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Der Weg ins Freie

Ziellos ging ich spazieren; indem ich Straßen folgte, die noch Schatten besaßen, drang ich in Gegenden, die mir unbekannt waren. Gewiß war ich auch früher schon in Arbeiterviertel geraten, Freunde hatte ich mehrmals hinbegleitet, wir müssen aber wohl Hauptstraßen gefahren sein, oder die Kameraden lenkten mich zum Heurigen ab, vielleicht auch war ich damals von intensivem Gram meiner Sinne beraubt gewesen, sicher ist: ich sah, hörte, roch, fühlte nichts von dem, was mir heute zustieß – sonst wär ich doch kaum so ratlos dagestanden, unfähig, auf die Beobachtungen und Gefühle, die mich bedrängten, Antwort zu finden. Ich weiß nicht mehr, was es war, das mich zum erstenmal auffahren machte. Beschämter Egoismus kann es gewesen sein. Die Sucht, den merkwürdigen Gerüchen, die mir entgegenschlugen, dem Staub, den Wind und Wagen mir ins Gesicht warfen, ein Taschentuch entgegen zu stellen, diese Sucht wär mir, glaub ich, nicht so tief verwerflich erschienen, wenn nicht nach und nach die Pferdefleischhauer zu überwiegen begonnen hätten und, Folge notwendig geringerer Sorgfalt, ein unglaublich hoher Prozentsatz von Buckligen und Verwachsenen unter den Kindern mich nicht verstört hätte. Es gab da merkwürdig dünne Arme, merkwürdig große Köpfe, Höcker und Ausladungen traurigster Art!

Mein Bestreben, irgendwie und teilweise Abhilfe zu schaffen, ist ziemlich schnell hervorgetreten und noch schneller lächerlich gemacht worden. Ein keines, etwa achtjähriges Mädchen, ein Kind an jeder Hand, und hinter sich eine auf Rädern ruhende Kiste mit Wickelkind, stand vor einer fragwürdigen Konditorei und schien nicht die Summe von einem Kreuzer für eine Neapolitanerschnitte aufbringen zu können, von einem Indianerkrapfen gar nicht zu reden! Ich veranlaßte, daß ich in jenes Geschäft trat. Ich wußte nicht, was sagen, ich errötete. Es kann auf meine Ungeschicklichkeit zurückzuführen sein, wenn sich die Kinder fürchteten, scheu zurückwichen und, als ich ihnen näher trat, schreiend davonliefen. Noch nicht ich, aber viele andere mochten die häßlichen Worte verdient haben, die mir zuzurufen und nachzusenden einige ältere Frauen nicht müde wurden. Ich dürfte zu gut gekleidet gewesen sein, als daß man mir anständige Beweggründe zugetraut hätte. Oder ist es Weltgesetz, daß niemand etwas für einen andern tun kann und darf?

Wachleute suchten wohltuend zu wirken, indem sie abwesend waren. Aber es ist fraglich, ob nicht ihre Anwesenheit nützlicher gewesen wäre. Ich wenigstens vermag nicht zu entscheiden, ob den vielen Kindern, die in dem großen Tümpel ein Bad nahmen, das auf einem niedrig gelegenen Baugrund noch vom letzten Regen her stehn geblieben, das Waten und Tauchen in dem schmutzigen, lehmigen Wasser besonders gesund war. Wahrscheinlich nimmt man an, daß Kindern der Armen die Hitze nicht allzu fühlbar wird, denn sonst, nicht wahr? wär doch kein Grund vorhanden, welcher der Errichtung von Riesenbädern für die Kleinen im Wege stünde. Bis dahin würd ich es übrigens befürworten, daß die Kinder in dem Tümpel herumpatschen. Denn andere sah ich um und in Bedürfnisanstalten »Fangerl« spielen, wieder andere haben eine neue Art zu »telephonieren« erfunden. Eine Abteilung ruft bei einem Kanalgitter etwas hinein, die andern liegen beim nächsten Kanalloch platt am Boden, horchen und antworten … Was sie rufen? Einen Ruf hab ich vernommen, er war vielleicht humoristisch gemeint, keineswegs mit dem Gefühl beschwert, das ich später in ihn legte, und doch werd ich ihn nie vergessen. »I möcht Erdbeer«, schrie ein Kind in den stinkenden Kanal hinab … und da es nicht Weihnachten war – bekanntlich die Zeit großartigster Wohltätigkeitseruptionen – und da es kein Traum war, steht zu befürchten, daß der Wunsch nicht in Erfüllung ging. Der beim andern Gitter dürfte: »I a« geantwortet haben … Beide konnten ihr Ideal – denn es gibt kein tieferes Symbol für den Begriff »Ideal« und alles Streben der Menschheit, ihrer Wirklichkeit zu entrinnen, als seine Sehnsucht nach Erdbeeren in ein Kanalgitter hinabzurufen – ich sag, beide konnten ihren Wunsch nicht erfüllt sehn. Denn Erdbeeren brocken, nichts war leichter, wenn sie nur zeitlich früh aufstanden und im Wald den richtigen Platz fanden. Aber die Buschen gehörten nicht ihnen, die wurden verkauft!

