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Tai-gin

Es war einmal eine Kaiserin in China oder einem anderen Lande, die hieß I-o-sila. Dieweil ihr grausamer Gatte gestorben, ihr Sohn Tai-gin, der einzige männliche Sprosse des einem raschen Absterben verfallenen Geschlechtes, noch klein und sein Zopf noch unentwickelt war, führte sie an seiner Statt die Regierung. Wie sie den Knaben der eingeborenen Verderbnis entziehe, war in den Stunden, da sie bei ihm weilen konnte, ihr einziger Gedanke, und um den Preis eines frühen Todes erlangte sie es, in den Büchern des Schicksals lesen zu dürfen. Und fand, Tai-gin werde nur dann einer langen, glücklichen, mit vielen Kindern gesegneten Ehe an der Seite der ihm beschiedenen Prinzessin von Awa und Pegu genießen, wenn er bis zur Vollendung des zwanzigsten Lebensjahres sich keinem Mädchen beigesellt hätte. Da befahl die fürsorgliche Mutter den Baumeistern, Vorratshäuser am Wege nach Pegu zu errichten, daß ihr Sohn und seine Begleiter auf der Reise dereinst Tee vorfänden und was sonst zu den Bedürfnissen des Körpers gehört. Ihn selbst ließ sie, so hart es sie ankam, fern von sich unter taubstummen Eunuchen aufwachsen und durch die Weisesten des Landes behüten und unterrichten. Als sie ihr Ende herannahen fühlte, war er elf Jahre alt geworden, und da er den Lehrern verständig genug schien, hieß sie ihn vor sich kommen, selbst verschleiert und in Dunkel gehüllt, auf daß er sie nicht sähe. Und schärfte ihm ein, Gemächer, in denen sich Männer und Mädchen, sie oder andere Frauen allein befänden, alsogleich mit geschlossenen Augen zu verlassen, und in dieser Übung zu verharren, bis er, einem solchen Anblicke an Leib und Seele gewachsen, das zwanzigste Lebensjahr vollbracht hätte. Gab auch den Erziehern diese Dinge zu wissen, nahm beherrscht keinen Abschied von dem Knaben, ließ ihn wegführen, und einige Monate nachher, da ihre Zeit erfüllt war, legte sie sich hin und starb. Tai-gin bestieg den Thron, und war lange Zeit nichts, wodurch er sich von seinen Vorgängern und Nachfolgern groß unterschieden hätte. Er schlug die Schlachten seiner Feldherrn, sandte Ehrenkleider an diejenigen, denen solche gebührten, anderen Edlen schenkte er Land und schöne Rosse oder zeichnete sie durch Namen aus, welche, als vom Kaiser stammend, die Träger sternengleich aus der Menge der ewig Namenlosen heraushoben.

Eines Tages, da er die Jagd auf das Nihilam betrieb, war das Pferd, das der Vierzehnjährige ritt, von besonderem Feuer und trug ihn abseits von seinem Gefolge, wobei die Gegend um ihn immer düsterer und feindlicher ward. Nur von fern erklang aus einem Walde tröstlich die Stimme eines Vogels, ruhig und innig wie der Gesang seiner Seele, der manchmal in silbernen Nächten in ihm zu erschallen pflegte, wenn er selig im Bette lag … Dann aber, als er sich dem Walde näherte, ward der Gesang wie die Augen eines verendenden Rehs, es kam wie das Schneiden eines Messers wider einen Stein, und plötzlich stand ein Mann vor ihm mit langem, dichtem Bart, dessen Enden in einen Knoten verknüpft waren, auf dem eine Nachtigall saß und sterbenstraurige Lieder sang. Diesem Manne sagte er mit mehr wichtiger als mutvoller Miene, er sei Tai-gin, der Kaiser von China, worauf der Bärtige gellend zu lachen begann und die Nachtigall erwürgte. Auf Tai-gins Frage, wo er sich befände, kam mit dumpfem Hohn die Antwort: »Dort, wo der Fluß Subur in den Bagradas mündet, fünf Mondmeilen entfernt von den Purpurgebirgen.« Von Flüssen war weit und breit nichts zu sehen. Und als Tai-gin nach dem Manne blickte, war der im Walde verschwunden. Tai-gin, ihm folgend, gelangte schließlich an eine Hütte ohne Dach, aus der auf das Wiehern des Pferdes ein Mädchen hervortrat und dem Pferde Blumen reichte. Ringsum war nichts als Wald, schwarzer Wald, und da Tai-gin nicht die Absicht hatte, schon die Welt zu verlassen, konnte er nicht gut mit geschlossenen Augen aus dem Gemache treten. Das Mädchen genau betrachtend, weil er dergleichen noch nie deutlich gesehen hatte, sprang er vom Rosse und fragte, ob sie nicht auch ihm etwas reichen könne. Sie, seine Sprache nicht verstehend, meinte er habe nach ihrem Namen gefragt, zeigte auf sich und sagte: »Miana«.

