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Begräbnis

Als ich heute Samstag mittag von der Universitätsbibliothek mit etlichen Lukianbänden und den mühsam genug erkämpften Memoiren des Zehir eddin Muhammed Baber müd und hungrig heimkehrte – es war der vierundzwanzigste, und ich hatte nur mehr einen Kreuzer in der Tasche, folglich weder mir was zur Zehnuhrjause kaufen noch fahren können – kam mir schon im Vorzimmer der Joseph entgegen, die Tante Selma sei gestorben. Die aus Floridsdorf. Dann begann er vom Fußballspiel zu reden. Jener Wimprechtinger, der wegen einer dem Linienrichter erteilten Ohrfeige für etliche Matches vom Spiel ausgeschlossen worden, sei nicht der gute Wimprechtinger, sondern sein zweitklassiger Bruder. »Ein Glück für den Ersten Wiener Fußballklub«, meinte Joseph. Die Mama war nicht zu Haus. Sie war in die Handels-Akademie gegangen, sich nach dem Hans erkundigen, und vermutlich von dort zur Tante Risa und nach Floridsdorf. Praktisch! Ja, was schaute mich denn die Melanie so an, erwartete sie vielleicht von mir, ich würde zu weinen anfangen? Es ist tragisch, wenn einer von der Familie oder aus der Bekanntschaft stirbt, gleich glauben die Leut, man müsse unbedingt traurig sein, womöglich weinen. Bei mir aber werden die Gefühle nicht automatisch durch irgendeine Nachricht aufgerufen. Wirklich, ich hatte den Tod der Tante schon längst betrauert, vor Jahren, als es mir einging, daß wir alle sterben müssen … und hatte ihn halb gefürchtet, wie den aller alten Leute unserer Verwandtschaft, denn ich wußte, ich würde beim Begräbnis mitgehn müssen … Wo nur die Rozena mit der Suppe blieb, dieser böhmische Trampel, zweimal hab ich geläutet, und noch ist sie nicht da. Und jetzt, wo sie das Gschloder bringt, ist es eiskalt. Was es sonst gab? »Peuschel mit Knödel.« Kalbspeuschel eß ich nicht. Eine Manie von meiner Mama, dieses ordinäre Peuschel! Viermal binnen vierzehn Tagen haben wir's gehabt, und noch nicht Schluß. Freilich, das Kilo kostet siebzig Kreuzer. Hans, der grad aus der Schul kam, empfing auch im Vorzimmer die erschütternde Trauernachricht vom Joseph. »Welche Tante Selma?« fragte er. Denn wir haben noch eine in Kaschau und eine Tante genannte Cousine draußen in Hietzing. Die in Kaschau war auch alt, aber Gott sei Dank, zu ihrer Leich werd ich nicht fahren müssen. Die Spesen würden zwar nicht den Papa, aber immerhin die Mama bewegen, mich bei dieser noch zu erwartenden Trauerfestlichkeit auszuschalten. Hans stellte fest, die Peuschelportion sei klein und die Sauce nicht allzu reichlich vorhanden. »Die Rozena wird draußen alles aufgefressen haben!« schimpfte er. Es sei ihr von Herzen gegönnt, wenn sie mir nur morgen die Schuh anständig putzt. Ah, der Papa war auch nicht da. Ja, richtig: die Zeitung fehlte. Die brachte er immer mittags aus dem Bureau mit. Daß ich die Zeitung nicht vermißt hatte! Der Papa war zu einer Leich gegangen. Das ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Wenigstens schnappt er Luft. Am Abend wird er dann erzählen, wer mitgegangen ist und wieviel Kränze waren. Dann wird er den Hans durchhauen, denn die Auskunft dürfte höchstwahrscheinlich miserabel ausgefallen sein. Oder nein: diesmal wird er ihn nicht durchprügeln, weil der Hans etwas im Ohr hat, erst unlängst zwei Nasenoperationen überstand. Also der morgige Nachmittag wird futsch sein. Und ich hab mich so darauf gefreut, diese närrischen Zaubermärchen und Münchhauseniaden vom Lukian zu lesen, den magischen Esel und die wahre Geschicht. Und hie und da einen Blick in das Buch vom Baber zu werfen. Ausgeschlossen. Ich muß mit. Schon dem Eduard zulieb. Und der Onkel Ignaz hat mir gewiß mehr Gefälligkeiten erwiesen als ich ihm. Es schickt sich, daß ich zum Begräbnis seiner Mutter geh. Der Eduard würde mich vielleicht noch verstehn, wenn ich nicht käm. Schließlich: wer kann mir's denn schriftlich geben, daß ich morgen traurig bin? Am End werd ich noch durch mein Benehmen Anstoß erregen. Niemand garantiert mir, daß mir nicht beim Begräbnis, beim Kondolieren plötzlich ein verrückter Einfall vom Lukian durchs Gehirn schießt und, ohne mich zu fragen, den Lachmuskel in Aktion treten läßt … Das Schicksal geht fürchterlich mit mir um. Hätt denn die Tante nicht noch länger leben können? Wenigstens bis Montag?! Dann wär die Leich am Mittwoch gewesen, und da hätt ich Vortrag im Seminar gehabt, der wär unmöglich abzusagen gewesen, und das hätt mich wenigstens bei dem Bruder des Ignaz, beim Siegmund, entschuldigt. Obzwar ich einen Schmarren auf ihn geb. Der Rudolf soll auch zur Leich kommen. Es ist ja seine Großmutter. Sie haben ihm nach Bamberg, der tagsüber betenden Stadt, telegraphiert. Ich wett, der Kommis kommt mit einer goldnen Uhrkettn. Sonst erschieß ich mich. Was? Die Tante ist gestern mittags gestorben! Den ganzen Vormittag hat gestern die Mama auf die Floridsdorfer geschimpft. Auf den Onkel Siegmund, weil der sie bei der Geldaffär von ihrem Bruder Heinrich angeblich hätt hineinreiten wollen. Auf den Onkel Ignaz, weil der von ihr Geld vorgestreckt haben wollte, dabei aber – entsetzlich! – seine Frau, die Tante Risa, in einer Persianerjacke um dreihundert Gulden gehn ließ. Auf die Schwester vom Ignaz und Siegmund, auf die Charlott, hat sie g'schimpft, daß die ihren »von Haus aus« gutmütigen Mann durch fortgesetzt hochmütige Behandlung zu dem Kartenspieler gemacht hat, der er ist. Und schließlich auf die Tante Selma selbst, weil die sich noch einmal verheiratet hat, und gar mit einem Mann, der so viel Kinder hat. Alles Geld vom Großpapa sei in die Floridsdorfer hinein geronnen, und was hätt man davon? Undank! Ich find, es ist doch selbstverständlich, daß der Großpapa die Tante Selma, seine einzige Schwester, unterstützt hat. Ich hoffe nur, das mit der Telepathie ist eitel Holler, und Mamas Schimpfworte haben nicht der Tante Tod mitverursacht? Die Mama hat zwar von der Krankheit ihrer Tante nichts gewußt, aber ich hab ihr oft genug gesagt, daß die Flüche von Verwandten möglicherweise die Kraft besitzen, von Blut zu verwandtem Blut zu dringen. Und sie selbst hat darauf gesagt: »Man kann nicht wissen …«

