Georg Ebers
Im Schmiedefeuer
Georg Ebers

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Vierzehntes Kapitel.

»Ich kann nicht mehr, aber es muß sein,« stöhnte Frau Christine, während sie den Fackeln nachschaute, die der Sänfte Cordulas vorangetragen wurden; ihr Gatte versuchte sie indes zurückzuhalten und bot ihr an, statt ihrer nach dem jungen Gaste zu sehen.

Umsonst.

Das mutterlose Kind, das der gefangene Vater wohl geborgen bei der verständigen Schwester wähnte, befand sich auf einem gefahrbringenden Posten, und nur ein weibliches Auge konnte beurteilen, ob es anging, das Verlangen Evas, das die Schaffnerin eben der Herrin eröffnet hatte, nachzugeben und sie – Mitternacht war vorüber – noch länger im Siechenhause zu lassen.

Ohne weiteres hätte sie die Nichte zur Heimkehr auffordern lassen, wäre sie nicht mit mütterlicher Sorge bestrebt gewesen, ihr nichts zu entziehen, was ihrer beunruhigten Seele helfen konnte, das Gleichgewicht wiederzufinden.

Wenn irgendwo, war es ihr bei der Hingabe an ein schweres Werk der Barmherzigkeit möglich, mit sich ins Reine zu kommen und Antwort auf die Frage zu finden, 213 ob sie, wenn die Verleumder zum Schweigen gebracht waren, den Schleier nehmen oder an der hoffnungslosen Minne festhalten sollte, die sich ihres jungen Herzens bemächtigt.

Gelang es ihr hier stand zu halten, und blieb sie, trotz des frohen Bewußtseins im Zeichen des Heilands gesiegt zu haben, ihrer weltlichen Minne treu, dann war diese echt und stark, und Eva gehörte nicht ins Kloster, – dann irrte sich ihre Schwester. die Aebtissin, in dem Mädchen, dessen Seele sie doch von früh an geleitet.

Frau Christine, die sonst schnell und entschieden urteilte, hatte es gestern abend nicht gewagt, Eva einen bestimmten Rat zu erteilen.

Mit verständnisvoller Rührung hatte die Matrone sie bekennen hören, es sei während des Nachtwandelns etwas Neues, ihr bis dahin Fremdes in ihr erwacht, das sich nicht mehr zur Ruhe bringen lasse. Als sie ihr dann auch bekannt, welches Bild sie sich von der echten Minne gestaltet, hatte sie es nicht über sich gewonnen, sie zu enttäuschen.

Etwas Aehnliches hatte die Aebtissin ihr, der älteren Schwester, gestanden, als auch ihr junges Herz – wie lang war es her – die Liebe ergriffen. Für keinen geringeren als den Burggrafen von Zollern hatte es in heißer Minne geschlagen.

Frau Christine war Zeugin gewesen, wie seine Vermählung mit der Habsburgerin den Wunsch der Schwester, der Welt zu entsagen, wach gerufen hatte. Kunigunde war damals eine Jungfrau von seltener, majestätischer Schönheit gewesen, und nur die hohe Geburt des edlen Herrn hatte ihm verwehrt, sie, die »Eva« gerufen worden 214 war, bevor sie den Schleier nahm, zu der Seinen zu machen.

In der Liebe der Gräfin Elisabeth, der Schwester des späteren Kaisers Rudolf, hatte er als Gatte und Vater reiches Glück gefunden; doch er war der Aebtissin ein warmer Gönner geblieben, und wenn Eva auf dem Tanze so auffallende Auszeichnung durch ihn erfahren, hatte sie das nicht allein sich selbst, sondern auch dem Umstand zu danken, daß sie, wie diejenige, der er in der Jugend hold gewesen war, den Namen »Eva Ortliebin« trug, und daß der Blick ihrer Augen ihn so lebhaft in die seligste Zeit seines Lebens zurückversetzte.

Die Aebtissin hatte im Kloster nach schwerer Entsagung eine vielleicht noch höhere Zufriedenheit gefunden. Daß sie der frommen jüngeren Nichte, deren Schicksal dem ihren immer ähnlicher werden zu wollen schien, das gleiche Los wünschte, konnte ihr auch die Schwester nicht verargen; gestern aber hatte sie mit ihr gestritten; denn Kunigunde war fest auf der Meinung bestanden, man müsse das Mädchen, wenn es nicht freiwillig an die Klosterthüre klopfe, dazu zwingen, und zwar nicht nur um seiner selbst, sondern auch um des Ritters Schorlin willen; denn für jeden wahren Christen dürfte es wenig Empörenderes geben als der Gedanke, ein edler Ritter, für dessen Erweckung der Himmel ein Wunder gethan, könnte seiner hohen Berufung, einem Mädchen, einem halben Kinde zu Gefallen, das Ohr verschließen. Zwischen beide die Mauern des Klosters zu legen, sei darum ein Gott wohlgefälliges, ja schon um des Beispiels willen notwendiges Werk.

Diese Behauptung hatte so streng und gebieterisch 215 geklungen, daß Frau Christine, die die mild gesinnte Schwester kannte, von vorn herein überzeugt gewesen war, sie folge der Weisung eines Höherstehenden. Bald darauf hatte sie denn auch erfahren, daß sie sich der Forderung des eifrigen Priors der Dominikaner, der für den obersten Richter in Glaubenssachen galt, angeschlossen habe. Bei einer zufälligen Begegnung hatte sie ihn, der sich weder ihr noch ihrem Orden je freundlich erwiesen, unvorsichtigerweise wegen dieses Falles, der ihr keine Ruhe ließ, um Rat gefragt.

Frau Christine war ihr lebhaft entgegen getreten. Mit Heinz Schorlin stand es anders wie weiland mit dem Burggrafen Friedrich, dem es nie und nimmer gestattet werden konnte, die Tochter eines Nürnberger Geschlechts zu der Seinen zu machen. Entsagte der Schweizer dagegen dem Gedanken an das Kloster, so hinderte ihn nichts, um Eva zu werben. Hier hieß es mit nichten, wie der Prior der Dominikaner behauptete: »Sie müssen beide der Welt entsagen,« sondern: »Sie mögen sich prüfen, und hält die Welt sie fest, dann wird es, erhebt der Kaiser, der Heinz ein väterlicher Gönner ist, keinen Einspruch, die Pflicht der Freunde sein, ein Paar aus ihnen zu machen.«

Für Eva nahte jetzt die Stunde der letzten Entscheidung, und begierig, wie sie die Nichte finden würde, ließ Frau Christine sich ins Siechenhaus tragen.