In der Folgezeit geschah es des öfteren, daß Tai-gin jenes feurige Roß benützte und sich auf der Jagd verirrte. Miana zu sich in den Palast nehmen wollte er nicht, denn den Gedanken, zur vorgeschriebenen Zeit die ihm beschiedene Prinzessin heimzuführen, hatte er nicht aufgegeben. Menschen entstammend, die gewohnt waren, in allen Dingen die ersten zu scheinen, da er ein gänzlich unerfahrener Jüngling war, las er heimlich in den Büchern, die von der Wollust handeln, bei dem Nahen eines Lehrers gewarnt durch die Zeichen der stummen Eunuchen, die ihm dienten. Und in einer gewissen Reihenfolge vorgehend, ersparte er nichts von dem, was beschrieben stand, Mianen. Bei der großen Anzahl von Menschen, die auf der Erde leben, es für belanglos haltend, ob in einem Wesen, das halb Kind, halb Schlange war, die Schlange mehr oder weniger das Übergewicht erlangte. Von seiner Sprache brachte er ihr nur jene Worte bei, die in den Verzeichnissen der Grammatiker als unpassend verworfen waren, und von den Sitten seines Volkes erfuhr sie nur soviel, daß es häufig Feste feiere, wobei den Männern die Frauen kostbar zu beschenken Pflicht sei. Diese Feste fielen sonderbarerweise mit jenen Malen zusammen, wo Miana eine ihm besonders ans Herz gewachsene Liebkosung in Anwendung gebracht hatte, die unmittelbar zu verlangen, sich noch etwas in Tai-gin schämte. Als aber Miana einmal, da er ihr seine Erkenntlichkeit zu bezeigen vergaß, sich erkundigte, was er ihr zum herannahenden Feste der allgemeinen Freude und Stromüberschwemmung mitbringen werde, erschreckte ihn dieser Mangel an Feingefühl und er ließ sich das nächste Mal durch einen zarten Wind und Regen abhalten, auf die Jagd zu gehen und bei ihr zu erscheinen. Wie er aber mit seinen Weisen trübselig Rat hielt über die wiederholentlichen Einfälle der Leute von Kiru, erfaßte ihn ein Sehnen nach Miana und dieweil er bei hereinbrechender stürmischer Nacht nicht gut ausreiten konnte, seine Begierde aber dennoch stillen wollte, indem er gewissermaßen von der Geliebten redete, reizte es ihn, die Weisen nach der Lage der Purpurgebirge, der Flüsse Subur und Bagradas, sowie der Größe der Mondmeilen auszuforschen. Die andern alle wußten keine Antwort, einer jedoch mit Namen Huong-nu, weit jünger als sie und daher kundiger des Dickichts der Gedanken eines Jünglings, erhob sich mit der Gegenfrage, wo der Kaiser diese Namen gehört habe. Tai-gin erzählte nur von dem Wesen, das eine Nachtigall im Barte trug, aber Huong-nu ahnte sofort die Deutung und daß die Erscheinung vor dem Walde ein Schicksalsmann gewesen, wie auch, daß die traurigen Dinge, die nun kommen würden, schier unabwendbar seien. Um aber doch zu tun, was irgend erdenklich war, und mit der Möglichkeit rechnend, Tai-gin könne vielleicht bis zu der erst in fünf Jahren statthabenden Hochzeit das Gesicht der Geliebten gänzlich vergessen, ließ er die Wege des Kaisers beobachten