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VIII

So vergingen während der ersten Zeit meiner Gefangenschaft auf den Salut-Inseln die Tage, trübe und schmerzlich. Ich erhielt jedes Vierteljahr einige Bücher, die mir meine Frau geschickt, aber ich hatte keine körperliche Beschäftigung, und besonders die Nächte, die in dieser Gegend fast immer zwölf Stunden dauern, waren grauenhaft lang. Im Laufe des Juli 1895 hatte ich gebeten, daß ich etwas Tischlerhandwerkzeug kaufen dürfe, es wurde mir mit einer energischen Zurückweisung von seiten des Directors der Sträflingscolonie geantwortet, unter dem Vorwand, daß mir das Werkzeug als Mittel zur Flucht dienen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich auf einem Hobel von einer Insel entflohen wäre, wo ich Tag und Nacht scharf bewacht wurde.

Im Herbst 1896 wurde die schon sehr strenge Behandlung, der ich unterstellt war, noch verschärft.

Am 4. September 1896 erhielt die Verwaltung der Strafcolonie von Colonialminister Herrn André Lebon, die Ordre, mich bis auf weiteres Tag und Nacht in meiner Zelle zu halten, mir nachts doppelte Eisen anzulegen, meinen Spazierplatz mit einer massiven Pallisade zu umgeben, und dort außer dem Wärter in der Zelle, noch eine Schildwache zu stationieren. Ferner durften mir die Postsendungen und die Briefe nicht mehr direct übergeben werden, ich sollte meine Correspondenz nur noch in Copien in die Hände bekommen.

Entsprechend diesen Verordnungen, wurde ich Tag und Nacht in meiner Zelle gehalten, ohne daß mir auch nur einen Augenblick mein Spaziergang gestattet worden wäre. Diese vollständige Absonderung dauerte so lange, bis das Holz angelangt und die Pallisade fertiggestellt war, das heißt, ungefähr zweieinhalb Monate. Die Hitze war in jenem Jahre besonders groß und die Wärter in meiner Hütte legten Klagen über Klagen ein, und erklärten, daß sie fühlten, wie ihr Schädel vor Hitze platzen müsse. Auf ihre Reclamationen hin wurde denn auch der Vorraum vor meiner Zelle täglich bewässert. Ich verging vor Hitze in des Wortes vollster Bedeutung.

Vom 6. September an wurde ich nachts in doppeltes Eisen gelegt, und diese Tortur, die ungefähr zwei Monate fortgesetzt wurde, vollzog sich folgendermaßen: Zwei U-förmige Eisen, AA, wurden mit ihren unteren Enden an den Seiten der Bettstelle befestigt. In diese Eisen legte sich eine Eisenstange B, an der zwei Bügel CC befestigt waren. An dem einen Ende, bei D, war die Eisenstange verdickt, an dem anderen Ende besaß sie ein Schloß E, so daß sie an den Krampen AA, und damit auch an dem Bette selbst festgeschlossen werden konnte.

Wenn meine Füße in den beiden Bügeln steckten, so war es mir unmöglich, mich zu bewegen, ich war vollständig ans Bett festgebunden. Die Qual war besonders in den glühend heißen Nächten unerhört. Bald verwundeten mich auch die zu eng geschlossenen Bügel an den Gelenken.

Der Doppel-Bügel.

Meine Hütte wurde dann in einer Distanz von 1,50 Meter mit einer 2,50 Meter hohen Pallisade umgeben, die viel höher war, als meine kleinen Gitterfenster, diese befanden sich in einer Höhe von einem Meter, so daß ich im Innern der Zelle weder Luft noch Licht mehr hatte. Außerhalb dieser vollkommen geschlossenen Verteidigungspallisade wurde in gleicher Höhe eine zweite, ebenfalls massive, errichtet, die mir jeden Ausblick nach außen verdeckte. Nach ungefähr drei Monaten erhielt ich dann die Bewilligung, zwischen den beiden Pallisaden auf der »Promenade« in der glühenden Sonne, ohne eine Spur von Schatten, unter Begleitung meines Wärters zu spazieren.