Der Gatte begleitete sie mit einigen Knechten; denn zu dieser späten Stunde war es in der Umgebung der Stätte, an der so viele Missethäter auf kurze Zeit verpflegt wurden, keineswegs sicher. Genossen, Freunde, Verwandte des bestraften Gesindels führten Teilnahme, 216 Neugier oder geschäftliche Angelegenheiten oft in ihre Nähe. Wer den Tag auf einem Boden, an dem es nie an Bütteln und Stadtknechten fehlte, zu scheuen hatte, der schlich sich in der Nacht an das Siechenhaus heran.

Da eben ein starker Regen zu fallen anfing, war diesmal der kurze Weg, den das Schultheißenpaar zurückzulegen hatte, frei. Auch schien für die Bewachung der Heilungsstätte gut gesorgt zu sein; denn schon vor dem Bretterzaune, der sie umgab, schritten einige bewaffnete Reisige der Stadt auf und nieder, und die Annäherung der späten Besucher wurde von den tiefen Stimmen großer Rüden den Wächtern gemeldet.

Der Schultheiß war hier wohl bekannt, und der aus dem Schlaf geweckte Thorhüter beeilte sich, ihm und seiner Gemahlin mit der Laterne voranzuleuchten.

Trotz der Bretter, mit denen man den Hof belegt hatte, war es eine wenig angenehme Aufgabe, ihn zu kreuzen; denn er ruhte im tiefsten Dunkel, und wo der Fuß der Wanderer vorbeitrat, versank er in dem Schlamme, auf dem die Bohlen mehr schwammen als lagen.

Das Hundegebell hatte anfänglich jedes andere Geräusch übertönt; als sie sich aber dem mit einem Strohdache bedeckten Hause näherten, in dem die wunden Männer verpflegt wurden, schallten ihnen rauhe Stimmen, die dann und wann das ungeduldige Wettern im Schlaf gestörter Kranker oder der Befehl der Wächter, Ruhe zu halten, unterbrach, laut und ungestüm entgegen.

Ein schmaler Gang, den eine Laterne matt erhellte, führte in das Weibergelaß, wo Eva sich aufhielt. Der Schultheiß trat zu den Männern ein, um dort Umschau 217 zu halten, während seine Gattin sich, ohne der Führung zu bedürfen, zu den Frauen begab.

Außer einer Schwester und zwei Knechten, die unter Vortritt eines verschlafenen Dominikanermönchs einen vorhin Verstorbenen in den Totenschuppen trugen, begegnete ihr niemand.

An der Thür des Weibergelasses saß Schwester Hildegard in leichtem Halbschlaf und fuhr auf, als Frau Christine die Schwelle überschritt.

Die Ritterwitwe, eine längst ergraute, kräftige Matrone, wies mit dem Rosenkranze in der Hand auf die Hinterwand des sehr langen, spärlich beleuchteten Raumes und sagte leise: »Die Kranke scheint jetzt zu schlafen. Den alten Dominikaner, mit dem Eva sich unterredet, sandte uns der Prior vorhin. Es heißt, es sei der gelehrtesten und beredtesten einer. Seh' ich recht, so kam er mit der Aufgabe hieher, Eurer Nichte ins Gewissen zu reden. Wenigstens hat ihr seine erste Frage gegolten, und Ihr seht ja, wie eifrig er in sie hineinspricht. Als es mit der wunden Frau dort zu Ende zu gehen schien, verlangte sie nach dem Sakrament, und so wurde sie von dem Dominikaner »versehen«. Wegen der Kinder gab es einen kläglichen Abschied; doch auch der Bader meint, daß wir sie vielleicht dennoch erhalten. Mit Pater Benedictus, dem alten Minoriten, den man auf der Straße dem Tode nahe fand und zu uns brachte, scheint es dagegen zu Ende zu gehen. Ihn wollen wir auch gern im Beghinenhause behalten, bis der Engel ihn abruft. – Für die arme Frau dort ist morgen mittag leider der dritte Tag vorüber. Länger dürfen wir hier ihrer nicht warten, und setzen wir sie auf die Straße . . .«

218 »Was ist's mit dem Weibe?« unterbrach hier Frau Christine die Ritterwitwe; diese aber schaute der andern mit warmer, mitleidsvoller Herzlichkeit und so innig bittend ins Antlitz, daß die Schultheißengattin, bevor jene noch mit der Antwort begann, ihr zurief: »Also wieder das alte klägliche Lied! Doch laßt sie nur bleiben. Ja, wenn sie uns statt jeden Pfundes Heller zehnmal so viele in Gold geben wollten! Doch für die da erübrigen wir noch, was not thut. Eurem Blicke seh' ich's an: es ist für sie nicht verschwendet.«

»Gewiß nicht,« versetzte Schwester Hildegard dankbar. »O, wie sie hieherkam! Jetzt freilich hat sie mehr als sie braucht. Euere liebe Nichte – ein Engel der Barmherzigkeit ist sie – sandte ihr Kätterle aus, und die schaffte es herbei. Aber wo ist nur die Magd?«

Dabei schaute sie sich in dem weiten Raume um, doch konnte sie Kätterle nicht finden.

Freilich herrschte nur ein trübes Dämmerlicht in dem weiten Raume, und Schwester Hildegard fuhr fort, indem sie darauf Bezug nahm: »Vielen stört das Licht den Schlaf, und für die Pfennige, die Oel und Späne kosten, haben wir bessere Verwendung. Wenn es Feste glänzend auszurichten oder Werke der Barmherzigkeit zu üben gilt, die alle Welt sieht, ja dann lassen die Herren Ehrbaren das Gold reichlich genug fließen; aber wer schaut auf die Stätte des Abscheus? Im Dunkeln ist es bei uns am schönsten, und was wir an Licht sparen, wird darum niemand vermissen.«

Allerdings lief keiner der Anwesenden Gefahr, von den kläglichen Bildern, die sich hier bei Tage boten, zu dieser Stunde behelligt zu werden; denn von der Thür aus 219 ließ sich, was an der gegenüberliegenden Wand vorging, nicht mehr erkennen. So hatte auch Eva, als die Thür gegangen war, nicht zu unterscheiden vermocht, wem sie Einlaß geboten.

Frau Christine war es übrigens recht so; denn bevor sie zu Eva herantrat, mußte sie sich über das Weib unterrichten, von dem die Nichte hier zurückgehalten wurde.

Wie die anderen lag es auf dem Brettergestell, das den langen Saal an allen vier Seiten umgab und nur von der Thür, die sie eben durchschritten hatte, unterbrochen wurde. In schräger Richtung stieg es nach der Wand hin an, damit der Kopf des Leidenden höher zu liegen komme als die Füße. Statt mit Polstern war es mit einer dichten Strohschicht, dem Lager der hier Verpflegten, bedeckt. Selten nur schien sie gewechselt zu werden; denn besonders in der Nähe der Thür, bei der die Frauen noch immer standen, ging ein übler, feuchter Geruch von dem Stroh aus. Doch der gehörte hieher, wie die Federn zum Vogel, und die Leute, die hier Aufnahme fanden, waren es nicht besser gewohnt. Als die Oberaufsicht über das Siechenhaus der Schultheißengattin vor fünfzehn Jahren anvertraut worden war, hatte sie es noch weit schlimmer gefunden, und für die wunden Menschen, die hier geheilt werden sollten, Betten anzuschaffen, lag ihr wie aller Welt vielleicht noch ferner als etwa die Polsterung des Kuhstalls.