Ich könnt mich eigentlich drin im Speisezimmer niederlegen, die Maroni schmecken mir nur beim Maronibrater, die von der Mama sind immer viel zu hart. Na, gehn wir. Arbeiten werd ich sowieso nicht können. Ich sollt zwar eigentlich den Lukian vornehmen, eh der Termin abläuft, und dann hab ich noch ein Gedicht zu zerreißen, weil ich mich am Heimweg heut auf einer unbewußten Reminiszenz an den gottseligen Ferideddin Attar ertappt hab. Es gibt ja schon sowieso genug krause Professoren der angewandten Kryptomnesie in unserer Literatur. Diebsgelichter: Gedichter!

Geläutet hat's. Das ist entweder die Milch oder ein Kollege von mir, den ich rausschmeißen werd. Heut spiel ich weder Schach noch Strohmandel. Erstens ist eine Großtante von mir gestorben, zweitens wiegte ich mich zwar noch heut früh im Besitz von sechs Kreuzern, dann aber kam der Briefträger und brachte ein Mahnschreiben der Bibliothek, und nachdem ich einen harten Kampf dagegen ausgefochten hatte, dem Mann aus Ironie einen Kreuzer Trinkgeld zu geben, blieb ich infolge des vom Schicksal verhängten Strafportos im Besitz von zwei in einem Stück vereinigten Hellern … Gott sei Dank! es war nur der Aschenmann aus der Fabrik: Asche, die bei uns Ersparnis halber über die glimmende Kohle geschüttet wird. Wie sich die Mama freuen wird, daß sie nicht zuhaus war. So hat sie ein Stamperl Schnaps erspart … Was soll ich eigentlich anfangen? Zeitschriften lesen? Den »Frühwind« oder den »Nachtraben«? Das Zeug ist unverdaulich. Daß die Menschen nicht den Takt haben, ihre diversen Verlagskritiken in den Inseratenteil zu stecken. Kritiken gehören überhaupt unter die Annoncen. Ob er nun mit seinem Lob oder Tadel nicht ganz reinliche Tausch- und Revanchegeschäfte treibt, immer macht der Beurteiler Reklame für sich und seine Weisheit. Komisch, daß so viel Leut immer wieder auf den Literaturhumbug hineinfallen! Was ist eine literarische Revolution? Dickbäuche mit donnergrünen Krawatten erheben sich glatzenblitzend vom Cafétisch und machen ärgerlich Leuten mit blitzvioletten Nasenringen Platz, die laut, lockig und mager längst schon gierig auf die Melange mit Apfelsaft der Krawattophoren geblickt hatten. Alle dreißig Jahre Wiederholung der Vorstellung. Ich verzicht. Es läutet schon wieder. Nicht einen Moment kann man schlafen! Das Dienstmädchen sagt »Küß die Hand«. Das ist ein Attentat auf mich. Da hab ich das Vergnügen, der alten Tante Fanny die Honneurs zu machen. Leider ist das Zimmer gut geheizt: also dürft ich ziemlich lang die Ehr haben, Gehörtes wiederzuerzählen, was ich überaus liebe. Schad, daß die Mama »leider« nicht zuhaus ist – sie und die Tante Fanny können einander gegenseitig nicht ausstehn. Ich hab sie ganz gern, sie redet sehr wenig, dafür soll man aber ihr in einer Tour erzählen. Ich: »Sie wissen doch, daß die Tante in Floridsdorf gestorben ist?« Sie: »Ja, ich hab die Parte in der Presse gelesen. Weißt du vielleicht, was sie gekostet hat?« »Dreißig Gulden«.

»Unverschämt!« Dann aber hatte ich genug, erklärte, der Doktor habe mir wegen eines schleichenden Bronchialkatarrhs das Reden verboten. »Traurig«, sagte die Tante und ließ es dabei im Ungewissen, ob sie die Verstorbne damit meine oder mich. Dann aber konnte sie sich doch nicht enthalten, zu fragen, was wir heut zu Mittag gehabt hätten. Als Antwort bot ich ihr Salmiakzuckerln an, sie nahm, und ob sie hierauf gesagt hat: »Sie hat es überstanden« oder »die Arme hat ausgelitten«, ist mir nicht mehr erinnerlich. Denn in dem Augenblick kam der kleine Felix ins Zimmer und widmete sich der Tante, weil ich mich mit den Worten »Ich muß lernen gehn« verabschiedet hatte.

