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Wudandermeer

Schlaflose Nacht. Ich muß ans Fenster. Am grau siechen Nachthimmel flammt in Agonie eine »Nova« empor, ein funkelneuer Stern: es starb ein Gestirn. Sein jäh aufsterbendes, blitzkrank niedersterbendes Licht blinzelt sich blind. Jahrzehnte, Jahrhunderte zu spät nehmen wir Erdpassanten es wahr. Unartige Kinder, Gassenjungen wiesen schadenfroh auf den himmlischen Leuchtkäfer, mit dem »Etsch« boshafter Zeigefinger, die sich bei Erwachsenen ins Universum zu Fernrohren verlängern. Armer Stern! Ach, selbst wenn wir wollten, wir könnten ja nicht helfen, wir sind für jede Hilfe zu klein – winzige Kaninchen, machtlos mitten im Feuerwerk der Weltsysteme. Die Himmelsnacht spricht: irgendeine dumpfe, dunkle Sackgasse der Milchstraße wurde von einer Sonnenexplosion unsicher gemacht. Für Äonen ging eine Sonne unter, ging zugrund nebst ihrem Abfall: Planeten und deren hündisch umläufigen Monden.

Dennoch aber, unbelehrbar, ergötzt sich menschliche Einbildung an dem kindischen Einfall, Gott könne den maßlos schäbigen, kleinen Sonnenirrtum »Erde« so blutig ernst genommen haben, ihnen – diesen unverbesserlichen Mördern seinen einzigen Sohn zur Kreuzigung und ihnen beliebigen Läuterung ihrer Seelen anzuvertrauen.

Trotz aller Dämonologie: ich bin nicht klüger. Aber ich schäm mich wenigstens nicht meines Beziehungswahns, ich fürcht keinerlei Spott, ich öffne mein Visier und sag ruhig den Aberglauben, der mich drückt. Ich wurde am 13. Dezember geboren. An meine Krippe kamen nicht die heiligen drei Könige, sondern verwunschen drei Onkel in Knoppern, alten Kleidern und Leder. Das furchtbarste Jugenderlebnis: Ich wagte es, mich einige Tage vor Weihnachten in die Welt zu drängen, dem gekreuzigten Zwingherrn der Erde den Vortritt nicht zu lassen. Seither geht es mir schlecht. Nicht nur, daß ich stets zu Weihnachten unbeschenkt, leer ausging, üble Gymnasialzensuren, die mir auf den Geburtstag fielen, mir immer die kargen Ferien versäuerten! Kein Mittel blieb unversucht. Hatt ich einmal den Professoren unwillkürlich, instinktiv das Maul gestopft, ward mir eine Krankheit in die Erholungspause geschickt und zerrte mich aus Luftschlössern nieder: aus der Ruh in das Leben des Fiebers. Weihnächtlich durchwanderte ich alle Krankheiten, besah mir die Diphtherie, beroch Scharlach und Blattern – oh, der grundgütige Rabbi Jehauschua, dieser höchste Abtrünnige seines Volkes sandte mir ein pestilenzialisches Fahrscheinheft, und ich fuhr und schaute rechts die Greuel der Schule und des Heims, links die Genesung: die sieben Seligkeiten des Nichtseins. Und blieb mit der letzten Anspannung meines Kinnes und Willens. Er winkte mich zu sich in seinen billigen Zauberhimmel, doch mein kindliches Gemüt verkroch sich ins Nachthemd der Träume, in meiner mißtrauischen Unschuld zitiert ich ihn vor mich. Ich war damals zwölf Jahr alt, von gläubigen Zweifeln sehr geplagt – ihnen ein Ende zu setzen, bat, beschwor ich Moses, Christus und Mohammed, mir zu erscheinen. Wer von ihnen in meinen Schlaf kam, an den wollt ich glauben. Moses und Mohammed – diese Bazillen mochten ihre Virulenz bereits verloren haben oder ich ihrer Inkubation keine Chancen bieten, jedenfalls: sie starteten nicht. Der dritte hatte Lust zu kommen, er wäre gern angetreten, zu mir niedergestiegen. Es war ja von je seine Art, alle Menschen an Demut und Leidensfähigkeit zu besiegen. Er ließ sich kreuzigen, vom Schmerzkreuz aus die Menschheit desto sicherer zu beherrschen. Meine Nacht war hart und schwer, etwas wollte sich zu mir bewegen und konnte nicht. Er konnte nicht. Ein anderer, Größerer hinderte ihn – deckte den Mann, wie die Fußballspieler sagen. Wer damals den Nazarener von mir abhielt, das vermag ich nicht auszusprechen. Ich weiß den kommenden Helfer nicht, aber ich ahne sein Nahen, witter ihn mit allen Fibern meines vergehenden Leibes. Nur die Elemente dürfen sprechen, ich bin eine zitternde Magnetnadel, gebe an, was ich kann, bevor mich eine ungeheure Hand zertrümmert.