Es war einmal so auf der Schweinau.

Stroh von jeder Art durfte man hier nicht nur auf dem hölzernen Ruhegestell, sondern auch auf dem Estrich, im Hofe und überall so sicher zu finden erwarten wie 220 Blätter auf dem Boden eines herbstlichen Laubwaldes. Das Haus zu verlassen, ohne Halme im Haar und an den Kleidern mit sich zu nehmen, war so unmöglich, wie es für jeden besser Gewöhnten, der nicht vor Mißbehagen zu vergehen wünschte, ratsam erschien, das Riechfläschchen mit sich zu nehmen.

Früher war Frau Christine einmal willens gewesen, für bessere Luft zu sorgen, doch auch ihr gutherziger Gemahl hatte über den thörichten Einfall gelacht, weil dergleichen nur ihr selbst und etlichen Pflegern zu gute kommen würde. In den Spelunken, wo die Gäste des Siechenhauses sonst Unterkunft fänden, da lernten sie andere Luft ertragen, da schnüre auch ihm sich der Hals zu. Nach ansteckenden Krankheiten sei immer noch ein übriges geschehen. Am Sonntagmorgen würde sogar mit Wachholderbeeren auf heißem Blech und mit Essigdampf geräuchert.

Dies Schutzmittel hatte Frau Christine selbst auf Rat des Medicus Otto eingeführt, als alle, die mit offenen Wunden hiehergebracht worden waren, und darunter auch junge, kräftige Leute, wie die Fliegen fortgestorben waren. Damals hatte der angesehene Arzt sogar durchgesetzt, daß auf Kosten des ehrbaren Rates die Wände neu getüncht und frischer Lehm auf den Estrich gestampft worden war. Er hatte auch angeordnet, das alte Stroh an jedem Sonntagmorgen durch frisches zu ersetzen, – und damit war es jetzt sogar noch besser geworden; denn in der Regel sollte jeder Kranke eine neue Schütte erhalten. Immer ließ sich das freilich nicht durchführen, und mancher mußte sich mit dem Lager seines Vorgängers begnügen.

221 Im Frauensaale wurde indes mit größerer Strenge auf den Wechsel des Strohes gehalten. Die Pflegerin selbst trug dafür Sorge, und Schwester Hildegard leistete ihr thatkräftigen Beistand.

In schwierigen Fällen mußte ihr der Einfluß des Medicus Otto helfen, doch er war alt geworden und kam nicht mehr in eigener Person nach Schweinau. Zwei Bader sorgten jetzt für den Verband und die Heilung der Wunden, und wußten sie sich keinen Rat, mußte der jüngere Stadtmedicus helfen.

Jetzt wies Schwester Hildegard auf das Lager, neben dem der Dominikaner sich mit Eva unterredete, und sagte: »Die Wittib eines Botenläufers ist sie und guter Leute Kind; denn ihr Vater war der Glöckner von St. Sebald. Freilich starb er schon lange zugleich mit ihrer Mutter. Bei der Pest vor zwölf Jahren ist es gewesen.

»Das Riecklein dort auf dem Lager hatte hier keinen weiteren Anhang; denn die Eltern waren von Bamberg. Aber sie hatte es gut, und ihr Mann, der Veit, verdiente genug mit dem Wandern landaus landein. Um St. Blasius nun, im Anfang des Februar Monds, ward er auf einem Gang ins Vogtland – bei Hof ist es gewesen – von einem Flockentreiben überrascht, und sie fanden den braven Mann mit Stab und Tasche unter dem Schnee und erfroren. Als die Trauerpost zu ihr kam, war sie eben eines Knäbleins genesen, und neben ihm waren noch zwei andere Mäuler zu stopfen. Da ging denn das Ersparte schnell genug dahin, und sie geriet in harte Bedrängnis; denn die Wochen hatten ihr übel zugesetzt, und zu der Arbeit in Bürgerhäusern gebrach ihr die Kraft. In der Passionswoche hatte sie 222 schon das Bett verkauft, um, was sie geliehen, zurückzuerstatten und um die Kleinen zu ernähren. Es war kalt, kein Heller ihr eigen, keine Möglichkeit, mit eigener Kraft neue zu erwerben. Da ging denn auch das übrige hin, und mit dem Sattessen war es aus für sie und die Kleinen.

»Weil aber der Vater ein Bediensteter der Stadt und ein redlicher Mann gewesen war, hatte sie sich auf den Rat des Probstes von St. Sebald, der von jung an ihr Beichtiger gewesen, an den ehrbaren Rat gewandt und den Bescheid erhalten, man habe des alten Hans Schab mit nichten vergessen, und wollte sie darum, um sie der Not zu entreißen, dem Bettelvogt überweisen, der ihr das Bettelzeichen zukommen lassen werde, das ihr gestatte, vor St. Sebald Almosen von den Kirchengängern zu heischen, was schon mancher reichliche Nahrung erworben.

»Da hatte sie denn den Kindern zu liebe den Stolz, der sie davon zurückhalten wollte, überwunden und sich vor die Kirchthüre gesetzt, und zwar nicht nur einmal, sondern wieder und wieder. Doch das andere Bettelvolk, das dort schon heimisch, war ihr so unhold begegnet, und die grausame Feindseligkeit, womit es sie zu verdrängen suchte, ihr so ganz unerträglich erschienen, daß sie nicht hatte stand halten können. Einmal, da ihr die anderen gar zu wehe gethan und sie wieder so böslich zurückgedrängt hatten, daß sie von all den vielen Kirchengängern auch nicht einer beachtet, war sie in ihr Kämmerlein zu den Kindern zurückgeflohen, fest entschlossen, es genug sein zu lassen mit dem grausamen Betteln. Das hatte sich am Samstag vor Pfingsten ereignet, und da 223 sie in der Hoffnung ausgegangen war, diesmal etwas Rechtes heim zu bringen, hatte sie den Kleinen verheißen, es sei nun vorbei mit dem Hunger. Wie in früheren Jahren, sollten sie auch diesmal den Pfingstkuchen haben. Wie sie nun vor das Haus kam, und die kleine Walpurga – Ihr werdet sie gleich sehen, und es ist ein gar artig sechsjährig Püpplein – ihr auf dem Soler entgegenlief, und nach dem Pfingstkuchen und dem Brot zum Sattessen frug, und das Annelein, das wohl etwas älter, doch weniger klug und flink, es ihr nachthat, da war es ihr, als sollte sie vergehen, und sie trug nur den Säugling, den sie mit zum Betteln vor das Kirchthor genommen, ganz still in die Kammer zurück, und gebot Walpurga seiner zu warten, wie es schon längst ihres Amtes, bis sie mit dem Brote zurück sei.