Sollt ich vielleicht der Tante Fanny erzählen, daß die Tante Selma gar nicht gestorben sei, mir wenigstens jede ihre Handbewegungen vor Augen stand, ihr freundlicher Blick und jede der Einzelheiten ihres Gesichts? Sollt ich sagen, roh und doch wahr, nicht ein Tagjahr mehr oder weniger soll ein Mensch leben, darauf komme es nicht an, schon weil das Leben nach Jahren zu messen unendlich falsch sei. Sollt ich sagen, daß ich keinen Unterschied zwischen Lebenden und Toten mach, da wir ja von beiden gleicherweise, wenn wir mit uns allein sind, nichts besitzen als eine mehr oder minder matte Erinnerung ihrer Gestalt und ihres Wesens, des Klangs ihrer Stimme und der Art ihrer Gesten, eine Erinnerung übrigens, deren Intensität nicht einmal abhängig ist von dem Grad der Zu- oder Abneigung, die wir ihnen entgegenbrachten. Jeder vernünftige Mensch, der einen ökonomischen Gebrauch seiner Zeit zu machen gewohnt ist, wird die Toten lieber kommen und gehen sehn als die Lebenden. Der sinnliche Eindruck, auf den die meisten angewiesen scheinen, ist feiner Organisierten entbehrlich, sogar lästig, sonst würde das längere Zeit währende oder auch nur wiederholte Zusammensein mit denselben Personen sie nicht mit jenen Gefühlen versehen, die man in der Umgangssprache mit »auf die Nerven gehn« zu bezeichnen pflegt. Daß wir genötigt sind, uns von ewig denselben Speisen, Getränken, Frauen und Wohnungseinrichtungsgegenständen hinrichten zu lassen, wär genug; diese Pein nun noch zu verschärfen, indem man sich zwingt, mit andern Menschen zu verkehren, deren jeden man sich ja doch nach höchstens zweimaliger Beobachtung aus der Westentasche zu ziehn und vor sich auf dem Tisch agieren zu lassen getraut, dazu gehört die Geduld eines Dickhäuters oder normalen Menschen. Aber konnt ich das der Tante Fanny erzählen, ihr sagen, daß es meine Art ist, die Lebenden zu betrauern! Würde sie und die andern Menschen mich verstehn? Kassandra hat nie den Fall Trojas, ihrer Brüder noch ihren eignen beklagt; diesen Dingen stand sie gewiß gleichgültig, ja überlegen ironisch gegenüber. Jahre vorher hat sie geweint und geklagt – die verrückte Seherin, die alle Dinge kommen sah und der daher alles Erleben schal und gemein ward. Die da drinnen und draußen: die Durchschnittstanten! ihre Stimme hört ich schon vor Jahren den Tod auch dieses Menschen besudeln. »Welch ein Verlust für die Maltschi! Die ist nun Doppelwaise und hat nun gar niemanden mehr, weil jetzt auch ihre Großmutter tot ist!«

Ein Mal und kein zweites Mal wieder hab ich alle mir Nahen betrauert, damals, als ich mit vierzehn Jahren meine Urgroßmutter sterben sah, und damit erst wirklich wußte und begriff, daß ich und alle sterben müssen. Denn bis dahin lebt ich in einem Feenland. Professoren und Eltern waren mir nur eine herbe Prüfung, die zu bestehn war, bis ich von Gott und den Mächten, die zwischen uns und ihm sind, einer bessern Daseinsform: einer Verwandlung würdig befunden würde. Als die Urgroßmutter starb, sanft, aber eben doch starb, da rannt ich hinaus und biß ins Gras und wälzte mich in den Pfützen und weinte und fluchte – ohnmächtig. Seither starb mir niemand mehr, und wer dem Anschein nach später starb, war mir schon damals mit der Großmutter begraben worden. Und von allen Begräbnissen, die ja doch keine waren, blieben mir nur häßliche Erinnerungen. Als Großpapa starb – die langen Ferien vorher betete ich zu ich weiß nicht wem, den Tod nicht mitansehn, das Begräbnis nicht erleben zu müssen. Ich beneid alle, die Unlogik genug besitzen, bei jedem neuen Tod zu weinen und Trauermienen zu hissen. Diese Leute haben oft Gefühl, mein Herz ist aber seit jenem ersten Tod meiner und aller versteinert. Was sollen diese Begräbnisse? Sie sind die Ausdrucksform für die Gefühle der meisten. Das Weinen ist kein inneres, perennierendes, es ist ein intermittierendes; das Begräbnis ist ein Rülps der Gesunden nach dieser auf den Einwurf »Tod« erfolgenden Tränenfunktion des Gefühlsautomaten. Sie rülpsen: »Punktum, Streusand!«