Mich frißt die Wut, ich ärgere mich schwarz darüber, daß mich Gott nicht zum Gotte schuf. Denn alle Kraft – menschliche, tierische – verbraust unnütz, und der schönste, begabteste Narwal erreicht nicht mit seinem Fluidum den Stern Perseus.

Und doch, ich wär ein schlechter Halbgott geworden, der ich ein schwacher Mensch bin.

 

Ich floh aus der Nacht in einen ärmlichen Wirtshausgarten des Praters, saß da, bewunderte die dem Leben verschwägerte Glückseligkeit eines selbstzufriedenen Schmalzbarts, der fetter Hand seine Salami verzehrte. Eines blassen Jungen verwaschenes, käsweiß verwunschenes Kindergesicht, von einem hausbrotgefüllten Tragkorb mit sich geführt, der Brot-Schani trieb vorbei, ward von sämtlichen Gästen bejaht, angerufen, seine Ware entschwindet.

Aber ich will kein Scherzel, keine Beschäftigung, kein Fortfristen mehr, kein dumpfes Gebäck. Als der Hungerknabe, die verfrorenen Füße strumpflos in zerrissenen Schuhen, an mich kam, rief ich dem Erstarrenden, Erstarrten zu: »Schani, Tod!« Die Lebensverbündeten, die Schmalzbärte, die ehernen Gäste, nur von Bierkrügeln eiteln Schaum schwerfällig wegwischend, sind befremdet. Ich werde nicht bedient.

Ich erhebe mich, verlasse das Lokal.

Zu meinem alten Bronchialkatarrh, der sich gewöhnlich im September meldet und erst im Juni aussteigt, trat Fieber. Zuerst lief ich auf den krummen Traumstraßen als Urlauber umher … Matrose … Der eigensinnig rote Bart eines bucklig zionistischen Kapitäns stellte mich wegen unerlaubt buddhistischen Aussehens … verzauberte mich in einen Beiwagenkondukteur der Milchstraßenbahn. Aber ich avancierte … besaß sofort ein ungeheures Radiumbergwerk auf dem Orion. Die irdische Steuerbehörde müßte dortamts Nachforschungen anstellen. Eh es zu spät ist.

 

Ich kenne keinen Menschen, auf dessen chemische Zusammensetzung Anblick und Gedenken meiner jene Wirkung ausübt, die man mit dem Namen Feindschaft belegt. Wenn ich aber eines so absoluten, unbedingten Gegners teilhaftig wär, ich würd ihm nie wünschen, solche Tage der Todesangst, des Wahnsinns und des Ärgers abzusitzen, wie ich sie nun entlebe, hinleide. Ich verdämmerte ahnungslos in dieser kalten, hundeschnäuzigen Stadt. Ich habe geschlemmt und gehungert, meine einzige Sorge war meine Nahrung, kleine Wollust, wo und was ich essen, nehmen solle. So entschlief ich, und als ich erwachte, war meine Kraft nicht mehr in mir. Wär mein Zorn bei mir gewesen, ich hätt enden müssen. Ich möcht mich in die Nase beißen vor Wut. Die letzte Tat ist gegen mich geschehn, das letzte Erleiden. Ich wurde von Traumdämonen zum Menschenmolekül degradiert. Den Karpfen aber begreift nicht leicht einer, sondern man ißt ihn.