»Um der Kinder willen wollte sie es noch einmal mit dem Betteln versuchen; nach St. Sebald aber konnte sie nicht wieder.

»So ging sie denn von Hans zu Haus, um Almosen zu sammeln; aber sie war ein wohlgebildetes Weibsbild, dem man sein schweres Gebrechen nicht ansah. Auch hielt sie sich sauber und stellte in dem ärmlichen Fähnlein immer noch mehr vor als manche andere in günstigerer Lage. Hätte sie das Brustkind mitgenommen, wäre es ihr vielleicht besser geglückt; so aber wiesen die Hausfrauen, und auch die barmherzigen, sie ab oder boten ihr Arbeit beim Waschfaß, beim Putzen und Pflanzen. Doch seit dem Schaden, den sie im Kindbett davongetragen, verursachte ihr das bloße Bücken so große und schmerzhafte Beschwerden, daß sie nicht auf sich nehmen konnte, was man von ihr verlangte.

224 »Als sie endlich heimkehren mußte, weil der Säugling wohl schon längst nach ihr geschrieen, hatte sie ein einzig Hellerlein geerntet und trat mit ihm an das Schaubrett des Bäckers Kilian in der Stopfelgasse, um für einen Heller Brot zu verlangen. Die Bäckerin war nicht daheim. Ihre ledige Schwägerin, ein alterndes, übel gewilltes Weibsbild, bediente an ihrer Stelle die Kunden.

»Wie die Verkäuferin sich nun umwandte, um ein Schnittlein Brot abzuschneiden, und dem Riecklein allerlei gutes, süßes Gebäck von dem blanken Auslegebrett entgegenwinkte, traten die Kinder ihr leibhaftig vor Augen und ihnen voran die Walpurga, wie sie nach dem Pfingstkuchen und dem verheißenen Brot zum Sattessen frug, und weil eben niemand in der stillen Gasse vorbeiging, wurde der Böse zum erstenmal in ihr mächtig, und ein süßer Zopf wanderte in das Körblein an ihrem Arme. Hätte sie es dabei gelassen. wäre sie wohl ungestraft geblieben. Doch es öffneten sich ja zwei hungrige Schnäblein im Neste, und da lag ein gar sauber Lamm, mit einem roten Fähnlein am Rücken. Wenn das die Walpurga ihr eigen nennen dürfte! Und ungeübt, wie sie in dergleichen war, griff sie auch darnach, und that es zu dem andern.

»Aber die Schwägerin des Meisters hatte sich schon umgewandt, und statt sie, so dicht vor dem heiligen Feste, zu fragen, was sie zu solcher Missethat treibe, schrie sie in die Straße hinaus: ›Haltet den Dieb!‹ und dergleichen.

»So kam die Wittib ins Loch, und weil sie bisher unbescholten und eines guten Mannes Kind, ließ das Rugamt es dabei bewenden, sie einmal – nicht vor aller 225 Welt, sondern nur im stillen – mit Ruten zu streichen. So kam sie hieher. Da aber ihr armer Leib zu gebrechlich war, um all dem Schlimmen, das über sie gekommen, zu widerstehen, ward sie von heftigem Fieber befallen, und vor etlichen Stunden streckte schon der Tod die Hand nach ihr aus.«

»Und die Kinder?« frug Frau Christine bewegt.

»Den Säugling hatte man sie mitnehmen lassen,« lautete die Antwort, »von den anderen aber sprach sie zu uns, und wie verlassen sie wären. Im Fieber sah sie die beiden vor sich, wie sie stehlen gingen, und wie der Büttel sie einfing. Da stärkte Eure Eva mir den Mut, sie holen zu lassen, indem sie es auf sich nahm, für ihre Nahrung zu sorgen. So kamen sie her. Die Tuchstopferin, der sie das Kämmerlein abgemietet, hatte ihnen durchgeholfen mit ihrer Armut, und erst von ihr erfuhr Schwester Pauline, die ich ausgesandt hatte, daß die Walpurga, um derentwillen sie sich so traurig vergessen, nicht einmal ihr eigen Kind sei, sondern ein angenommenes, das ihr Mann selig einmal bei einem Botengange neben einem Gnadenbilde an der Landstraße bei Vierzehnheiligen ausgesetzt gefunden und heimgebracht hatte.«

Hier schwieg Schwester Hildegard, und auch Frau Christine blieb eine Zeit lang still.

Ja, es war wüst hier, und es atmete sich schlecht, hätte aber Gräfin Cordula besser zugeschaut, wäre auch ihr wohl eine der schönen Blumen ins Auge gefallen, die unter all dem Unkraut, dem Gift und Schmarotzergewächs hier nicht gar zu selten erblühten.

Eva hatte recht, sich dieses Weibes zu erbarmen, und war es zu retten, dann wollte sie selbst seiner Not 226 ein Ende machen und die Zukunft ihrer Kinder sichern. Im stillen nahm sie sich das vor, während die Schwester ihr an das Siechenlager der ausgepeitschten Diebin voranging. Diese Unglückliche sollte erkennen, daß Gott uns oft gerade die rauhsten und steinigsten Wüstenwege zu wandern zwingt, bevor er uns in das gelobte Land führt.

Die Unterredung mit dem Dominikaner hatte Eva so tief in Anspruch genommen, daß sie die Muhme erst vernahm, als sie vor ihr stand.

Schweigend nickten sie einander zu, und ein wohlgefälliges Lächeln flog dem Mädchen über das tief gerötete Antlitz, während es auf die Schlafende wies, deren Schlummer sie bewachte.

Das hübsche Gesicht der Mutter glühte immer noch im Fieber. Mit dem einen Arme umfing sie den Säugling, der in den weißen Tüchern ruhte, die Kätterle vorhin gebracht. Es war ein hübsches Kind, dem man die Not nicht ansah, in der es erwachsen. Neben der Witwe lagen zwei kleine Mädchen von etwa sechs Jahren. Das eine zur Linken der Mutter schlief fest. Das runde Aermchen diente seinem Haupte zur Stütze. Das andere, zur Rechten der Kranken, schmiegte den blonden Lockenkopf an ihre Brust. Die Kleine schlummerte nur leicht und öffnete bisweilen die großen blauen Augen, um sie mit rührender Besorgnis auf die Leidende zu heften. Es war Walpurga, das angenommene Kind, und einer gleich lieblichen Menschenknospe wie diese in zärtlicher Hilfsbereitschaft mit dem Schlafe ringende Sechsjährige, meinte die Matrone unter den Armen und Notleidenden nie begegnet zu sein. Auch das andere Mädchen berührte mit der freien Hand die Mutter, und so schienen diese in 227 Elend und Kummer, aber auch in Liebe eng verbundenen vier wie ein einziges Etwas zusammen zu gehören. Welch ein friedlich liebenswürdiges Bild!