Bis zum 4. September 1896 war ich nur nachts und in den heißesten Stunden in meiner Zelle geblieben. Außer der Zeit, die ich für meinen kleinen Spaziergang innerhalb der mir reservierten 200 Quadratmeter verwendete, setzte ich mich manchmal in den Schatten der Hütte dem Meer gegenüber, und wenn meine traurigen Gedanken mich quälten, wenn mich das Fieber schüttelte, hatte ich dann wenigstens den Trost in meinem furchtbaren Schmerz, das Meer zu sehen, meine Blicke über seine Wogen hinschweifen zu lassen und zu empfinden, wie meine Seele sich an stürmischen Tagen mit den tosenden Wellen aufrichtete. Vom 4. September ab nichts mehr von alledem, ich darf nicht mehr das Meer betrachten, ich ersticke in meiner Zelle, in die weder Luft noch Licht mehr fällt. Nur noch der Spaziergang zwischen den Pallisaden, im Sonnenbrand!

Im Laufe des August 1896 hatte ich heftige Fieberanfälle und Gehirncongestionen gehabt. In einer dieser traurigen Nächte voll Fiebers und voller Jammer, wollte ich aufstehen, fiel aber wie eine tote Masse zu Boden und blieb ohnmächtig liegen. Als mich der Wärter aufhob, schien ich leblos und war blutüberströmt. An den folgenden Tagen verweigerte der Magen jede Nahrungsaufnahme. Ich nahm stark ab und meine Gesundheit war sehr erschüttert. Als die eigenmächtigen und unmenschlichen Maßregeln des Septembers vollzogen wurden, fühlte ich mich noch äußerst schwach, und sie verursachten auch dann noch eine weitere Kräfteabnahme. Unter diesen Bedingungen glaubte ich, nicht mehr weiter stand halten zu können. Wie stark auch Wille und Energie eines Menschen sein mögen, die menschlichen Kräfte haben ihre Grenzen, und diese waren schon überschritten. Ich hörte dann auf, in mein Tagebuch zu schreiben, und traf nur noch die Bestimmung, daß es meiner Frau übergeben werden solle. Uebrigens wurden einige Tage später alle meine Papiere beschlagnahmt, ich hatte nur noch eine beschränkte Anzahl von Blättern in Händen und diese waren, wie in der ersten Zeit meines Aufenthalts, nummeriert und gezeichnet; ich mußte sie abgeben, sobald sie beschrieben waren und erhielt vorher keine neuen.

Plan meiner ersten Behausung nach Errichtung der Pallisade

Unten rechts meine Zelle ( case) mit dem Wachtlocal und der Umzäunung, die Thüre links oben führt nach meinem Spazierplatz ( promenoir), der zwischen den beiden Pallisaden ( 1e palissade, 2e palissade) liegt, links die See.

Wenn ich in den langen qualvollen Nächten auf meinem Bett festgebunden lag, und der Schlaf meine Lider floh, so suchte ich mit der Seele meinen Leitstern, den Führer in den Augenblicken der allerhöchsten Entschlüsse und plötzlich sah ich ihn strahlend vor mir aufleuchten und mir meine Pflicht vorschreiben: Heute hast Du weniger als je das Recht, von Deinem Posten zu desertieren, hast Du weniger als je das Recht, auch nur um einen Tag Dein trauriges, elendes Leben zu verkürzen. Was für Qualen man Dir auch auferlegen mag, Du mußt vorwärts schreiten, bis man Dich in die Gruft wirft, Du mußt, so lange Dir noch auch nur ein Schatten von Kraft übrig bleibt, stramm vor Deinen Henkern stehen, ein lebendiges Wrack, das durch die Unberührbarkeit seiner Seele vor ihren Augen sich aufrecht erhalten muß.