Was mir an »erquicklichen« Dingen für kurze Zeit noch übrigbleibt, das Vermögen und die Fähigkeit, wenn es heiß ist, viele Gläser »Soda mit Zitron« zu trinken, wenn es hingegen kalt ist, einigen Punsch – die regelmäßige oder ungeregelte Füllung wie Entleerung des Magens macht mir verdammt wenig Spaß. Rhythmische Senkungen und Hebungen einem Mädchenleib gegenüber, ja selbst die freiesten, wildesten, feurigsten Rhythmen, exekutiert an solchem Objekt, helfen über repertoirelose Augenblicke hinweg. Liebe? Niemals fühl ich mich zutiefst verkettet. Ich fühl es nie. Ich peif auf die Erde. Der Rest? Wir toden. Ich glaube an das ewige Toden. Und doch: es ist an der Zeit, dem Tod ins Gesicht zu speien. Aber die matten Wächter des Lebens, die Gelehrten irren taumelnd, fast bewußtlos, von der schwarzen Faust des Todes immer wieder vor die schwache verstaatlichte Stirn geschlagen, nach ihren kläglichen Waffen umher. Und noch nicht ist der Boxerkönig Herakles II. erstanden, der den Neger »Tod« zum Entscheidungskampf um die Weltmeisterschaft herausfordert, uns aus stumpfem Maultiersein zu ewigem Leben erlöst. Dunkel ist um uns, in uns. Wir können uns am Leben, am Tod nicht rächen. Das Dorf Eipeldau, das mich mit der Welt entzweite: gebar, wird bestehn. Wir müssen untergehn. Wo find ich den Todesmörder?! Ich werd ihn nicht mehr erleben. Meine Lider senken sich schlafbereit.

Ach, wozu red ich von toten Dingen, lasse aufleben, was mir das Herz verbrüht?! Ich weiß zu viel, bin nur Erinnerung. Wenn neues Erleben kommt, ist es neues Erleiden, neue Schuld. Das Mädchen, das ich wollte, liebte, ersehnte, fiel einem andern; Kerouen, mein einziger Freund, ging – ohne zu grüßen. Soll auch ich gehn? Mich bestatten unter den Zypressen des Vergessens?

Millionen sterben alljährlich in Indien und Rußland hilflos an Hungersnot, Pest und Cholera. Die Tuberkulose frißt in Bergwerken und Fabriken die magern Arbeiter. O Mord ohne Ende, bitter blutender Schweiß, vergossen für die unnützen, feisten, unsterblichen Geldbäuche!

Für mich seh ich nichts als Krankheit und Tod. Zur Strafe dafür, daß ich nur träum und nichts tu. Ein mysteriöses Gift wird mich langsam ausrotten. Ich ahn es: ich werd an einer sonderbaren -itis sterben, einer Seuche, die nur auf dem Orion gebräuchlich ist, während unsere Kamele von Ärzten … Hofrat Guido Kließ Edler von Klistier etwa … nichts konstatieren dürften als rasendes Wachstum der Nasenhaare und Zehennägel.

Aufgerieben, zerbröselt von der Monotonie des Daseins, seit Jahren trug mich nur die kindliche Hoffnung, es würden eines Tages sich irgendwo Abgründe auftun und ein seltsames Geschlecht aus dem Innern der Erde hervorsteigen. Daß ich lebte, war mir nicht Mirakel genug, ich verzehrte mich in Sehnsucht nach dem andern, Nichtvorhandnen. Daß man fieberte, die Pole zu entdecken, war mir unfaßlich, daß die Menschen es nicht über sich gewannen, ein unnahbar nie betretenes, geheiligt unphotographiertes Territorium bestehn zu lassen, eine Reservation vor sich, war mir Dokument ihrer Torheit. Ich grämte mich sehr, als man in Innerafrika die allerletzten neuen Tiere: das Okapi, Zwergmenschen und Riesengorillas fand. Und nichts verargte ich dem Schicksal mehr, als daß es mir nicht vergönnt ist, mehrere geologische Perioden durchzuleben.

Stunden der Reue! Auf den Knien möchte man alle nahenden Wege abkriechen, und seien sie mit Dornen besät, mit Steinen bestreut, Schlammes voll. Die meisten schließen bald mit sich Frieden, diese Federbettenseelen, ziehen innerlich sozusagen wieder die Glacéhandschuhe an, gönnen sich eine Zigarette und spielen Tarock. Ich werde mich nie mit mir versöhnen. Ich bin meiner überdrüssig. Ich hasse mich wie ein Ehepaar, das sich gesättigt wiederkäut. Unbändig möcht ich entlaufen dem stierenden Ich in die Wildnis des Wahnsinns.