Teilnahmsvoll vertiefte sich Frau Christine in jedes einzelne Glied dieser Gruppe. Wie wohlgebildet war ein jedes, wie rein und unschuldig erschienen die Züge der Kinder, wie gut und liebreich auch die der leidenden Mutter, die eine Diebin war und deren zarten Rücken die harten Geißelhiebe des Henkers getroffen.

Ihr schauderte bei diesem Gedanken. Als aber die kleine Walpurga im Halbschlafe das Händchen erhob, um der Mutter, die doch nicht die ihre, die wunde Schulter liebreich zu streicheln, wurde die Matrone wie immer, wenn ihr etwas Erfreuliches ans Herz griff, von dem Verlangen beseelt, den Gemahl sich zur Seite zu sehen. Und wie leicht konnte sie ihm, der so nahe war, den Anblick dieses rührenden Bildes verschaffen. Es sollte ihm auch beweisen, mit wie gutem Rechte sie Eva hier zu bleiben gestattet.

Treu der Gewohnheit, mit der Ausführung eines guten Entschlusses nicht zu zaudern, wollte sie Kätterle auftragen, den Gemahl hieher zu führen, doch auch jetzt blieb das Ausschauen nach ihr vergebens.

Da machte Frau Christine sich selbst auf und winkte Eva ihr zu folgen; kaum aber hatten beide die Mitte des Saales erreicht, als ihnen von einem Lager zur Linken her ein schneidendes Gelächter entgegenscholl.

Diejenige, von der es ausging, war die Baderwitwe, durch deren Angriff Eva gestern gegenüber dem Pranger so furchtbar erschreckt worden war. Schrill und laut durchbrach es die Stille der Nacht, und als die Matrone sich 228 unwillig umwandte, um derjenigen, die die Nachtruhe der anderen so rücksichtslos störte, einen Verweis zu erteilen, klatschte die Ratzerin in die Hände, und gleich darauf erhoben sich rings um sie her schreiende und zeternde Stimmen. Die Baderwitwe, die mit allem vertraut war, was in Nürnberg lebte, hatte die Schultheißengattin bei ihrem Eintritt erkannt und die Nachbarinnen heimlich aufgereizt, ihrem Beispiele zu folgen und, sobald sie ein Zeichen geben würde, bessere Nahrung zu fordern und Frau Christine, der Pflegerin des Siechenhauses, zu Gemüte zu führen, was sie von der Strenge ihres Gemahls, der sie dem Henker überliefert hatte, hielten.

Die Diebinnen und Gaunerinnen, kurz, das ganze verworfene Weibervolk rings um die Kupplerin her, der man wegen ihres unbändigen Wütens in Gegenwart der Gräfin Montfort vorhin die Füße zusammengebunden, leistete ihrem Winke Gehorsam, und das wilde Geschrei, das sie fordernd und schmähend erhoben, erweckte die Schläferinnen, die in weiterer Entfernung von ihr ruhten. Weinend, klagend, schreiend fuhren sie auf und begehrten zu erfahren, welche Gefahr ihnen drohe, während die Ratzerin und ihre Mitverschworenen nach Bier oder Wein, statt des Wassers, nach Fleisch zu dem schwarzen Brot und schlechten Brei schrieen, und von der Pflegerin kreischend und heulend verlangten, ihrem Hausherrn zu sagen, daß sie ihn für einen Weiberschinder und Bluthund hielten.

Es war ein gräßliches, wüstes, ohrenzerreißendes Durcheinander, das ernste Folgen nach sich zu ziehen drohte, als einige das Strohlager verließen und auf die Thür zueilten oder Frau Christine und Eva mit hoch erhobenen Fäusten und Nägeln umdrängten.

229 Die warnende Stimme der Matrone, der die Beghinen zu Hilfe geeilt waren, wurde laut überschrieen, doch der Gefahr, in der besonders Eva schwebte, auf die die Baderwitwe ihre Nachbarin gewiesen, die ein Kind gestohlen, um es zum Betteln abzurichten, wurde bald ein Ende gemacht; denn das tolle Geschrei war in den Männersaal gedrungen, und von dort her eilte Berthold Pfinzing mit dem Aufseher, seinen Gehilfen und einigen Mönchen herbei.

Wenn die Weiber den Schultheißen, der in der That ein milder Richter war, einen grausamen Tyrannen gescholten, so sollten sie jetzt erfahren, daß es ihm wenigstens nicht an rücksichtsloser Thatkraft fehlte. Die mißliche Lage, in der er sein Weib und sein liebes Patenkind sah, stimmte ihn nicht eben milde. Am liebsten hätte er all diesen Weibern, von denen die meisten die Rücksicht verwirkt hatten, die ihrem Geschlechte zukommt, die Hände binden lassen. Den Unbändigsten mußte dies auch wirklich angethan werden; die Baderwitwe aber wurde in die Gefängniskammer getragen, die bei diesem Siechenhause nicht fehlte.

Nachdem es endlich gelungen war, die Ruhe wieder herzustellen und Frau Christine dem Gemahl berichtet hatte, daß sie, während sie ausgegangen, um ihm ein erfreuliches Bild mitten unter diesem schrecklichen Elend zu zeigen, überfallen worden sei, unterbrach er sie unwillig: »Ein herrliches Gemälde! Balsam für Auge und Ohr der jungfräulichen Tochter Deines leiblichen Bruders! Den Heiligen sei Dank, daß sie und Du mit ihr so glimpflich davonkamt. Kann es wohl in der üblen Hölle etwas Gräßlicheres geben, als was es hier eben zu sehen 230 gab? Wahrlich, wo eine Gräfin Cordula es nicht aushält . . .«

Hier fiel Frau Christine dem aufgebrachten Hausherrn begütigend ins Wort, und ihre Macht über ihn war so groß, daß es wie freundlicher Zuspruch klang, als er fortfuhr: »Gewiß wolltet ihr mir etwas Besonderes zeigen; – was mich aber da drüben festhielt . . . wie spät es auch wird, ich muß noch einmal zu dem braven Gesellen. Welch ein Mensch! Den Herrenknecht des Ritters Heinz Schorlin mein' ich!«

»Den armen Biberli?« frug Eva gespannt, und leiser Vorwurf klang ihr aus der Stimme, als sie fortfuhr. »Du hattest doch verheißen, die Augen für ihn offen zu halten.«

»Ist auch geschehen, Kind,« versicherte der Schultheiß. »Doch das Recht geht seinen Gang, und zum peinlichen Verhöre gehört nun einmal die Folter. Leicht wär' es ihm wirklich an die Zunge gegangen, und kehrt sein Herr nicht bald heim, und es findet sich ein neuer Kläger – wer weiß, was geschieht.«