Ich war auch entschlossen, energischer, als je zu kämpfen.

In der darauffolgenden Periode vom September 1896 bis zum August 1897 wurde die Bewachung noch täglich verschärft.

Zu Beginn meines Aufenthaltes hatten außer dem Oberwärter fünf Wärter bei mir Dienst, dann sechs und im Laufe des Jahres 1897 sogar zehn. Später wurde ihre Zahl noch erhöht. Bis 1896 erhielt ich jedes Vierteljahr Bücher, die mir meine Frau schickte. Vom September 1896 an unterblieben diese Sendungen. Man hatte mir zwar gesagt, daß ich alle Vierteljahre zwanzig Bücher verlangen dürfe, die auf meine Kosten angeschafft werden sollten. Ich reichte ein erstes Gesuch ein, dem einige Monate später Folge geleistet wurde, ein zweites, zu dessen Gewährung noch mehr Zeit gebraucht wurde, und ein drittes, auf welches ich überhaupt nie Antwort erhielt. Da mußte ich eben mit dem Grundstock auskommen, der sich seit den ersten Büchersendungen gebildet.

Diese Bibliothek umfaßte eine gewisse Anzahl litterarischer und wissenschaftlicher Revuen, einige Unterhaltungslektüre, die »Studien über die zeitgenössische Litteratur« von Scherer; die » Histoire de la littérature« von Lanson, einige Werke von Balzac, die Memoiren von Barras, die » Petite critique« von Janin, eine Geschichte der Malerei, » Histoire des Francs«, die » Récits des temps Mérovingiens« von Augustin Thierry, den 7. und 8. Band der » Histoire générale du 4e siècle jusqu' à nos jours« von Lavisse und Rambaud, die » Essais« von Montaigne und vor allem die gesammelten Werke Shakespeares. Nie habe ich den großen Dichter so gut verstanden, wie in jener unseligen Periode meines Lebens, ich las ihn immer und immer wieder; Hamlet und König Lear traten mir in ihrer ganzen dramatischen Wucht vor die Seele.

Ich arbeitete auch wissenschaftlich, da ich aber die notwendigen Bücher nicht hatte, mußte ich mir die Elemente der Differential- und Integralrechnung reconstruieren.

Auf diese Weise zwang ich mein Gehirn, leider nur auf ganz kurze Augenblicke, sich in eine ganz andere Gedankenfolge zu vertiefen, als diejenige war, die es gewöhnlich absorbierte.

Meine Bücher waren in kurzer Zeit in einem erbärmlichen Zustand, alles mögliche Getier ließ sich darin nieder, zernagte sie und legte seine Eier hinein.

In meiner Zelle wimmelte es von Ungeziefer, während der Regenzeit kamen die Mosquitos, und zu jeder Jahreszeit Ameisen in solchen Mengen, daß ich meinen Tisch isolieren mußte, indem ich die Füße in vier alte, mit Petroleum gefüllte Conservenbüchsen stellte. Das Wasser, das ich erst hineingegeben, genügte nicht, denn die Ameisen bildeten auf dessen Oberfläche eine Art Kette, auf welcher sie, sobald dieselbe fertig war, wie auf einer Brücke circulierten.

Das schädlichste Tier war jedoch die Krabbenspinne, ihr Biß ist giftig. Sie hat die Größe einer Männerhand, ihr Körper sieht dem der Krabbe ähnlich, während die Beine so lang sind, wie bei der Spinne. Ich tötete viele in meiner Hütte, sie kamen zu Zeiten zwischen dem Dachwerk und der Mauer herein.

Kurz nach den Keulenschlägen vom September 1896 hatte ich eine Periode tiefster Gebrochenheit, darauf folgte ein Aufschwung meines Wesens, ich richtete mich wieder empor, meine Seele wurde nur um so reiner und stolzer wieder Herr ihrer selbst.

Im October schrieb ich an meine Frau:

Salut-Inseln, 3. October 1896.