Wenn die Erde ihre Eingeweide auftäte, zutage träten vor Jahrtausenden verschüttete Riesenstädte Chinas, unsere Missionare könnten etwas lernen. Denn solang ihre Heiligenbildchen keine schlitzäugigen Gelben weisen werden, Christus keinen Zopf tragen wird, wie er auf jenen kostbaren Goldschalen zu sehen war, die Äonen vor »Christi Geburt« ein Kaiser von China beim Herannahen eines Fremdvolkes, etwa der Huong-nu, als heiligstes Gut der Nation dem schlammigen Jang-Tse anvertraute, solang wird die Mehrzahl der Christen ihrer Rasse nach nicht aus Chinesen bestehn.

Unablässig wird es mich reuen, keinen Magier gefragt zu haben, was für Bewandtnis es mit jenem Fund hat, den der Archäologe Dr. Max Uhle in Peru machte. Auf seiner sub auspiciis der Mrs. Phoebe Hearst für das Museum der Universität von Kalifornien unternommenen Expedition. In einem Patiohof im Tale Pisco. Keiner, dem es um den Genuß zu tun ist, sich angesichts ewiger Wiederkehr der gleichen Dämonen, Renatusse und Christoiden hie und da als zweitklassiges Geschöpf zu fühlen, keiner verabsäume, in dem erwähnten Museum einen unscheinbaren, mehrere Jahrtausende alten Kupfermeißel zu besichtigen. Der Meißel ist oben mit der Zeichnung eines an drei Pfählen gekreuzigten Mannes verziert. Auf der Rückseite die Darstellung jener Teile der Hände und Füße, die noch an den Pfählen befestigt waren. Und eine Schar Geier schwebt darüber.

 

Mich verfolgt ein Gott. Maraboso, der Vater der Menschen und Schildkröten. Ihm helfen Eremchangala und Juruwindu. Meine Feinderln. Ich kann mich nicht gegen die Übermacht wehren. Begraben sind wir ja immer, eingeschlossen in einen zerfallenden Leib, den wir nicht zu entlassen vermögen, eingesperrt vor allem, verwiesen und gebannt, ob lebend oder tot, an die Oberfläche der Erde. Ich bin nicht mit antikem Ernstnehmen Vogelflugs und Hahnenkrahts behaftet. Aber – heut auf einem Spaziergang hört ich einen Brummkäfer so dröhnend zu Erde fliegen, schlagen, daß ich erschrak. Ich trat näher und erschrak abermals, wie nie. Aus dem großen, schwarzen, leer gefressenen Käfer krochen viele, viele, kleine, weiße Madengäste, bis der Käfer tot dalag. Die kleinen Maden krochen ihre neuen Wege – nach andern Käfern, Welten. Ich fürcht mich vor Eindringlingen. Besonders, wenn sie Wudandermeer heißen. Helft! Helft!

Ich bin nicht so eigensinnig, eine flüchtige Ahnung, ein tiefes Wissen der inneren Stimme: des höhern Ich, krampfhaft wahrmachen zu wollen. Auch hab ich nie eines unserer vortrefflichen Haarwuchsmittel verwendet. Ob die merkwürdigen Auswüchse meines Körpers mir vom Orion gesandte Geheimzeichen meiner Berufung oder einer dort herrschenden Krankheit sind, vermeß ich mich nicht zu entscheiden. Aber meine Nasenhaare besitzen augenblicklich eine nicht menschliche Länge, die Nägel meiner Füße ebenfalls!

Da nun einmal die höllischen Heerscharen des Himmels losgelassen sind wider mich, angesichts ihres gewalttätigen Einbruchs in eine inferiore Welt ungewiß, auch nur den nächsten Tag noch zu erleben, die über mich verhängten Leiden nicht unnötig zu verschärfen – wie wär es, wenn ich versuchte, mit den hängenden Gärten irgendeiner Semiramis Bekanntschaft zu machen und der Natur meinen Tribut zu zahlen?

Jedoch: Unsterne verfolgen mich auch hier. Jedes halbwegs flügge Mädchen ist bereits vergeben. Man muß sich die Damen wohl schon im Winter reservieren. Sie sind sehr kühl zu mir. Als ahnten sie, daß ich zu jenen Bedauernswerten, Ausgeschlossenen gehöre, die mit jedem Nebenmenschen innerlich immer »per Sie« sind, deren »Du« der Freundschaft und Liebe nur eine erotische Eintagslüge ist, geboren aus dem Grauen vor der Einsamkeit und aus der klebrigen Sehnsucht nach tierischer Wärme. Isolation ist schon das Richtige für mich.