»Aber das soll und darf nicht sein!« rief Eva, und der alte Trotz klang ihr befehlshaberisch aus der Stimme. »Den Kaiser – Du sagtest es selbst – würde Heinz Schorlin nicht vergebens um Gnade anflehen, – und bevor ich mit ansehe, daß man den treuen Burschen . . .«

»Mäßigung, Kind,« flüsterte Frau Christine der Nichte zu und legte ihr die Hand auf den Arm; der Schultheiß aber fuhr, indem er ihr leicht mit dem Finger drohte, besänftigend fort: »Eher steckt die Jungfrau Ortliebin die eigenen Füßlein in die spanischen Stiefel. Getrost! Die drei Paar, die wir haben, sind sämtlich viel zu groß, um sie zu drücken.«

231 Da senkte Eva beschämt den Blick und rief in bescheiden bittendem Tone: »Aber fühlt Ihr denn nicht auch, Herr Oheim, daß es grausam wäre und unrecht, diesen redlichen Burschen zum Dank für treue Dienste zum Krüppel zu machen?«

»Ich fühl' es,« versetzte Herr Berthold und verlieh seinen Zügen ein reuevolles Ansehen. »Und gerade darum nahm ich mir heraus, eine Magd, über die mir kein Recht zusteht, aus dem Dienst zu entlassen.«

»Kätterle?« frug Eva gespannt.

Da nickte der Oheim ihr bejahend zu und fuhr fort: »Hört nur erst, was mich so schnell für den wunderlichen Gesellen einnahm. Bei der ersten Klage, die ihn nur beschuldigte, eine Liebesbotschaft von seiten seines Herrn der Jungfrau Ortliebin überbracht zu haben, trat ich für ihn ein, und mit mir thaten es gestern die anderen Schöffen, die ich verständigt. So kam er denn mit Verweisung aus der Stadt auf fünf Jahre davon.

»Die zweite Klage hoffte ich gar nicht zur Verhandlung bringen zu brauchen; denn sie war mit keinem ehrlichen Namen, sondern nur mit drei Kreuzen gezeichnet, und in dergleichen sehen die meisten Schöffen nach meinem Vorgang schon längst nur meuchlerische Ueberfälle, die von lichtscheuen Feiglingen ausgehen. Dennoch war es unmöglich, sie ganz zu unterdrücken, weil das Gesetz mir befiehlt, keine Klage, die an das Rugamt gelangt, ihm vorzuenthalten. So wurde sie denn verlesen, und der Vorschlag Hans Teufels, es mit der Kenntnisnahme genug sein zu lassen, fand keinen Beifall, so lebhaft ich ihn auch unterstützte.

»Man darf es den Herren nicht verargen. Zu 232 eurem Besten wünschen sie alle zu handeln und begehren nichts als volle Klarheit, auch nach außen hin, in diese ärgerliche Sache zu bringen. In jener Klage aber wurde Biberli bezichtigt, nächtlicherweile in das Haus eines Ehrbaren gedrungen zu sein, um seinem Herrn den Weg frei zu machen. Im Einverständnis mit einer Magd soll er ferner den Liebesverkehr zwischen den beiden Töchtern des Herrn Ernst Ortlieb mit einem Schweizer Ritter und Boemund Altrosen . . .«

»Schändlich!« rief Eva. »Was in aller Heiligen Namen haben wir aber mit dem Altrosen zu schaffen?«

»Ihr gewiß recht wenig,« entgegnete Frau Christine, »der Ortliebhof aber um so mehr. Heute nacht wird man ihn wieder vor seiner Thür halten sehen, und wenn er sich mit der Laute am Halse noch später unter dem Fenster Gräfin Cordulas zeigt und ihn zu ihr hinauf singen hört, soll mich's nicht wundern –«

»Und die Leute,« fuhr Eva in wachsender Empörung auf, »werden zu der Verleumdungskette einen neuen Ring fügen. Wenn dann eine Vorklerin und ihresgleichen ihnen nachsprechen, wen mag es wundern? Daß aber die Schöffen von den Töchtern des eigenen Amtsbruders so Schmähliches glauben . . .«

»Eben weil sie es nicht thun und euch von dem Gericht fern halten wollen,« fiel ihr der Oheim ins Wort, »stimmten sie für das Verhör. Durch ihr Urteil und die Strenge des Verfahrens wünschten sie den Leuten zu beweisen, wie ernst sie es meinen. Aber während ich auf eine Stunde fort mußte, weil der Kaiser die neuen Türme an der Stadtmauer zu sehen begehrte und dabei den Erklärer zu spielen hatte, verhängten sie, da 233 seine lose Zunge den Katerpeck und Muffel gegen ihn aufgebracht hatte, eine so harte Tortur über den Aermsten, daß es mich schauderte, als es mir kund ward.«

»Und Biberli?« frug Eva zitternd vor Spannung.

»Achtung vor dem Manne!« rief Herr Berthold und lüftete leicht die Kappe. »Die Rute traf ihm die gespannten Glieder, der Schraubstock preßte ihm die Daumen zusammen, an die Leiter gebunden zog man ihn über den gespickten Hasen . . .«

»Schweig still,« klagte Frau Christine mit erhobenen Händen, und ihr Gatte nickte ihr verständnisvoll zu. Dabei fuhr er leise aufseufzend fort: »Wozu euch mit diesen Schrecknissen quälen! Nichts ward ihm geschenkt. Der wackere Bursche blieb indes bei seiner Behauptung, er habe den Herrn beim Licht des Vollmonds in euer Haus begleitet, um eine Nachtwandlerin, die vor die offene Thür getreten, zu den Ihren zurückzubegleiten. Der Ritter Schorlin sei der Jungfrau Ortliebin ein einzigesmal, und zwar beim Tanz auf dem Rathause, begegnet. Wenn auch er sich bisweilen vor dem Hause ihres Vaters gezeigt, so hätte das mit den Töchtern des Herrn Ernst nichts zu schaffen, sondern – und damit wies er auf Cordula Montfort – mit einer ganz andern Dame.