Ich habe die Correspondenz vom August noch nicht erhalten, ich will Dir aber dennoch einige Zeilen senden, und Dir ein Echo meiner unendlichen Liebe zuschicken.

Ich habe Dir letzten Monat geschrieben, ich habe Dich in mein Herz schauen lassen, ich habe Dir alle meine Gedanken anvertraut. Ich kann nichts weiter hinzufügen. Ich hoffe, daß Du von anderer Seite die Mithilfe finden wirst, die Du die Pflicht hast, zu verlangen, und ich kann immer nur eines wünschen, bald zu vernehmen, daß die Aufklärung in unserer entsetzlichen Sache erfolgt sei. Was ich Dir noch sagen will, ist, daß die furchtbare Schärfe unserer Leiden unsere Herzen nicht erniedrigen darf. Wir, unser Name, müssen unbedingt aus diesen entsetzlichen Begebenheiten ebenso rein hervorgehen, wie wir waren, als wir hineingezogen wurden.

In solchem Leiden muß aber unser aller Mut wachsen, nicht, damit wir klagen, oder uns beschweren, sondern damit wir verlangen und fordern, daß die Tragödie endlich aufgeklärt werde und daß diejenigen entlarvt werden, deren Opfer wir sind.

Wenn ich Dir so ausführlich schreibe, so geschieht es namentlich, um Dir eines ans Herz zu legen, das ich lieber besser ausdrücken wollte, als ich es tatsächlich zu thun vermag: Wir müssen, durch unser Gewissen stark gemacht, als Menschen von Herz, die ein Martyrium erleiden, das sie zu erdrücken vermag, ohne zu stöhnen, ohne zu klagen, uns über alles erheben, und wir thun das, indem wir einfach unsere Pflicht erfüllen; für mich besteht diese Pflicht darin, daß ich aufrecht bleibe, so lange es mir irgend möglich ist, für Dich und Euch alle darin, daß Ihr die Aufklärung in dieser düstern Geschichte mit aller Kraft herbeiführen wollt und Euch dabei der Mithilfe aller verfügbaren Factoren versichert, denn ich glaube wirklich nicht, daß jemals Menschen mehr gelitten, als wir.

Salut-Inseln, 5. October 1896.

Eben habe ich Deinen guten, lieben Brief vom August erhalten und auch diejenigen der ganzen Familie, und ich schreibe Dir nicht nur unter dem tiefen Eindruck des Leidens, das wir alle erdulden, sondern noch speciell unter demjenigen des Schmerzes, den Dir mein Brief vom 6. Juli bereitet hat.

Ach, liebste Lucie, wie ist doch der Mensch so schwach und oft so feige und egoistisch. Wie ich Dir schon gesagt, war ich, dessen Geist schon so niedergeschlagen, dessen Qual so groß ist, damals vom Fieber gepeinigt, das mir Leib und Gehirn verbrannte, und da, in der tiefsten Gebrochenheit meines Wesens, in einem Zustand, in dem man so dringend einer befreundeten Hand, eines sympathischen Antlitzes bedarf, in Hallucinationen des Fiebers und des Schmerzes, ohne Briefe von Dir, mußte ich mit unwiderstehlicher Notwendigkeit meinen Schmerzensschrei zu Dir dringen lassen, den ich nirgends sonst hätte ausstoßen können.

Ich habe mich aber wieder in der Gewalt, ich bin wieder der geworden, der ich war, und ich werde bis zu meinem letzten Atemzug derselbe bleiben.

Wie ich Dir schon vorgestern in meinem Brief gesagt, müssen wir durch unser gutes Gewissen im stande sein, uns über alles zu erheben, aber immer mit dem festen, unbeugsamen Willen, zu bewirken, daß meine Unschuld in den Augen von ganz Frankreich hell leuchtend zu Tage tritt.