Wie rasch werd ich der chemischen Zusammensetzung einer Geliebten überdrüssig! Wie satt bin ich beim ersten Gruß. Nicht aus Blasiertheit, o nein, sondern mit einer so penetranten Kenntnis aller Dinge zur Welt gekommen, daß mir alles Kommende längst zur Vergangenheit, zum Erlebnis geworden ist. Andere treiben ab auf dem Meer eines kleinen Sees, und nicht im Schlaf noch im Sturm – bei klarem Himmel kommt ihnen der Einfall, das Schiff werde scheitern, ihre innigst Geliebte ertrinken, sie aber würden sich retten und eine andere, noch nie Gesehene.

Wenn ich eine Unbekannte einleitend grüße, feile ich bereits an der Stilisierung des Abschiedsbriefes. Und wenn ich ihr zum erstenmal in Liebe nahe, hör ich die Glocken unsern Urenkeln zu Grab läuten. All dies ist von Übel. Küsse führen gern infolge einer gewissen Filiation der Ereignisse zum Kindesmord. Die Natur ist göttlich. Der Mensch sehr menschlich.

Der Mann, das braune Geschöpf, ging in den Garten und wurde wild. Wehe der Jungfrau! Der Regen, der grausame Wasserfall hört nicht mehr auf. Ich bin gegangen den schlüpfrigen Weg. Ich muß mich verbergen. Das Fenster mit Gittern abgeschnürt gegen die Welt.

Ich sitz wie auf Nadeln und weiß nicht warum. Am liebsten möcht ich heulen. Vielleicht wird es helfen, wenn ich die verfluchte Feder ein wenig hinleg und wein. Vor dem Einschlafen wimmer ich: Bitte, bitte sterben! Bitte, bitte, lieber Gott! Ich habe nichts auf dieser Welt als über mir das Sternenzelt.

Zergänglich Gut besitz ich nicht. Nicht einmal eine Wärmstube hab ich, ich erfrier vor innerem Winter; Schlaf, Tod – nur das kann mich bergen. Gern möcht ich mich vergraben in einem Waldwinkel oder am Sternsee, dem tiefen. Aber ich hab Angst vor den grünen Teufeln des Waldes, und die Berge tragen so wirre Wälderlocken. Am liebsten möcht ich im Ostwind Schellkönig sein.

Mein Hauptfeind bin ich. Ich bin nicht sonderlich des Dichtens beflissen. Ich schreib nur bei sehr schlechtem Wetter. Wenn es schön ist, geh ich lieber spazieren. Ich hab große Schulden: ich gab Gott nicht zurück, was er mir schenkte.

Ich hab mit meinem Pfund nicht gewuchert, sondern geknausert. Ich hab in den Tag gelebt, statt zu arbeiten – große Epen, beispielsweise religiöse Epen zu schreiben. Immerhin: an Nobelpreisen fehlt es mir nicht. Mir blieb nichts erspart.

Jetzt arbeite ich an einem sehr phantastischen Stück. Auftreten der böse Geist Primsenkas und die gute Fee Blunzen. Es behandelt besonders die Emanzipation der Tiere. Schon schien endlich die Vernichtung des Menschengeschlechts gewiß, meine eigne Spannung war aufs höchste gestiegen, da – angesteckt durch den Aufruhr der Tiere; ärgerlich bislang unbeachtet, unbedankt gefront zu haben – entfaltet mein Radiergummi das Banner der Revolution, erklärt sich unabhängig von mir und entfernt eigenmächtig jedes Wort. Sein wider die Freiheit der Wudandermeere gerichteter Eigendünkel konnte nicht ertragen, daß mein Märchen sich in ganz anderer Richtung entwickelte, als er vermutet hatte. Ich bin zwar gegen das Selbstverstümmelungsrecht der Völker, aber wir werden diese Sache doch ritterlich austragen müssen.

Unter dem Namen Wudandermeer erlebte ich auch sonst viel Abenteuer. Mit sieben Stiefeln wurde nach mir geworfen. In der Stille jammert laut die Ölsardille.

Hie und da stehn meine Nasenhaare in Flammen.

Knaben schluchzen im Eis. Die Mutter wartet am Abgrund.

Es ist Viertel sieben. Daraus ist nichts zu entnehmen.

Warum seid ihr so gelb, o Blätter?