»Nachdem der Blitz seinem Herrn das Roß unter dem Leibe erschlagen, – sei er allem, was Weib heißt, scheu ausgewichen, weil ihn nach dem Kloster verlange. Das alles könnte er durch viele Zeugen beweisen. Gestern schon hatte er diese genannt, und so war auch Graf Gleichen neben seinen Hausleuten und anderen erschienen. Der Minorit Benedictus wurde vergeblich bei den Franziskanern gesucht.«

234 »Er ist hier im Beghinenhause,« bemerkte Frau Christine, »und so erschöpft seine Kräfte auch sind, für eine Aussage zu Gunsten des Ritters werden sie doch völlig genügen.«

Da versicherte der Schultheiß, daß dies nötig werden könnte, wenn sich noch eine neue Klage gegen den Diener, Kätterle und vielleicht auch gegen den Ritter Schorlin erhöbe. Selten habe er an einer schlechten Sache mit so böslicher Hartnäckigkeit festhalten sehen. Die Kläger hätten Zeugen aufgestellt, die an Eidesstatt wiederholten, was sie von dem Ritter Siebenburg und von denen, die ihm nachsprachen, in Schenken und Weinstuben vernommen. Ihr Verhör hätte lange gedauert, und was sie vorbrachten, sei so unsinnig wie möglich und eben darum schwer widerlegbar gewesen. Diese Aussagen wären der Sache des Angeklagten zu gute gekommen; doch infolge so zahlreicher Beschuldigungen hätten selbstverständlich viele Fragen an Biberli gerichtet werden müssen, und auch dadurch sei die Folter so grausam verschärft und verlängert worden.

Hier unterbrach Eva den Erzähler mit einem neuen Ausbruch der Entrüstung; er aber zuckte bedauerlich die Achseln und sagte: »Gemach, Kind! Ein Schuster, der neulich die ›Ehrbaren‹ wegen etwas Aehnlichem schalt, ist öffentlich ausgepeitscht worden, und wenn hier Grausamkeiten vorgingen, so trifft die Schuld das Gesetz, – nicht die Richter. Aber es kann noch weit schlimmer kommen, wenn die Meute nicht durch einen höheren Willen zum Schweigen gebracht wird.«

»Der Kaiser?« frug das Mädchen mit zitternden Lippen.

»Ganz recht, Kind,« lautete die Antwort, »und Dein 235 alter Pate war bedacht, diese schlimme Sache von der rechten Seite her an unsern hohen Herrn zu bringen. Gern übt er Gnade, doch nur nachdem er sich genau über das Für und Wider unterrichtet. In diesem Falle gibt es nur einen, dem er ganz vertraut und der auch in der Lage wäre, ihm reinen Wein einzuschenken.«

»Heinz Schorlin!« fuhr Eva auf. »Gleich, ungesäumt muß er benachrichtigt werden.«

»Gewiß,« versicherte der Schultheiß gelassen. »Und da ich doch der Jungfrau Eva, die diesen Ritt gern auf sich nähme, als Oheim und Pate das Rößlein nicht satteln lassen darf, entsandte ich eine andere, der das Herz gleichfalls den Weg weist.«

»Oheim!« fiel Eva ihm hier feurig ins Wort und erhob dankbar die Hände. »Wen aber kannst Du . . .«

Hier stockte sie und rief plötzlich, wie gewiß ihrer Sache: »O, ich kenne die Botin: Gräfin Cordula Montfort . . .«

»Zu hoch gegriffen,« lächelte der Schultheiß; »doch ich meine, die Wahl war nicht schlechter. Deine Gürtelmagd, Kind, die Herzliebste des armen wunden Gesellen.«

Da ließen Frau Christine und Eva zugleich einen Ruf des Erstaunens und der Beistimmung vernehmen, und beide verlangten zu erfahren, wie der Schultheiß auf diese Wahl gekommen.

Ein Wagen aus Schwabach, das auf dem Wege nach der Siebenburg gelegen war, hatte Biberli, kurz nachdem das Pfinzingsche Paar das Siechenhaus betreten, auf der Heimfahrt nach Schweinau dorthin befördert.

Kätterle war zugegen gewesen, wie man den Gefolterten abgeladen und auf das Strohlager niedergelassen hatte.

236 Erst als er ihr den eigenen Namen mit rührender Klage entgegenrief, hatte sie ihn erkannt und war vor Schreck über seinen Anblick in die Kniee gesunken. Doch man bereitete ihm neben ihr das Lager, und so hatte sie sich nicht wieder zu erheben brauchen, um ihn zu streicheln, ihm zuzusprechen und ihm zu verheißen, ihn nicht zu verlassen, auch wenn er ein elender Krüppel bleiben sollte zeitlebens.

Als dann der Schultheiß zu den beiden getreten war, um Biberli seine guten Dienste anzubieten, hatte dieser ihm entgegengestammelt, er habe nur noch den einen Wunsch, seinen lieben Herrn wiederzusehen. Es sei ohnehin um ihn geschehen, wenn der Ritter ihm nicht durch Kaiser Rudolf Gnade erwirke; denn die bösen Neidlinge würden nicht von ihm lassen, und zum zweitenmale halte er die Folter nicht aus.

Hier unterbrach der Schultheiß auf kurze Zeit seinen Bericht; denn es kam ihm ein Vorgang in den Sinn, dessen er sich vor dem Dominikaner, der der fiebernden Witwe das Sakrament gebracht und sich zu den Zuhörerinnen gesellt hatte, zu gedenken scheute. Es war nämlich einer seiner Ordensbrüder zu Biberli herangetreten und hatte ihn aufgefordert,. sich vor einem neuen peinlichen Verhöre nicht zu fürchten; denn dem Unschuldigen verleihe der Herr die Kraft, in der Folterkammer auch unter der härtesten Tortur bei der Wahrheit zu bleiben. Dabei aber war dem armen Gemarterten ein sonderbares Lächeln um die Lippen geflogen, das Herr Berthold wohl verstanden hatte; denn der Wahrheit treu geblieben war der brave Bursche bei den Qualen, die man ihm anthat, mit nichten.

237 »O ihr Lieben,« fuhr der Schultheiß dann fort. »Was es an jenem Strohlager zu sehen gab und zu hören, als man mich dort mit dem Aermsten und seiner Trauten allein ließ, wäre auch einem Härteren zu Herzen gegangen. Hättet ihr doch mit angesehen, wie Kätterle sich über den Herzliebsten warf, nachdem ich ihr mitgeteilt, daß auch die schmerzhafteste Marter ihn nicht zu zwingen vermocht, die Anklage zu bestätigen, die sich auch gegen sie erhoben hatte. Ein gleicher Strom von heißer Dankbarkeit ergoß ein Menschenkind wohl selten über ein anderes, und als Biberli wiederholte, daß der Beistand seines lieben Herrn ihm Not thun werde, um sie und ihn vor dem neuen Verhöre zu bewahren, da bot sie sich an, ihn aufzusuchen, und zwar sogleich, trotz des Regens und der finsteren Nacht.