Die Jause. Die Tante war schon fort, hingegen der Papa da. Bei dem Begräbnis der alten Martinschak hatte es drei Wagen, vier Kränze und fünf Tränen gegeben. Dies dachte ich mir. Als ich aber hörte, das einfache Begräbnis habe zweihundertundfünfzig Gulden gekostet – mein Gott, die Pfaffen sind schrecklich teuer – verhundertfachte ich die Zahl der Tränen. Von den Poppers waren die Söhne, welche die Alte aus gutem Herzen und nicht etwa gegen bar erzogen hatte, nicht dabei gewesen. Und den andern mußte erst Papa »Schließlich beten wir doch alle nebbich zu einem Gott« sagen, bevor sie es mit ihrem Judentum für vereinbar hielten, zur Seelenmesse zu gehen. Nach der Jause Zeitung, Baber, Lukian und dem Felix meinen letzten Kreuzer, weil er sich auf dem Eis Zuckerln kaufen wollte. Aus Berechnung: er mußte mir dafür versprechen, nicht mit den Sesseln im Zimmer umeinanderzufahren, wenn ich nebenan arbeit. Wenn ich bloß lern, geniert mich das nicht, aber auch nur einen vernünftigen Satz bei dem Gescharr und Gerutsche schreiben zu müssen – hirnzerrüttend! Am Abend ersucht ich den Papa, morgen dahinzuwirken, daß wir nicht etwa aus Mamas verfluchten Ersparnisrücksichten bis zur Dampftramway fahren und irrsinnigerweise über die windgeliebte Brücke gehn müssen. Er sagte, wenn ich mir das Geld für die Dampftramway verdient hätte, solle ich mit der fahren, sonst nicht. Ich bin aber sicher, er wird mir, der Mama gegenüber, morgen die Stange halten. Es wär auch zu blöd, wegen sechzehn Kreuzern mehr einen von uns krank zu machen, der nicht die sparsame Konstitution meiner verehrten Frau Mama besitzt. Spät abends kam sie und war in der bittern Kälte allein von Floridsdorf zu Fuß nachhaus gegangen. Sie sagte mit geheimer Schadenfreude, die sie als Mitleid maskierte: »Die Charlott sieht elend aus. Ich glaub, die Arme hat wirklich Tuberkulose … Und jetzt wird die Maltschi nicht mehr die Gräfin spielen und Hüte um zwölf, fünfzehn Gulden tragen, wo ich mir alle zehn Jahr einen um zwei Gulden mach. Der Alte hätt sie am liebsten gleich heut hinausgeschmissen. Gerechte Strafe Gottes, daß jetzt alles in seine Kinder erster Ehe hineinrinnt und der Ignaz und der Siegmund es nicht speisen. Denkt's euch nur: im Testament steht, daß der überlebende Teil Universalerbe ist, und jetzt hat der Alte sie überlebt und kriegt alles.«

Gestern nachts lag ich trotz des sonst einschläfernden Bades bis in die Früh wach. Da war das Begräbnis des alten Katermörders Janku, der dreißig Jahr lang beim Großpapa in der Fabrik gearbeitet hat, bis er Typhus bekam und von der Großmama zum Grab begleitet ward. Dann der Tod der Urgroßmutter, die uns immer Madeiratrauben gab und vor der prügelnden Mama schützte. Einmal schenkte sie mir auch einen Fünfer von ihrem Wenigen, ohne zu ahnen, daß der Guldenzettel längst außer Kurs gesetzt war. Vielleicht schenkte sie mir ihn dafür, daß ich sie führte, wenn sie mit dem Eigensinn des Alters heim nach dem viele Stunden entfernten Werbotz gehen wollte und müd nach einigen Schritten umkehrte; vielleicht auch wollte sie mich eingefleischten Romanleser aneifern, ihrem Rat: »Lies lieber Schiller und Kotzebue« zu folgen. Und einige Zeit später sprang ich hinunter in das Wirtshaus drunten und sagte meinen Freundinnen, den drei Mädchen, stolz, wie triumphierend auf eine eigene Leistung: »Mein Urgroßvater ist gestorben. Siebenundachtzig Jahre ist er alt geworden.« »Heilige Dreifaltigkeit, so alt!« Und als ich im Sommer wieder in das slowakische Dorf kam, war der Betstuhl des Urgroßvaters schwarz ausgeschlagen, und der Großpapa betete auf einem andern Platz. Die Mama aber feierte einen hygienischen Triumph, denn nun lockte mich niemand mehr zu sich, um mir einen Löffel des stark mit Rum, Wein oder Kognak versetzten Tees zu geben, und eine Bezugsquelle von Kirchtagskreuzern war nun auch versiegt. Ein Sommer kam, ich hatte meine usuelle Nachprüfung, o Mathematik! – aber der Großpapa war schwerkrank. Oft, wenn er aufmerken und am Tischgespräch teilnehmen wollte, wurde er schläfrig, und sein Kopf glitt an der aufgestützten Hand nieder zur Tischplatte. Und dann im Herbst die Fahrt zum Begräbnis mit meinen Cousins, den Hoysenfelds, die als Ältere mich trotz meiner Trauer in Lundenburg leicht überredeten, ebenso wie sie mir zur Zehnuhrjause von den wunderschönen Trauben zu kaufen. Wofür ich mich noch heut ohrfeigen möcht. Dann das Abschiednehmen von dem Toten, das Ihn-um-Verzeihung-bitten … und draußen vor dem Haus das Geschimpf der Schnorrer von Motschidlan, die, weil jeder nur eine Krone bekommen hatte, schrien: »Jach hab geglaubt, es is dos e groiße Firma, de Singers von Mltsch, daweil … nicht erleben sollen se!« … und das Geschrei meiner Mama und ihrer Schwestern am Grab: »Mein lieber, süßer, guter Papaaa!« – dies alles ist über mich hingegangen, und wurde aufgenommen von einem kalten, selbstsüchtigen Herzen tränenlos, weil nicht schlecht genug, Tränen erpressen zu wollen, und doch mitfühlend. Nur fühlte ich alles wie ein schon längst Erlebtes, und fühlte wenig, weil ich, wie stets, benommen war vom Sehen. Ich sah und hörte Großpapas Kompagnon weinen und schluchzen – es war niemand mehr da, den er ähnlich betrügen konnte; ich sah den Sohn weinen – wer würde ihm jetzt die Schulden zahlen? Und ähnlich teilte und erforschte ich den Schmerz eines jeden, wie ein großer Spiegel jeglichen Lichteindruck empfängt, aber bei seiner rezeptiven Tätigkeit nie dazu kommt, er selbst zu sein. Ein Spiegel, ein Grammophon! Ein jeder Hall und Schall grub sich in mein Gedächtnis ein, ich selbst stand nah und war doch weit, weit weg und doch am selben Ort: und sah das Begräbnis meiner noch lebenden Großmama! Damals war es, daß ich mich vor mir zu fürchten begann. Etwas Grauenvolles lebte in mir, mit mir. Ich lebte, fühlte, hoffte, weinte und lachte, und doch war auch noch etwas außerdem da, das jegliches innere und äußere Geschehnis bald flüchtig, bald weitschweifig, bald kunstlos, bald pointiert in das keines Widerstands fähige Gehirn schrieb. Daß es mir gegeben war gegen meinen Willen, unwillkürlich tief in geheimsten Gedanken der mir Bekannten zu wühlen! Und nicht das allein, ich wußte die Zukunft eines jeden von ihnen. In ihrer Anwesenheit, während sie mit mir sprachen, begrub oder verheiratete ich sie, je nach ihrem Alter. Und ging bei ihren Begräbnissen mit, wenn sie mir eine Zigarette anboten, und verheiratete sie bei ihren Promotionen.