Ich beginn mich zu hintersinnen. Und meine Hand ist leer wie sie immer war. Ich bin sehr umringt. Mich krallt die Sorge. Sie reitet einher. Wudandermeer! Leidenschaft hält mich nicht mehr. Ich ertrink im Wudandermeer. Ich erstick im Wirrwarr trübsinnigen Schlafs. Eine Abwechslung wär: In Gelsenkirzen gibt es ein schönes Posthaus: ich muß einmal hingehn, von dort aus telegraphieren. Nur trau ich mich nicht mehr aus dem Zimmer. Von den alten Häusern stürzt die Gräser der scharfe Dachwind.

Mein Bauch ist eine Nachtigall. Unter einer Eiche sitzt ein Praterkater und scharrt Antwort.

Ich wär froh, hundert Milliardonen Kronen gäb ich, wenn dieser stumpfe Rausch endlich wegflög. Aber das können nur die Maronibrater im Frühling. Sie spannen ihre Arme aus und fliegen mit ihren Öfen weg, weit fort … in kältere Länder … und die Schwalben dürfen dafür wiederkommen.

 

Ich bin nicht gerad ein Wangenwunder. Meine Bartstoppeln heißen Sirius und Rasirius. Es sind siamesische Illinge. Auf dem Orion. Bei einer Volksabstimmung stellte es sich heraus, daß sie ursprünglich alle Wudandermeer heißen und sich schrecklich vor dem Rasiermesser fürchten. Meine Kehle auch.

Zum Raseur mag ich nicht. Wenn ich bei ihm sitz, kommt immer, Feierabend machend, lüstern sich zu verschönern, struppigen Waldbarts ein christlichsozialdemokratischer Arbeiter und sagt mit giergezückten Fingern zum Raseur: »Lassen's mi für zwei Kreuzer ins Brillantinflascherl einitunken!« Das nimmt mir allen Gusto.

Der Spiegel fixiert mich. Er betrachtet mein himmelanstarrendes Haar, das über die Faltenstirn frühwelk, so grau hereinbrach mit diesem dreißigsten Jahr. Der Spiegel trägt nicht die Schuld, der hat Generationen von Wodianern – sie können auch plötzlich Wudandermeer heißen – in der Wiege strampeln und etwas stiller auf der raschen Bahre liegen sehn und jedem in durchaus zuverlässiger Art gesagt, wie spät es ist.

Nichtsdestoweniger ärger ich mich wild über dies treue Stück Materie, das mich langen Atems überdauern wird, unerblindet mir die Unreinheiten meines zeitzerriebenen Geistes weist: die weiß angelaufenen Speere meiner Haare. Ich ertrag im Dunkeln den Spiegel nicht länger; aber ich zertrümmer ihn nicht, weil mich das Licht rührt. Schadenfroh laß ich ihn allein in meinem verwunschenen Zimmer und geh fort. Adieu! Regen: ein öder Wasserverein tritt hoch über dem Straßenpflaster zusammen. Aber er verändert sich. Schnee fällt im September. Wenn es den Monat überhaupt gibt! Die Schneeschaufler schlagen mit den Fäustlingen nach Donaumücken, die ihnen die roten Nasen bedrängen. Patschen die Hände zusammen, um sich zu wärmen. Mich schluckte das Café »Ilion«, wo in den Ecken immer ein paar Rennmenschen menscheln. »Kellner, ein Glüh-Eis!« Nicht zu haben! Trauer in der Mauer. »Dann bringen's zwei Eier im Glas.« Den Göttern Lob und Preis, dem Helden Eierspeis. Aber das blutige Gewieher der trojanischen Pferdejuden vertrieb mich aus Ilion.

Ich vertrage nicht die spitzfindige Synagogenluft dieses Roßbeisels! Die Worte mir persönlich unbekannter, nah hockender und doch weltweit entfernter Intellektbestien fallen einem dort wie Fliegen in die Melange, die man dann nicht austrinken kann. Lauter Flohbeutel!

Ich spür eine seltsame Blutleere im Schädel. Die alte Stirnwunde juckt; erinnert mich an die kuriose Prügelei mit dem närrischen Studenten Siebenstiefel, der einmal eine Bemerkung über ein rothaariges Sternbild Beteigeuze auf seine Braut bezog, eine verbrillte Mathematikerin.