»Da dachte ich denn bei mir, ein von dem Hergang der Dinge gleich wohl unterrichteter und dazu von liebreichem Eifer gleich warm beseelter Bote ließe sich nicht finden, und weil der Wagen, der Biberli hergeführt, noch draußen hielt, sprach ich mit dem Fuhrmanne, der Weizen nach Nürnberg geführt und nun auf dem Heimweg Platz genug hatte unter der Plane. Ich kannte den Mann, und wir wurden schnell einig. Von Schwabach aus sollte sein Bruder, der Weg und Steg kennt, sie zu den Kaiserlichen, die gegen die Siebenburgs im Felde stehen, führen. Urlaub bei euch für sie zu erbitten, das nahm ich auf mich. Jetzt rollt sie auf dem Wagen des alten Fuhrherrn Apel Schwabach und dem Ritter Schorlin entgegen.«

Bis dahin hatte der Schultheiß die Ruhe bewahrt, jetzt aber verlor seine tiefe Stimme die Sicherheit, und 238 es waren weder die innigen Worte der Anerkennung, die sein Weib ihm zuraunte, noch war es die Dankbarkeit, die Eva ihm so zärtlich zu erkennen gab, was ihm den Redefluß hemmte, sondern die Erinnerung an den Abschied des grausam gequälten Mannes von der Geliebten.

Sie, hatte Biberli gehofft, würde seiner warten, ihr Anblick wäre ihm ein Augen- und Herzenstrost gewesen, und doch schickte er sie hinaus in Nacht und Gefahr. Dank und Liebe, das Bewußtsein, ihm gerade jetzt unendlich viel sein und leisten zu können, hielten sie an seinem Lager wie mit Fesseln und Banden zurück, und dennoch war sie gegangen und hatte sich das Ansehen gegeben, es gern zu thun und gewiß zu sein des Erfolges.

Und wie hatte beiden sich das Antlitz verklärt, als der Schultheiß ihnen eröffnet, seine Hausfrau und Eva würden sich seiner annehmen, und er selbst Sorge tragen, daß er ein besseres Lager erhalte.

Das schmerzlich leise Bekenntnis Biberlis: »Das Stroh und ich sind ja von mancher Herberge her an einander gewöhnt; jetzt aber könnte mir freilich eine etwas weichere Unterlage frommen; denn wo man meinen zermalmten Leichnam berührt, mein' ich, es wäre etwas an ihm aus den Fugen gegangen.«

Herr Berthold brauchte sich seiner Bewegung nicht zu schämen; denn durch den Bader hatte er erfahren, der arme Schelm habe keineswegs übertrieben, und als Augenzeuge bei einem Teile der Tortur wußte er, daß auch die grausamste Marter an dem festen Willen des treuen Burschen, weder den Herrn noch die Geliebte vor den Richter zu bringen, gescheitert.

239 Wie der Schultheiß dieser Großthat des schlichten Dieners gedachte, wurde er beredt und schilderte im einzelnen, was der Aermste gelitten und wie er, nachdem Kätterle ihn verlassen, regungslos dagelegen habe, und das lange, bleiche Dulderantlitz von einem dankbaren Lächeln verschönt worden sei.

Auch den Frauen und dem Mönche Aegidius, einem hochbetagten Minoriten, der bis dahin bei dem greisen Ordensbruder Benedictus gewacht hatte und eben zu ihnen getreten war, wurden die Augen feucht bei diesem Berichte; Eva aber drang aus tiefstem Herzensgrunde der laute Ausruf: »Glückselig der, dem es vergönnt war, für sein Liebstes solche Folterqual zu erdulden!«

Erstaunt blickten die anderen auf die Jungfrau, die die fest gefalteten Hände an die wogende Brust preßte und mit den großen Augen, als sehe sie den Himmel offen, aufwärts schaute.

Dem alten Minoriten ging das Herz auf bei diesem Bekenntnis und bei dem Anblick des Mädchens. So, doch weit weniger reich mit der Gottesgabe der Schönheit beschenkt, hatte er die heilige Klara selbst im Gebete gesehen. Was dieser begnadigten Jungfrau, die er hier zum erstenmale sah, von den frischen Lippen geklungen war, gab einer Gesinnung Ausdruck, die sie auf den Pfad der heiligen Märtyrerinnen führen konnte, und von frommer Begeisterung ergriffen trat er ihr näher, zog ihr die gefalteten Hände von der Brust, nahm sie in die seinen und rief, indem er sich erinnerte, was ihm die Aebtissin Kunigunde von ihrem schweren Ringen schon gestern am Lager des leidenden Ordensbruders berichtet: »Wer das sprach, der kennt das Wort, das denen, die treu sind 240 bis in den Tod, die Krone des ewigen Lebens verheißet, und es wird sich an ihm erfüllen. Folge der Stimme, mein Kind, die Dich zu den Berufenen gesellt! Sancta Clara selbst ruft Dich in ihr heiliges Heim.«

Schweigend waren die anderen, Eva mit einem leisen Schütteln des Hauptes diesem Rufe des alten Mönches gefolgt. Als dieser aber ihr enttäuscht die Hände freigab, ergriff sie seine hagere Rechte und sagte bescheiden: »Wie könnte ich wert sein einer so hohen Verheißung. Der arme Diener auf dem Stroh, mit seinem T und St am Gewand und Kogel, von dem der Oheim erzählte, er hat, mein' ich, ein zehnmal besseres Recht auf die Krone des Lebens, da mir ja noch so wenig für sie zu thun vergönnt war. Aber ich hoffe auf sie, und der Heilige, der alles, was atmet und lebt, als Kinder des nämlichen hohen Vaters Brüder nennt und Schwestern, er kann nicht lehren, daß die Treue, die in der Welt geübt wird, eines schlechteren Lohnes wert ist, als die der Erwählten im Kloster.«

»Das ist eine thörichte und lästerliche Meinung,« fiel ihr der Dominikaner hier streng ins Wort. »Man wird Sorge tragen, teuere Tochter, Deine Seele von dem pfadlosen Umherirren auf die rechte Straße zurückzuführen, die die heilige Kirche für sie geebnet.«

Damit kehrte er den anderen den Rücken; der greise Minorit aber wandte sich an Eva mit einem wehmütigen Lächeln und sagte: »Ich kann ihm nicht widersprechen. Die Treue gegen den Nächsten, mein Kind, steht doch weit hinter derjenigen zurück, die wir dem Himmel halten. Dir, Tochter, hatten sich schon seine Thore geöffnet. Wie stark ist doch das Wohlgefallen an kurzem irdischen Glück bei den Kindern der Welt, daß sie so leicht bereit sind, um 241 seinetwillen die sicheren Wonnen preiszugeben, die ewig dauern. Dein Irrtum wird die Frau Aebtissin und Pater Benedictus betrüben.«

Damit verabschiedete auch er sieh; Frau Christine aber flüsterte der Nichte zu: »Diese Mönche sind nicht die heilige Kirche, der wir ja beide anhängen als gehorsame Töchter. Meinem armen Geiste und Herzen will es scheinen, als gäbe der Heiland Dir recht.«

»Amen,« fügte der Schultheiß hinzu, der die leise Rede der Gattin verstanden.

 

 


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