Ich kam ins Freie. Es gibt dort draußen wirkliche Wiesen. Sind freilich etwas sandig, von Unrat erfüllt und Abfallhaufen, aber wer wird sich an derartigen Kleinigkeiten stoßen? Es lagen so viel Leute dort, welche die Gegend offenbar bewunderten und Mückenstiche wie Gerüche ignorierten, daß auch ich tapfer standhielt, und mich schließlich des Stolzes auf dies Standhalten schämte. Im Schatten einer Wiese sitzen vom Gebären erschöpfte Frauen, die schon wieder schwanger sind, und dort geht, eng an einen nett gekleideten Burschen geschmiegt, ein vierzehnjähriges Mädchen immer weiter ins Freie. Sie ist sauber angezogen und weiß noch nichts, aber die alten Frauen, die dem Paar kopfschüttelnd nachblicken, die wissen, wenn sie auch kein Wort sagen – sie sind dergleichen gewöhnt! Haben sich selbst früher oft genug aus der Schande unendender Arbeit in die kurze Ewigkeit, in das Asyl der Lust geflüchtet!

Ein kleiner Fratz, ein rotzender Kampfheld, einen Papiertschako auf dem Kopf, dreht sich unaufhörlich rundherum und sagt die ganze Zeit über verzückt nichts als »Flöh und Läus«. Aber diese Frühreife ist nur zu begreiflich. Es muß nach Fabrikschluß gewesen sein, die Dampfpfeifen hatten ihr Geheul bereits eingestellt, da sah ich unter niedrigem Gestrüpp, nicht weit vom Weg, drei tschechische Burschen in Kleidern mit einem ebenfalls komplett angezogenen tschechischen Dienstmädchen verschlungen im Gras sich wälzen. Die armen Tiere! Das Mädchen fürchtete sich, die Burschen waren zu ungebildet, als daß sie sich eine andere Form des Verkehrs hätten gönnen können. Andere Burschen und Mädchen, aber auch Männer, spielten Blindekuh. Die jungen Mädchen wurden beim Fangen derb angegriffen, sie brannten darauf, sie sehnten sich darnach, das war ja das einzige, was sie hatten.

Feierabendvergnügen! Und die Frauen saßen ganz ruhig daneben, wenn ihre Männer die Mädchen packten, es kam ja schließlich ihnen zugute … und ich wußte nun einen Grund mehr für ihren Kinderreichtum. Knaben auf den Schutthaufen schossen »Fitschifeil« oder ließen jämmerliche »Raffler«: Papierdrachen steigen, eine Schar verfolgte einen Trottel oder Epileptiker, »Teppater« brüllend, dann kam es wie Unkenrufe: sie waren wieder zu ihren melancholischen Kanalgittern heimgekehrt.

Ein alter Mann im städtischen Armenhaus hustete mühsam, gottserbärmlich beim Fenster vor Staub und spuckte sein Leben in Blutklumpen auf die Straße – es war aufgespritzt worden, zum Hohn, aber das Pflaster war so schlecht, daß das Wasser verdarb!

Hilflos! Auch ich hab dieser Welt nicht geholfen. Niemandem! Die Sündflut: das Elend steigt um mich, in mir, bis es mich und uns alle verschlingt.


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