Auf einem winterkahlen Baum vor der Universität schwirrt es in kleinen Flügen von Ast zu Ast, zweigauf, zweigab, um nicht zu erfrieren. Glatt verschluckbare weiße Flaumenbälle: Spatzen, die in Scharen über den Baum versammelt waren. Hie und da saust, baumerschütternd, eine Elektrische vorbei; die in sich verkrochenen Klümpchen, wärmehungernd, versuchen, am Stamm kleben zu bleiben. Ich fühl mit ihnen kein Mitleid. Ich weiß: in den Tierchen schwingen die Seelen ungeborener oder abgeschiedener Mädchen, denen es bisher mißlang, in die Universität zu laufen, und die nun hier, nah dem Wissensherd, sich zur nächsten Wiedergeburt anstellen.

Ich hasse Frauenstudium. Für das entsetzlich schrille Geschnatter der Spätzinnen hab ich nur Kieselsteine übrig. Mögen sie treffen! Geschwirr. Die Stimme meiner toten Urgroßmutter klagt: »Bubi, das darf man nicht!« Ach was!

Viel Leben um nichts! Nicht erwarten können es die idiotischen Dinger! Finden sich da verspatzt in Nacht und Nebel ein, als wär so ein flaches Kolleg eine gute Theatervorstellung. Und nicht früher werden sie aufhören, die zudringlichen Ludern … bis sie von Logarithmen ganz verwanzt sein werden … die Wissensschafe … Pfui Teufel! Es ist und bleibt meine Pflicht, möglichst vielen dieser lebensschwangern Tierchen die nächste Wiedergeburt abzutreiben. Ich bin kein Wiedergeburtshelfer und die Erde ist das grauenhafteste Renaissancetheater.

Eine hervorstehende Milchstraßenbahnschiene entwurzelte mich rächerisch. Ich fiel. Von den Handschuhen glitt eilig die Schuld: der letzte Kieselstein. Trotzdem fühlt ich mich plötzlich im Besitz zweier Knie. Die leicht kitzelnden Schrammen bluteten stark und spien mich wieder in mein Zimmer aus.

Ich frag mich nur, soll ich den intriganten Spiegel weiß oder schwarz verhängen?

Die Antwort gab ein Knall. Irgendwas, Stein oder Kugel, durchschlug Doppelfenster und Spiegel. Ob ein Loch das Glas freut, weiß ich nicht. Ich lehne mich über die Brüstung, meine Augen atmen in die nächtigen Parks, aus denen das Feindselige erfreulich zu mir drang von den Sternen.

Jeder Schritt ins Zimmer zurück zermalmt kreischende Glassplitter. Am Ende der Flugbahn des Geschosses lag eine erdförmig abgeplattete Revolverkugel. Sie heißt Sirius.

Die Schrammen der Knie bluten noch immer den leisen Rhythmus eines kleinen Schmerzes. Keinen Verband! Schmutz im Wündchen? Wenn ein lächerlicher Sturz die Macht hat, mir Blut vergiftend das Leben zu nehmen, dann pfeif ich überhaupt auf diese dumme Errungenschaft.

Irgendwer hat also nach mir geschossen. Er hat recht. Ein unerbittlicher Richter! In meine Dumpfheit leuchtet immer heller die altruistische Pflicht, den wohlgemeinten Versuch des Unbekannten zu Ende führen zu müssen! So werd ich wenigstens bald drauf kommen, was die wirkliche, eigentliche Substanz ist, Silur oder ein schimmernd Neues, gänzlich Fremdes: Uttarakuru, das weiche Königreich der Ruh. Oder? Bin ich ein feiger Verschieber meines Endes? Ich hunger, ich esse die Krätze. Und wenn ich was »Rechtes« freß, ist es das Fleisch gemordeter Tiere. Ich bin Sperlingstöter. Ein buddhistischer Gulaschesser. Blut klebt an meinem Magen. Schluß machen! Abläuten! Ich werde … ich drück auf den höllischen Liftknopf und fahre zum Himmel. Ins Nichts.

Irgend jemand in mir, gegen mich ladet mechanisch, am offenen Fenster stehend, die erdmäßig abgeplattete Revolverkugel in den Lauf eines Schießinstruments.

Aber mit der Hand nach den Sternen greifend, als wollt ich diese Steinchen auf irgendwen werfen, sah, hört ich noch … umknallt … somnolent … wie im Traum … gegen den zertrümmerten Spiegel fallend, verzweifelt als letztes Wort in der Sprache der alten Welt die bekümmerte und eines tschechischen Akzentes nicht entbehrende Stimme des Ewigkeitskondukteurs Nr. 241: »Keinen Minut Aufenthalt! Alprecht Wodianer umsteigen!«


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