Wie der Vormittag vorüberzog, weiß ich nicht. Vermutlich ging ich in Gedanken mit Eduard nach dem Begräbnis spazieren, wie gewöhnlich. Ja, es ist nicht ausgeschlossen, daß ich ihn um seine Meinung bat über ein oder das andre Buch, von ihm drohenden juridischen Prüfungen sprach, besorgt, wie es sich für einen Cousin ziemt. Vielleicht auch fragte ich ihn, der seine Großmutter verloren hatte, ob ich ihm den im Erscheinen begriffenen Roman Babenbergs fortsetzungsweise oder erst vollständig zukommen lassen solle? So bin ich, ich kann nicht anders. Der Onkel Ignaz, der mich gut kennt, sagte mir einmal: »Wer da mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wär er ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.« Nichts nützt mir dies sein Mich-Erkennen, nicht schützt es mich vor meinen Gedanken. Da ist mein Wissen darum, daß die Tante Risa den Rudolf, den Kommis, fragen wird, wieviel Gehalt er hat. Und ich sah schon die Maltschi mit ihm eine zärtlich-traurige Gruppe bilden, die zarte Schwester an den starken Bruder gelehnt. Mich Elenden seh ich stumm und befangen umherirren, bald mich verkriechend, bald die Worte dieser oder jener Gruppe schluckend. Es müßte mit dem Teufel zugehn, wenn ich nicht irgendeine peinliche Szene hervorrufen sollte. Und innerlich werd ich mich bald schämen, bald über irgendwas wütend sein, sicher über den Rabbiner, nach außen aber immer gleichgültig, wie nur noch der dritte Sohn der Tante Selma, der dicke Moritz, aussehen kann – durch zusammengebissene Zähne und verlegenes Schweigen eine Art Trauer markieren. Mittags gab es einen Diskurs über die Kleidung, weil ich mich nicht bewegen ließ, eine Winterhose von Joseph statt meiner schleißigen zu nehmen. Dann gab mir der Papa ausnahmsweise, ohne sich drum bitten zu lassen, etwas Geld, worüber die Mama zu schreien und zu gestikulieren begann. Bauchgrimmen von den Kohlrüben im Herzen, macht ich mich auf den Weg. Ich hasse Begräbnisse und andere Familienfestlichkeiten. Nun gar noch verbittert durch die Anwesenheit der Mama. Es kam, wie ich es geahnt hatte: wir fuhren zur Dampftramway. Und in der Elektrischen focht die Mama mit Blicken, Gesten und kleinen Rippenstößen dagegen, daß der Papa dem Kondukteur einen Kreuzer Trinkgeld gab. He, ich hatte mich im Traurigsein zu üben. Einmal hab ich im Gymnasium so intensiv Zahnschmerzen geheuchelt, daß ich wirklich welche bekam. Ein andermal Trauer über die Scharlacherkrankung der Melanie so vollkommen in Erscheinung zu bringen gewußt, daß mich ein Professor, der mich sonst absolut nicht goutierte, trösten zu müssen glaubte und mir Jahre hindurch keinen Fünfer gab. Einmal aber hab ich zu gemeinsten Zwecken Trauer geheuchelt, um Trauer zu meucheln. Unserem Dienstmädchen, der kleinen Andjulka, war die Schwester gestorben. Wir sind allein zu Haus gewesen. Sie weinte, ich versuchte sie zu trösten. Sie lehnte sich ermüdet an mich, und ich streichelte sie, und schließlich, obgleich sie mich bis dahin absolut nicht gemocht hatte, glitten wir in ein Land, das gewiß nicht an diesem Abend zu betreten war. Nach der raffiniert gemeinen Ausnützung dieser Situation und Seelenstimmung kam ich Erbschleicher der Liebe mir damals recht dämonisch vor.

Der Joseph protestierte, aber es half nichts: »Eine Strecke gehn, eine Strecke fahrn,« sagte die Mama, und hatte dabei fürs Gehn die windige Strecke über die Donaubrücke ausgesucht, weil nämlich die Dampftramway um zwei Kreuzer teurer ist als die Straßenbahn. Ein an die Adresse meines Bronchialkatarrhs gerichteter Sturm und infolgedessen an uns vom Papa ausgeteilte Bernzuckerzelteln, die, Urteil der Mama, nach Urin schmeckten und nichtsdestoweniger gierig von ihr begehrt wurden, das waren die nächsten Ereignisse. Näher und näher. Ich bekam Herzklopfen. Vermischt mit Gewissensbissen. Denn ich beging eine unehrenhafte Handlung, wenn ich dort, wo ich höchstens meines Todes halber eine Art Trauer hätte aufweisen können, aus Eitelkeit und »Was-würden-sonst-die-Leute-sagen« Bewegungen, Mienen und Worte der Trauer machte. Versteinert ist meine Seele und fühlt mit keinem Menschen, nur hie und da mit einem Tier oder gleich mit ganzen Völkern Mitleid.