und das Mädchen verschwand in einem Teiche. Tai-gin, nichts davon wissend, beschied den Vorsteher jenes Bezirkes vor sich und fragte ihn nach dem Aufenthalte Mianens. Der Vorsteher, obgleich ihm zu sprechen verboten war, berichtete, sie sei auf die große Reise gegangen, die alle einmal antreten müssen. Der Kaiser glaubte, Miana habe, um sich zu entsühnen, die »die große Reise« genannte Wallfahrt nach den heiligen Orten angetreten, und plötzlich ein starkes Reinigungsbedürfnis empfindend, schlug er weinend seine Brust und schluchzte, auch er wolle sobald es irgend angehe, diese Reise unternehmen. Und wiewohl ihm Miana vordem nur als Werkzeug der Befriedigung gegolten, die Trennung von dem gewohnten Mädchen, in dem er sich liebte, verstärkte seine Sehnsucht ins Unsägliche. Eine Aufforderung Huong-nus, mit ihm eine von der Insel Zipangu an einem entfernten Orte des Reiches eingetroffene Gauklertruppe zu besuchen, die nur noch kurze Zeit im Lande bleiben würde – dieses Anerbieten schlug er, solcher Art der Zerstreuung sonst keineswegs abhold, mit den düsteren Worten aus: »Alle Dinge währen nur noch kurze Zeit«, und begab sich auf die Wallfahrt. Weder Maueranschläge noch öffentliche Verkündigungen in den heiligen Städten wurden verabsäumt, doch niemand wußte von Miana Nachricht zu geben. So geschah es, daß der Kaiser in seinem ehernen Gram achtlos die Grenzen des ihm beschiedenen Gebietes überschritt, dem entsprechend von einer Räuberschar überfallen, und da er sich nicht zu erkennen gab, in die Sklaverei verkauft wurde. Es wäre ihm erwünscht gewesen, wenn er, wie zur Strafe der an Miana verübten Entwürdigungen, an ein altes Weib verhandelt worden wäre. Dies hätte ihm halb und halb die Gewähr gegeben, bald oder später wieder mit Miana vereinigt zu werden. Aber ein Roßtäuscher war es, der ihn erstand und zur Reinigung der Ställe gebrauchte und verdingte. Weil Tai-gin sich in der Wartung der Pferde nicht auszeichnete, selbst die Aussicht, sich bei guter Führung einen Hund zum Verkaufe mästen zu dürfen, keine Wendung zum Besseren zur Folge hatte, tat ihn sein Herr aus dem Hause, indem er ihn mit Gewinn an einen Gastfreund gegen ein vielversprechendes Tipdschak-Füllen losschlug. Dieser, sich auf eine schwierige Prüfung vorbereitend, hatte des neuen Sklaven nicht genügend acht, und nach vielen Irrfahrten langte Tai-gin wieder in der Hauptstadt seines ehemaligen Reiches an. Hervorzutreten wäre nicht ratsam gewesen, so wartete er also in der Stille den Jahrestag der Thronbesteigung des nunmehrigen Herrschers ab, der wie stets feierlich begangen wurde. Denn an diesem Festtage war durch ein altes Gesetz jedem die Krone des Landes verbürgt, dem es gelang, durch die Schar der Bewaffneten zu brechen, den Kaiser zu töten und sich auf den Thron zu setzen. Jenes Volk nämlich ist nur dem Throne treu, und wer den Thron besitzt, ihm sind sie gehorsam und ergeben.

