsonst sei, jedes Gute eines Tages seinen geheimen Giftzahn weise. Der Wundarzt … dafür, daß der ihn vor acht Jahren geheilt, kam in schrecklicher Gestalt, seinen jetzigen Zustand zu verschlimmern. Der erste Onager, an dem er seine Jägerlust befriedigt, erschien ihm, furchtbar blutend, mit durchschnittener Luftröhre. Nichts, nicht einmal das kleinste Tier, das er gemordet, ging an ihm spurlos vorüber. Im Gedächtnis blieb es verstrickt, es hauste still – aber in der Stunde seiner Krankheit, seiner Schwäche, im Traum und Fieber kam es dahergelaufen aus seinem Hinterhalt, in der scheußlichsten Nashorngestalt, überfiel ihn und rächte sich. Was war das? Ein Schluchzen.

Eine weiche Hand auf seiner: Maasumeh Sultan Begum … seine Tochter. Was weinte sie, die da irgendeinmal irgendwo seine Tochter gewesen war? Ach ja, er lag im Bett und war wohl krank. Nein, er war nicht krank, er mußte bloß schnell sterben, damit Humaiun leben konnte. Oder war sie am Ende neidisch und betrübt, weil er nicht für sie starb? Eltern sterben immer für ihre Kinder. Nicht einmal, sondern oft. Und diesmal war es eben endgültig. Kinder, Söhne, Töchter … gab es das wirklich? Ein Same fiel in die Nacht hinaus zu einem Weib, und wuchs zum Leben oder sank zum Kot – und er, er lag nun zur Strecke gebracht im Bett und starb heldisch für einen, der ebensogut auch Kot hätte sein können … Was netzt sie ihm die Lippen mit Milch? Wenn er nur noch einmal reden könnte! Er hätte es hinausgeschrien: ich will sterben, sterben! Vielleicht, daß er durch die Anstrengung dann wirklich gestorben. Wozu sollten ihn die Geschwüre im Nacken noch länger quälen? Fort, fort … nun gab es keine Brücke mehr, es war Überschwemmung, der schwarze Fluß hatte seine Furten mitgenommen – und er war drüben. Wie hätte sonst sein Auge gefunkelt zu den erlesensten Früchten seiner Heimat … allenthalben waren sie im Zimmer ausgespreitet, ihn, den Erwachenden, durch solche Freude im Leben zu halten. Und dort, gewiß aus ähnlichem Grund, in der andern Ecke des Gemaches stand der Knabe Arsir, auf dem hochgestreckten Arm den blauen Falken Humaiuns. Jetzt gerad nahm der Müde die zweite Hand in Anspruch. Auf dem Tisch winkten Krüge Wein ihn ins Leben zurück, aber einer in ihm schrie jäh, qualvoll: »Nein, nicht wenn ich krank bin, will ich freveln.« Vergebens suchte er seine Gedanken zu sammeln. Sich an irgendeinen Satz wie an einen Strohhalm zu klammern. Er ging über ihn hinweg. Verworrene Bilder. Dumpf und benommen wußte er nicht: träumte er noch einmal, was er an allen Ecken und Enden der Erde erlebt hatte, oder war das, was er erlebte, ein alter Traum? Anfangs hielt sein nimmermüdes Hirn noch dies: all die Träume waren nicht klar, nicht voll, entbehrten der Rundung, des Lichtes … als hätte die gepeitschte Seele, alles Irdische kalt, satt und verächtlich von sich weisend, es eilig, zu wichtigeren Dingen vorzudringen … Wenn die Dinge nur nicht wieder auf ihn einzuhaun begannen, regellos auf ihn losstürzend aus den versunkensten Städten seiner Erinnerung! In allem zitterte er, das Sausen der Ewigkeit zu hören. Der Flügelschlag des Falken, besorgte Mienen von Verwandten rauschten endlos und ewig über ihm, und einer in einem dahinschießenden Kahn aufrechtstehend brüllte schmerzlich: »Kennen möcht ich das Tier, das die Zeit frißt« … Alles begann zu weben, zu surren, zu brausen, zu rauschen, zu flattern, zu schwimmen, zu schwellen, zu schweben; er sank und sank. Er fiel in die Verdammnis: unter den wütenden Paganen der Burg Dschanderi war er, nackt mußte er, der Kaiser, mit ihnen, den Nackten, auf sein eigenes Heer anstürmen, niederhaun, was im Weg war, und verflucht mit den verzweifelten Heiden im Wahnsinn der Angst über die Mauern der Burg hinausspringen, nackt ins Bodenlose – zerschellen! Seine Hand hing schlaff nieder, von seinem Antlitz glitt die Qual, jede Spannung löste sich, befreit reckte Arsir die Faust und warf den Falken in die Höhe: das Zeichen. Ein Donnerschlag, die Kanone vor dem Palast, berstend, warf die Baberisoldaten, die sie abfeuerten, an Mauern und Bäume, ihr Blut, mit Splittern gemengt, spritzte ins Zimmer über den Toten mit dem Gebrüll der andern Baberisoldaten: »Lang lebe Padschah Humaiun«, und der Falke schwang sich ins Freie.


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