»Wieviel Leute es da gibt,« sagte der Papa und schrieb mir vor, wem ich kondolieren solle, und daß ich namentlich dem alten Onkel und der kranken Charlott beim Weggehn sagen möge »Gott tröste Sie«. Ah, Rabbiner sind auch da. Dort in der Ecke sitzt der alte Raubvogel und hinterbliebne greise Gatte. Allen nahen Verwandten der Toten die Hand gegeben und mein Beileid ausgedrückt.

Wie ich zur Charlott kam, trat ich in der dunkeln Nische auf den übersehenen Sarg, und in meiner Wut und Verlegenheit gab ich dem Eduard nicht die Hand. Tat auch während des ganzen Begräbnisses nichts dergleichen. Als ob wir ganz unbekannt miteinander wären. Denn dort, wo du nicht mitfühlen kannst, heuchle nicht unnötig. Und wenn ich mit ihm gesprochen hätt, irgendein verruchter Witz wär mir doch entschlüpft oder am End gar eine literarische Reminiszenz. Also lieber nicht. Einen großen, gutmütigen Schnurrbart hat er übrigens bekommen, seitdem ich ihn nicht sah, einen Altmannschen, ähnlich dem vom Ignaz. Er sieht aus wie ein Mann.

Ein offener Sarg, die Tote im Bett aufgebahrt, das hätte sicher auf mich gewirkt. Aber eine schwarz ausgeschlagene Kiste mußte durch die vielen schwarz ausgeschlagenen Menschen, ihre mannigfachen Gebärden und Körpergeräusche in Schatten gestellt werden. Jetzt freilich, da ich allein bin, verblaßt das andere, es verschwindet das Gesicht des Onkels Ignaz, auf dem geschrieben stand: »Man kann da leider nicht helfen«, vergeht das Gesicht des abgemagerten Siegmund, unsichtbar wird der Ballgehrock des Kommis, der vermutlich jetzt tanzen lernt, wie weggeblasen ist die Goderljüdin, die der Robert geheiratet hat, samt ihm, der mir auf meine Phrase eine andere herausgab – da ist nur die Tote mit ihrem Haarnetz, den breiten, fast noch schwarzen Augenbrauen, der so gar nicht entstellenden Warze seitwärts unter den merkwürdig auseinandergeworfenen Lippen, sie bietet mir Bäckereien an, und wenn ich nicht irre, spielen wir Lotto, Glocke und Hammer.

Gleich nach den Kondolenzen – ist die Maltschi wirklich so abgemagert, oder macht es das schwarze Kleid? – verschwand ich, geriet unter fremde Damen, die sich im Vorzimmer aufgestellt hatten, als hätten sie keine Ahnung davon, daß jemand Kohlrüben gegessen haben könne. Und gleich nachher lang marschiert sei. Ah, es sind die vom Geschick grad hierher gesandten Mänaden, die mich dafür bestrafen, daß ich nicht an ihren Trauermysterien teilnehm! Wie die Charlott schlecht aussieht! Und die kleine Martha hustet noch von ihrer Rippenfellentzündung her. Die Mutter, die Charlott, ist tuberkulös, ob da wirklich acht Stunden täglicher Schule bei der Tochter angezeigt sind? Lernen soll sie außerdem noch und im Geschäft und in der Wirtschaft mithelfen. Bei wenig Bewegung und ohne Sport kann das nicht gut tun. Nicht schlecht sieht sie aus, trotzdem, das ist wahr. Aber kein Arbeiter würd es sich heutzutag gefallen lassen, so lang eingespannt zu sein. Doch dem eigenen Kind tut man's an. Da werden Verordnungen gegen Kinderarbeit erlassen, die Geistesfabriken aber sperren nicht früher … Ich werd mit dem Eduard einmal ein Wort darüber reden … Jetzt singen sie drinnen. Gelegentlich werd ich einmal einen dieser zwickerbehangenen Brüllaffen erschlagen. Was haben die dabei zu tun? Nächstens verwandl ich in einem Märchen einen unbarmherzigen Professor in die Chevra Kadischa! Die Tante soll, bevor sie sich zu Bett legte, oft und innig gebetet haben. Hat sie am End gewußt? Dann hätt sie sicher das Testament abgeändert … Man geht schon. Der Eduard stützt seine Mutter, die Charlott, und weint. Um seine Mutter oder weil die Großmutter aus ihrem Haus getragen wird. Der Rudi hilft ihm stützen, der Bursch war von jeher ein Aff. Wie ihm gesagt wurde, sein Vater sei tot, hat er stundenlang monoton geheult, und das Gewein war noch dazu Imitation. Vielleicht hat er gemeint, man erwarte solches Dauergejammer von ihm?