Als seine Stunde gekommen war, legte Tai-gin ein Kleid an, wie er es ähnlich früher in seinem Palaste zu tragen gepflegt hatte, und begab sich in den Tempel, wo das Fest der Thronbesteigung abgehalten wurde. Und da er in Antlitz und Gestalt allen, Dienern wie Großen, sehr bekannt vorkam, drang er unbehelligt bis an den Sitz des Kaisers vor und hätte durch nichts gehemmt dem ihm merkwürdig gleichenden Herrscher den Dolch in die Brust gestoßen, wenn dieser Kaiser ihm nicht mit einem Ausruf, gemischt aus Freude und Trauer, zu Füßen gefallen wäre. Und war der Mann, angetan mit Tai-gins Gewanden, niemand anderer als der treue Huong-nu, der sich aufopfernd, soweit es möglich war, die Gestalt Tai-gins angenommen hatte, wie auch dessen Würde. Ob vielleicht das Schicksal sich irreführen lasse oder gnädig mit ihm vorlieb nehme.

Ja, er war auch willens gewesen, an Tai-gins Statt sich in den nächsten Tagen der gefahrvollen Brautfahrt nach Pegu zu unterziehen. Allein Tai-gin, als Sklave mißtrauisch geworden, Huong-nu und jenem Bezirksvorsteher einen kunstvoll ausgeheckten Plan unterschiebend, brachte das Verschwinden Mianens, die Wallfahrt und seine Gefangennahme durch die Räuber in Beziehung und Abfolge, und also die beiden als Verräter betrachtend, gab er Auftrag, sie auf die Folter zu spannen. Da der um den Dank betrogene Weise in seinen Schmerzen noch Fassung bewahrte, und nur den vergeblichen Tod Mianens bedauerte, übermannte den Kaiser die Wut über diese ihm feindlich scheinende Tat, von der er endlich gewisse Kunde erhielt. Mit dem einen Geständnis auch alle andern Verbrechen erwiesen wähnend, ließ er durch die ausgesuchtesten Martern und Grausamkeiten ihren Tod hinauszögern und die Gequälten mit den Worten trösten: »Dies alles währt ja nur noch kurze Zeit.«

Der Prinzessin hatte Huong-nu seine Werbung und bevorstehende Abreise ansagen lassen; nun war es Tai-gin, der sich auf den Weg nach Pegu machte, wobei ihm die von seiner Mutter angelegten Vorratshäuser außerordentlich zustatten kamen. Als der Kaiser zum erstenmal die ihm zugedachte Braut sah, wurde von seinen erblaßten Lippen der Schrei »Miana« ausgestoßen. Die Prinzessin von Awa und Pegu, entschlossen, ihre Seele von dem gewesenen Pferdeknechte nicht berühren zu lassen, stand fremd und unnahbar da, er aber lachte gellend und wußte es nun, daß ihm jedes Weib jener Verlorenen furchtbar ähnlich erscheinen würde. Ihn schauderte vor einer Wiederholung des Spiels mit der Ertrunkenen, einem Wesen halb Kind, halb Schlange; ein Grauen und Ekel faßte das Kaiserliche in ihm, in höherem Sinne mit vielen ein unreiner Fluß namens Subur zu sein, der in einen andern, namens Bagradas, sich ergieße. Und eine unendliche Sehnsucht nach den Purpurgebirgen ergriff ihn und nahm ihn hinweg im zwanzigsten Jahre seines Lebens.

