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Nepomuk Kiwi

Ich bin einer Familie entsprossen. Meine Mutter war eine Geborene. Auch mein Vater war ein Mensch. Im übrigen hab ich die Leut nie kennen gelernt. Der liebe Gott hat es so gewollt. Sie hießen Kiwi, sonst hab ich nichts von ihnen gehört. Auch den schäbig zurückhaltenden Seitenverwandten hab ich nichts zu verdanken. Sie wärmten sich protzig am Mahagonifeuer des Kamins, ich stand draußen und erprobte die Wasserdichte meiner empfänglichen Waisenknabenstiefel. Ich zerstand vor den Auslagen und sehnte mich. Aber Herr Frühlingsreich, der Schaufensterdekorateur, hatte die Dinge: seine göttliche Welt, nicht für mich arrangiert. Ich sehnte mich, auch einmal beim Raseur auf einem schwarzen Lederpolster zu sitzen und schön eingeseift zu werden. Hierauf hätt ich gern den erträumten Zylinder ergriffen und mich elegant und Trinkgelder spendend entfernt. Mir blühte der Seifenschaum einer andern Wirklichkeit – ich konnte nur Motschker und Tschicks rauchen: die aufgeklaubten Zigarrenstummel, denen die Spießer das Beste entsogen hatten. In den Volkskonditoreien saßen die Götter und aßen Buchteln, gefüllt mit Powidl, schwarz funkelndem Powidl. Ambrosia nennen ihn die Alten, Pflaumenmus schnöde Berliner. Nie befriedigt schlich ich um die rotglühenden Blechofen der Maronibrater, aber Kastanien, braungebratene Äpfel und die mehlweiß klaffenden Erdäpfel galten nicht mir, ihr Erwerb war mir versalzen. Die erwachsenen Schufte haben ihn an den Besitz von Münzen geknüpft, womit der Waisenstiefvater mich nie versah.

Wenn eine Herde von uns, bleichbackig, uniform vom grau in grau des Nebels gekleidet, unmunter die Vorortsstraßen durchstrich, fühlbar rottete sich das Mitleid in vorübergehenden Elternhorden zusammen und ballte sich zu Prügeln an die eigenen Kinder: »Sei folgsam und brav, Werner, sonst stirbt auch dir dein Vatti beziehungsweise Mutti.«

Ich mag mich der kargen Tage meiner Kindheit und geschändeten Jugend nicht erinnern. Die Waisenrabenväter: Stadt und Staat hatten wenig für uns übrig. Die Fußbälle waren schlecht, die Wochenkleider verschlissen, die Feste verregnet, man durfte nicht einmal onanieren: »Hände auf die Decke!« Gott strafte die Sünden des Katecheten Masturbal an seinen Kindern.

Nie dürft ich von den Bergen in den Himmel springen! Wir waren durch einer Anstalt Gitter getrennt von der wilden Welt. Alle grünen Ströme rannen uns gelb und schmutzig in ein trübes Meer.

Wann tauchte das erste Segel auf, hoffnungsrot und tollkühn? Es war ein Papiersegel. Robinson wurde neugeboren in mir mit dem Entschluß, über den städtischen Fluß zu schwimmen. Und im Gewimmel der blauen Auen und Adern eine selige, paradiesisch lehrerlose Insel zu finden. Aber statt des Eilands ward mir nur Influenza, Strafe und die späte Erkenntnis, daß die Städte, in denen ich geboren zu werden pflege, von Kanälen triefen. Die stolzen Ströme weichen ihnen aus.

Meine Finger mußten mein Abenteuer nachfühlen, nachempfinden: vom Rohrstock brennende Finger. Sofort wollt ich mich rächen und justament ein großer Mann werden. Obwohl das mühevoll und zeitraubend ist, es gewiß viel praktischer wäre, sich gleich in ein Reiterstandbild zu verwandeln.

Die Lehrer hemmen einen aber auch immer, wenn man grad ein großer Mann werden will. Schon wird man während der Schularbeit beim Schwindeln entdeckt oder beim Karl-May-Lesen – unter der Bank – überfallen vom Indianergeheul der mathematischen Squaw: vom schnöden Supplenten Jammerstorch – Professor läßt sich der Hering schimpfen! Dies verlorene Schuljahr und eine spröd unglückliche Jugendliebe, fernher zu einer Unbekannten, treibt fieberhaft in den Selbstmord. Aber wenn man sich dann endlich, penibel vor lauter Pubertät, jäh und keusch umgebracht hat, scheint die Existenz gleich viel heiterer und liebenswürdiger. Im Sarg erhält man endlich einen Vornamen, einen Kosenamen: wird Nepomuk getauft, der gute Nepomuk, unser guter Nepomuk! Ein Wunder, daß die Bande einem nicht auch nachträglich einen Titel verleiht – ich armer Kiwi hab ja, was diese Welt anlangt, maturiert. Reiflich. Und lieg nun so brav entleibt da. Entseelt von des Staates grau in grauer Waisenknabenuniform; Opfer der Zeit. Ein Kranz ziert den schlichten Sarg und ein sorgenvolles Schnupftuch zerknüllt sich weinend der Wäscheleine entgegen. Der Totengräber spuckt siegreich in die Hände, wenn er nicht Fäustlinge trägt, und die Bahre läuft davon vor dem Brodem der Scholle, vor dem frischen Erdgeruch dieses penetranten Erziehungsromans. Der Selbstmörder, übertrieben gewissenhaft wie eben Selbstmörder sind, hintersinnt sich nachdenklich: soll er nicht lieber doch Militär jähre riskieren und, gaudeamus igitur, Studentenjahre, den Doktor, Jugendsünden und Syphilisangst und noch einen Selbstmord?


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