Nein, Blut war in diesem Weinen nicht. Es kam aus dem Kehlkopf … Da hinter mir erzählt einer im Zug von Kampferinjektion und Sauerstoffzuführung. Und redet noch von sanftem Tod. Allerdings ist es trotzdem möglich: ich glaub, es ist ein Arzt der Tante, der Doktor Regenwurst, der hinter mir … Jetzt riech ich's erst: mein Herr Bruder, der Joseph, hat sich heut nachmittag der Leich zu Ehren mit Moschusseife gewaschen. Na, wenn ich der Herrgott wär, könnt ich's auch nicht anders einrichten: der eine freue sich an Moschusparfüm, der andre an ähnlich penetranten Einfällen! Ah, der Spieler, der Mann von der Charlott, lädt uns zum Mitfahren ein. Er sieht aber gar nicht übel aus, von Trauer keine Rede. Rote Backen. Mir scheint: bei mir hat der Verstand die Seele aufgefressen, bei ihm hat das Geschäft der Verdauungstrakt besorgt. Leichenhalle. Die Frau Scharmann, die Stiefmutter vom Rudi und der Maltschi, spricht mich an. Ob ich sie noch erkenn? »Aber natürlich.« Aus wem rinnt denn noch der belanglosen Reden Strom wie aus einer Bassena? Des Affen geistige Mutter. Oh, die zu Fuß gehenden nahen Verwandten kommen schon. Was ist das? Richtig! Drei symmetrisch ausgestreckte Muffe; der schäbige gehört der Mama, die andern der Risa und der Goderljüdin. Schrecklich: der Rabbiner wird reden. Sein Tonfall ist so idiotisch, als ob er ein ehemaliger Professor von mir wär. Jetzt singen sie auch noch. Haltjegugu. Was ist denn das? Richtig, unlängst war ich beim Koschatquintett, und der Juchzer stieg wieder auf in meinem Gehirn, durch einen ähnlichen Triller der Judenbuben erweckt … Beim Tod von meinem Großpapa hat auch so ein Korybant eine Rede gehalten. Wenn ich damals einen Revolver gehabt hätt, ich hätt den taktlosen Hund im Tempel erschossen. Gefressen und gesoffen hat er dann für zehn. Da reden noch die Leute von Entwicklung. Die Elite vielleicht kommt vorwärts, aber auch das Volk, die Materie? Wetten möcht ich, der mitanische Priester, der dem Ar-Tisup täglich Zwetschgenknödel geopfert hat, der Chinamann vor fünftausend Jahren in Han-Tscheu-Fu, er hat ähnlich salbadert … Wenn ein Oberkaiser durch die Straßen fährt, brüllt es Hurra, wenn der Affenkönig Hanuman endlich aus dem Ramajana hier einträfe, gäb es ein ebenso großes und eine Galavorstellung in der Oper. Die Azteken haben es auch schon so gehalten.

So, jetzt werden sie noch einmal weinen und ein Häuferl Erd auf den Sarg werfen … Beim Rückweg vom Friedhof ins Trauerhaus haben wir keinen Wagen gekriegt, und ich bin so schnell gegangen, daß ich Lungenstechen bekommen hab. Das ist die gerechte Strafe Gottes! Der Mama werd ich sagen, es is von dem Wind bei der Donaubrücken. Das Stechen läßt nicht nach. Wenn ich abergläubisch wär, sagte ich: die Tote zieht mich nach, weil ich ihr auf den Sarg getreten bin. In Wahrheit mögen in solchen Fällen Angst und Gewissensbisse viel getan haben. Gewiß ist aber, daß sich schon viele bei Begräbnissen erkältet und übergessen haben. Oder gleich nachher an Alkoholvergiftung gestorben sind … Jetzt werden doch hoffentlich nicht mehr die Frauenzimmer das Vorzimmer unsicher machen. Gott sei Dank, nein! Das war eine Erlösung!

Man sitzt schon Schive. Dann werden sie die Gebete sprechen. Der Eduard kommt und fragt mich, wie er sich zu verhalten habe. Ich als Kauhen: Priester, Nachkomme Aarons müsse das doch wissen. Ich sag ihm, er soll verschwinden; er tut's aber nicht. Die Gebete sind aus. Essen soll ich? Keine Idee! Ich hab zwar seit Mittag nichts gegessen, aber hier müßt mich jeder Bissen töten. Sie sehn alle nicht, wie die Tante noch aus dem Grab kommt und die Speisen mit nötigenden Worten herumreicht … Jetzt glauben die Leut, es sei aus, und sie dürfen wieder lachen. Sie haben gar keine Ahnung davon, daß mit jedem Toten, der ihnen stirbt, auch ein Stück ihrer selbst ins Grab fällt. Er ist schon da, der Moment, den ich so gut kenn: das Gebiß lockert sich sozusagen, die Mienen erschlaffen, die erzwungene Trauer fällt ab, und der ganze Rhythmus der Gesichtszüge wird ein anderer … Auch Eduard preßt nicht mehr die Lippen so heftig aufeinander. Hat er vielleicht darüber geweint, daß er nicht weinen kann? Und erst draußen in der Küche die Tante Risa! Die lacht mit dem Rudolf, der richtig einen Augenblick mit der Maltschi eine zärtlich-traurige Gruppe gebildet hat.