 

Als der kleine Eklektiker zum ersten Male erwachte, war die Ursache Andjulka, die ins Zimmer glitt, um die einer Reinigung bedürftigen Kleidungsstücke der Säuberung zuzuführen. Nach wenigen Minuten fuhr er wieder empor, die Dampfpfeife der nahen Walzwerke gellte sieben Uhr, und nun war auch schon das Automobil des arbeitsfreudigen Fabriksbesitzers hörbar – seines Vaters, der aus mancherlei Gründen getrennt von der Mutter weit draußen in einer Villa lebte. Aber der winzige Zeitraum, der Andjulka und die Automobilhupe, diese beiden Ermordungen seines Halbschlafs auseinanderhielt, die wenigen Sekunden waren für seine des Dichtens beflissene Seele hinlänglich gewesen, im Traume ein Märchen aufzubauen: aus den Zeitungsberichten über den vor kurzem erfolgten Tod chinesischer Gewalthaber, aus dem Ärger über die Störung durch das Dienstmädchen und aus weiter zurückliegenden Ereignissen seines Lebens.

Noch während er schnell die gebräuchlichen Abwaschungen verrichtete, kam ihm freudig zu Bewußtsein, daß es ihm infolge der morgendlichen Stunde seiner Vision geglückt war, endlich einer der vielen Traumdichtungen habhaft zu werden, die sein Geist und Wunsch im Schlaf ersann, da krankheitshalber auf den letzten Augenblick verschobene Studien eine schriftstellerische Betätigung in mehr wachem Zustande unmöglich machten. War solcher Fund ein mit Dankbarkeit aufzunehmendes Geschenk des Schicksals, die seinem Traume beigemengte Moral, das über ihn gehaltene Gericht erfüllte ihn, der sich bis dahin für ein gewissenlos den Impulsen nachgehendes Subjekt gehalten hatte, mit Grimm und Bitterkeit. Auf das Sofa hingeworfen, vergegenwärtigte er sich noch einmal die ihm gewordene Offenbarung seines Seins und Wesens. Den ihm unangenehmen Zwillingsbruder, selbst den gütigen Papa hatte er im Traume feig unterschlagen, erschlagen, sich selbst zum einzigen Erben väterlicher Reichtümer gemacht. Wenn die Mutter des mongolischen Herrschers für den Sohn in den frühen Tod ging – kein Zweifel, dies war nichts als eine ironische Inversion und Umdrehung des wirklichen Sachverhaltes, wie sie ihm bei Licht und Schreibtisch nicht besser hätte gelingen können. Denn, abgesehen von den ostasiatischen Verhältnissen, daß seine eigene, mehr als lebenslustige Mutter um seinetwillen das geringste Opfer gebracht hätte, daran war doch nicht zu denken. Ihm allerdings predigte sie Entsagung, sein übernächtiges Aussehen nach angeblichen Zusammenkünften mit Schulgenossen bot ihr willkommenen Anlaß zu durch ihre Länge ausgezeichneten Reden und einer empfindlichen Reduktion seines Taschengeldes – sie selbst aber flog nach wie vor auf jedem Ball von Mann zu Mann. Unerklärlich blieb bei seiner Abneigung gegen sie das leis anklingende Jokastemotiv. Nun ja: jeder Jüngling erschlug noch den Vater, entthronte den Kronos und heiratete die Mutter, das Weib, von neuem. Alexander und Cäsar hatten ähnliches geträumt. Größenwahn? O nein! Im Schlafe war er Kaiser gewesen, karge und späte Erfüllung der Sehnsucht seiner Knabenjahre, feiges und am Tage ersticktes Aufbäumen seiner Wünsche dem älteren, ungebildet-starkknochigen Bruder gegenüber. Der die Fabrik erben sollte und dem deswegen die Mama immerfort schmeichelte und lieb tat, der sich Damen vom Ballett halten durfte, während er sich mit einem freilich hübschen Dienstmädchen begnügen mußte. Und auch die würde ihm der Bruder eines Tages wegnehmen, wenn er nicht zuvorkam und sie scheinbar freiwillig aufgab … Im Märchen der Seele ein harter und grausamer Tyrann gewesen zu sein, freute ihn immerhin; geradezu bedenklich jedoch war der Raum, der ihm für seine Herrschaft angewiesen worden war. China! Noch dazu, wo er die Grenzen des ihm beschiedenen Landes hatte überschreiten müssen und gefangen genommen ward. Sollte es ihm also wirklich bestimmt sein, von Wärtern umgeben sein Dasein als Kaiser von China zu beschließen? Erst unlängst hatte ihm der Doktor Selentiner geraten, von Schlafmitteln und Mädchen einen vorsichtigeren Gebrauch zu machen – außer er habe die Absicht, durch kommende Geisteskrankheit sich zu steigern, an Kraft, Schönheit und Eigenart des Stiles zu gewinnen, wie es ein an sich harmloser deutscher Professor unbewußt getan bis zu großartigem Rollen biblisch-monotoner Rhapsodien … Vielleicht kam es so. Dieses verfluchte Veronal. Und Infektionsmöglichkeiten waren bei Andjulka ebensowenig ausgeschlossen wie bei jedem andern Weib oder Trinkglas! Erst Erinnerung der Namen, die den handelnden Personen und Sachen gegeben worden waren, rief wieder bei dem Abergläubischen einige Heiterkeit hervor. Tai-gin, so hieß seiner Meinung nach der Regent, unter dem eine vielbändige und noch heute wertvolle Topographie Chinas begonnen, und infolge des hohen Alters, das dieser Herrscher erreichte, auch vollendet wurde. Möglicherweise war aber der Name von Gin oder gar dem griechischen Winde Kataigis abzuleiten.

Huong-nu – die altchinesische Bezeichnung der Hunnen, auf deren Verfolgung der größte chinesische Feldherr nach spielender Niederwerfung der Parther im Geburtsjahr Cäsars mit übermächtigem Heere bis an den Kaspisee vorgedrungen, an dessen Befahrung und folgender Vernichtung der gesamten abendländischen Kultur ihn nur der besiegten Parther lügnerische Aussage über die Gefahren dieses angeblichen Weltmeeres gehindert hatten. Ja, er hatte im Traume reiches Wissen entfaltet, eine einfache Handlung ein bißchen verschlungen, und sich auch sonst recht kultiviert benommen. Subur und Bagradas, zwei zwar nicht im Periplus des Hanno, aber jedenfalls im Sallust und Juba II erwähnte numidische Flüsse, begingen in Wirklichkeit die Feinheit, hatten den subtilen Einfall, niemals ineinander zu münden, in menschlicher Einsamkeit verröchelten sie in der Wüste … Kiru – dieses Wort war gebildet nach dem Paradigma der von dem Vormann einer früheren schlesischen Schule als Romanschauplatz gewählten Länder Awa und Pegu. Die Hauptsache aber blieb doch, daß Miana um seinetwillen, er um ihretwillen hatte in den Tod gehen müssen. Arme Andjulka! Und er trug Schuld, hätte warten sollen, bis ihm Verbindung mit einer in jeglicher Hinsicht Ebenbürtigen möglich gewesen. Ein armes Dienstmädchen hatte er schurkisch um ihr einziges Gut gebracht, betört hatte er sie – und nun war es aus: im Traum hatte er sie sterben lassen … Gewiß, auch sie stand vielleicht nicht ganz makellos da. Oder schien es ihm nur so, als ob sie die Hausbackenheiten seines rotwangigen Bruders seinen Intentionen wenn nicht bereits vorzöge, doch irgend einmal vorziehen würde? Wie er diesen Normalidioten, diesen Neger im vorhinein haßte! Eifersucht? Um eines Stubenmädchens willen? Das fehlte ihm