Sie lehnte sich an ihn … Ich hatte es gewußt: die erste Frage, die meine verehrte Tante Risa an ihren ehemaligen Ziehsohn Rudolf stellte, war: »Wieviel hast du Gehalt in Bamberg?« Es hätt allerdings auch so ausfallen können: die Tante Risa fragt ihn: »Wie geht es dir?« und er sagt »Danke. Ich hab zweihundert Mark monatlich.« Leider besitzt er keine goldene Uhr, oder aber er stellt sie noch nicht vor. Immerhin, er steckt in einem Ballgehrock, soundsoviel Mark Macherlohn – das ist eine Kompensation, und ich brauch mich also eigentlich nicht zu erschießen. Gegenwärtig sagt der Scharmann nicht »nein«, sondern »nee«. Als er aus der Schweiz zurückkehrte, gurgelte seine Zunge dortigen Dialekt. Kam er aus China, wohin er sowieso mit seinen Schlitzaugen und seinem schwarzgelben Teint hingehört – auch von dort kam er als Abklatsch seiner Umgebung retour … Warum eigentlich die gute Tante Risa ineinemfort lachte? Sonst sieht sie doch eher wie eine angehende Meduse aus. Wenn ich mich unanständig benehm, das dringt nicht nach außen, und extradem ist es nicht dasselbe, wenn jemand nie zu seinen eigenen Gefühlen kommt, weil er unwillkürlich den andern Leuten in der Seel herumstiert, und wenn jemand auch solcher Entschuldigung verlustig ist … Ich traf die Tante Selma die seltnen Male, da ich sie sah, stets im Sonntagsgewand. Hätt die Tante Risa andre Erfahrungen gemacht, dann könnt ich gleich mit meiner Psychologie einpacken. Gewiß lacht sie aus purer Verlegenheit. Möglicherweise war aber nur die Reaktion eingetreten, und das Stimmführende in ihr schrie: »Punktum. Streusand.« Adieu. »Es hat mich sehr gfreut, es war sehr schön« werden viele Trauergäste gesagt haben. Schnell noch den Trauernden die Hand gegeben. Dem Alten sag ich absolut nicht »Gott tröste Sie«. Dieser Mensch hat ja gar keinen Gott. Der Charlott sag ich es auch nicht, die weiß vom Eduard, daß Gott noch immer nicht an mich glaubt. Er muß was Schönes von mir gedacht haben, der Eduard, aber er wird schon noch erfahren, warum ich den Maulkorb angelegt hab. Bei mir ist es so: entweder, ich red gar nichts, und das ist gewöhnlich der Fall. Meine Lieblingsbeschäftigung. Wenn ich aber anfang, dann hör ich erst dann auf, bis ich wirklich was zu sagen hab … Das Seitenstechen hat nicht nachgelassen. Gott sei Dank hat mir der Alte, bevor wir weg sind, eine Krone gegeben. Daß mir immer so was passieren muß: bis zum Friedhof Bauchweh, nachher andre Schmerzen. Wodurch die Trauer an Natürlichkeit gewann … Die Mama sagt: »Gott sei Dank, daß die Floridsdorffahrten jetzt aufgehört haben.« Dabei geht sie immer. »Der Eduard hat einen sehr schönen Winterrock gehabt. Ja, er verdient!« Das ist, weil ich keine Stunden geb und der Eduard welche gibt. »Übrigens ein Glück, daß die Tante zuerst gestorben ist; wär der Onkel zuerst gestorben, hätten wir auch zu dem Begräbnis müssen: wegen der Tante. Wegen dem alten Gauner werd ich kein Geld ausgeben, das soll er mir noch wert sein! Nicht genug, daß alles Geld, das der Großpapa hergegeben hat, jetzt die uns gar nicht verwandten Altmanns kriegen!« Ich gestattete mir die Meinung, dies Leichengespräch unterscheide sich in nichts von jenen, denen sich »das Volk« hinzugeben pflege. »Und wenn? Möcht man nicht meinen, eine Heilige is gestorben? Was hast du davon: wie die selige Tante Selma noch Witwe war … aber, was sag ich dir solche Sachen, du erzählst es dann doch sofort brühwarm deinem Freund, dem Eduard.« Dann hatt ich genug von Mamas Leichenrede und sprang in die glücklicherweise grad vorbei rumpelnde Dampftramway. Es wird zwar wegen dieser gefährlichen Verschwendung längre Zeit zuhaus Skandal geben, aber Abwechslung schadet dem Repertoire der Mama durchaus nicht. Justament geb ich dem Kondukteur einen Kreuzer Trinkgeld. Er soll ihn mit dem Briefträger teilen, dem ich gestern keinen gab. Oh, das ist ja mein alter Freund, der Tramwaykondukteur mit dem Globus an der Uhrkette. Er leidet an Größenwahn, dieser Romantiker. Wenn es noch ein Revisor bei der Transsibirischen Bahn wär! Aber so? Schottenring. Ich ging in eine Konditorei. Nein, heut eß ich keine Indianerkrapfen. Glacierte Maroni. Fräulein! Sie müssen mich nicht so anschaun, als wär ein Präservativ die Gebärmutter der Weisheit. Erstens hab ich nicht so viel Geld bei mir, zweitens dürft ich etliche Zeit zu keiner Hur gehn. Seit sich nach dem letzten Mal Herr stud. phil. Albrecht Wodianer drei Wochen unnütz geängstigt hat, und nicht nur hirnverbrannterweise, um sich quasi sicherzustellen, nach freudigem Verkauf mehrerer Lehrbücher einige Lotterielose erwarb, ja sogar beinah entschlossen war, sich taufen zu lassen, um nur ja dereinst Aufnahme in der neuen Landesirrenanstalt zu finden – seitdem ist es für einige Zeit Rest.

O Tripperspritze unterm Weihnachtsbaum!
O Wirklichkeit und Knabentraum!

Die sogenannten anständigen Frauen machen viel zuviel Geschichten, eh sie endlich die Beine auseinandergeben. Und präsentieren dann als Offenbarung ein verstunkenes Stück Fleisch. Das ist die ganze Seligkeit. Liebe? Lust? So ein armes, dummes Fotzerl kriegt entweder einen Denkzettel oder es hinterläßt einen. Das unverschämteste Gesindel der Erde: die Staaten sollten lieber, statt ewig blöde Weltkriege zu führen, eine Million hygienischer Puffs gründen. Für beide Geschlechter. Aber die Phantasie unserer Staatstrotteln reicht nur zum Totschlag.

Jetzt lieg ich schon den dritten Tag. So ein verflixter Bronchialkatarrh. Am End bin auch ich vor lauter Familiensinn demnächst sanft gestorben. Es wär mir peinlich, auf der israelitischen Abteilung des Zentralfriedhofs zu liegen. Und noch dazu müßten wieder andre Leute sich meinetwegen mit Trauer bestreichen … für kürzeste Zeit. Die Begräbnisse soll der Teufel holen! Wirklich wahr: ich geh zu keinem mehr. Nicht einmal bei meiner eigenen Leich geh ich mit. Ich würde zu schlechte Witze dabei machen. Und mich höchstwahrscheinlich taktlos benehmen. Sicher würd ich keinen passenden schwarzen Traueranzug haben. Dann müßt ich mich ins Grab schämen.


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