noch! Wie tief würde er noch sinken! Gestern hatte er in Erkenntnisfreude die Eifersucht definiert als schlechtes Gewissen, als vernachlässigte Pflichterfüllung, die der Selbsterhaltungstrieb zur Anklage gegen die Partnerin wandelt … und heute, heute empfand er genau so wie die andern, wie diese Haustiere ihrer Instinkte. Weg mit der Andjulka: er kannte jede ihrer Bewegungen. Manchmal, spielerisch warf sie sich von selbst behend auf die Ottomane, um dann geschickt zu entrinnen … Ein Haschen und Fangen und Jagen, ein Versteckenspielen durch die ganze Wohnung, bis sie unter Küssen sich gab … (sich schämig zur Seite werfend und Platz machend auf dem Sofa …) Und wenn er einmal mit ihr ins Hotel ging, ließ sie es sich dienstmädchenhaft nicht nehmen, nachher die Brosamen aufzuklauben und das Zimmer in Ordnung zu bringen. Hotel? Gut, daß er sich erinnerte! Ein Absteigquartier hatte er nicht, weil der Onkel, den er sonst mit dem Ersuchen um etwas Kleingeld begnadete, unauffindbar verreist war, und er sonst keinen zahlungsfähigen Freund besaß. Weswegen er auch der Andjulka den einfachen Schmuck, den er ihr für Ostern versprochen, noch nicht gebracht hatte … Bislang war er mit keinem Hotel zufrieden gewesen, Eile aber tat not. Denn in den nächsten Tagen schon sollte die Jugendfreundin seiner Mutter samt im Rufe großer Schönheit stehender Tochter zum Besuche eintreffen. Er kannte diese Tochter zwar absolut nicht, dafür kannte er sich desto besser, ja geradezu ausgezeichnet. Verführen … das ging bei ihm blitzschnell, festhalten allerdings, das war nicht seine Sache … Gelegentlich mußte er einmal im Adressenverzeichnis nachsehen und eine für ein besseres Mädchen passende Räumlichkeit ausfindig machen. Andjulka? Nun eine kleine Bifurkation würde ihm gewiß nicht schaden … Bigamie, das existierte vorderhand nur für Verheiratete … Was? schon neun Uhr? Da kam er nicht mehr zurecht zu seinem Korrepetitor. Endlich einmal Gelegenheit, dem gesundheitsschädlichen Jusstudium zu entrinnen, karge Stunden nicht der I. Staatsprüfung, sondern der Muse zu weihen, und den glücklich gefangenen Traum in Spiritus zu setzen, d. h. ins Tagebuch zu stenographieren. Und er setzte sich hin, schrieb, schrieb, bis sein Magen sich erhob, auf den Taster drückte und der eintretenden Miana-Andjulka erklärte: »Ein Glas Obers, Butterbrot mit Honig, und dann, wenn es fertig ist, Champignons mit Ei …« Warum sah sie ihn so eigentümlich an? Ah, die Mama hatte wieder einmal ihren häuslichen Tag gehabt, war mit der Köchin auf den Markt gegangen – und er mit der Kleinen allein zu Haus. Nein, meine liebe Andjulka, das war einmal. Es war einmal … Jetzt würden noch Tränen in ihren Augen glitzern, bald aber … Weg mit ihr, bevor der Bruder … Aus war's. Nur nicht weichherzig sein. So etwas konnte ihm wirklich nur im Schlafe einfallen. Im Traum war er um ihretwillen gestorben und sonst moralisch gewesen. An dem einen Male hatte er genug. Wenn es ihr nicht recht war: durch Wien floß die Donau. Siebzehn Jahr war sie alt … Und während er noch darüber sann, ob es nicht richtiger Kipdschakpferd heißen solle und nicht Tipdschakpferd, hörte er schon, wie er sprach: »Und dann, Andjulenka, sind Sie so gut und gehen hinüber in die Fabrik und holen mir das Adressenverzeichnis.«


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