Unser Name muß aus diesen entsetzlichen Begebenheiten ebenso rein hervorgehoben, wie er war, als man ihn hineingerissen und unsere Kinder müssen erhobenen, stolzen Hauptes ins Leben treten.

In Bezug auf die Ratschläge, die ich Dir geben kann, und die ich Dir in meinen vorherigen Briefen entwickelte, wirst Du leicht begreifen, daß ich Dir nur raten kann, was mir mein Herz eingiebt. Du und Ihr alle seid besser dran, besser beraten als ich, um zu wissen, was Ihr zu thun habt.

Mit Dir wünsche ich innigst, daß es nicht mehr allzulange dauern möge, bis unsere entsetzliche Lage aufgeklärt ist, bis unsere Leiden ein Ende nehmen. Wie es auch damit bestellt sein mag, so müssen wir doch an der Zuversicht festhalten, die uns die Leiden vermindert, und die Schmerzen überwinden läßt, damit wir es dahin bringen, daß wir unsern Kindern einen fleckenlosen, geachteten Namen hinterlassen.

Alfred.

Der Brief von meiner Frau, den ich am 5. October 1896 erhielt, war vom 13. August datiert und war der einzige von den vielen, die sie an mich geschrieben, der an mich gelangte. Ich gebe nur diesen kurzen Auszug daraus:

13. August 1896.

Diesen Augenblick erhalte ich Deinen Brief vom 6. Juli, und schreibe Dir noch mit vom Weinen geschwollenen Augen. Armer, armer, geliebter Mann, was hast Du für einen Leidensweg zurückzulegen, was für ein Martyrium ergeht über Dich! Das ist so grauenhaft, so entsetzlich, daß der Gedanke daran allein mich wahnsinnig macht.

Lucie.

Im November erhielt ich keinen einzigen der Briefe, die meine Frau geschrieben, sie gelangten auch nie in meine Hände.

Im December erhielt ich von all den Briefen meiner Frau nur den nachfolgenden vom 10. October, hier ein Auszug:

Paris, 10. October 1896.

Ich erwarte in lebhaftester Unruhe Deine Briefe. Stelle Dir vor, daß ich seit dem 9. August, das heißt seit fast zwei und einem halben Monat, keine Nachrichten von Dir habe; die Wochen, die zwischen den Posteingängen liegen, sind lang und voll von schrecklicher Besorgnis, und jeder Tag der Verzögerung bringt mir neue Todesqualen.

Lucie.

Am Januar 1897 schrieb ich meiner Frau:

Salut-Inseln, 4. Januar 1897.

Ich habe Deine Briefe, sowie diejenigen meiner Lieben vom November eben erhalten. Die tiefe Bewegung, die sie mir verursachen, bleibt sich immer gleich: unbeschreiblich.

Mir geht es wie Dir, geliebte Lucie, meine Gedanken sind immer bei Dir und unsern lieben Kindern, Euch Allen und wenn mein Herz versagen will und keine Kraft mehr hat, um das endlose Leiden zu ertragen, das das Herz zermalmt, wie der Mahlstein das Korn, das alles in Fetzen reißt, was man Reinstes, Edelstes, Höchstes sein eigen nennt, das die Federkraft der Seele entzweibricht, so rufe ich mir selber immer die gleichen Worte zu: »Wie grauenhaft auch Dein Martyrium sein mag, gehe vorwärts, unentwegt, damit Du ruhig mit dem Bewußtsein sterben kannst, Deinen Kindern einen ehrenvollen und geachteten Namen zu hinterlassen.«

Du kennst mein Herz, es hat sich nicht verändert. Es ist das Herz eines Soldaten, dem alles physische Leiden ohne Bedeutung ist, der seine Ehre vor und über alles setzt, der nach dem entsetzlichen, unmöglich scheinenden Zusammenbruch alles dessen, was den Franzosen, den Mann ausmacht, alles dessen, was einzig Existenzberechtigung verleiht, am Leben geblieben ist und stand gehalten hat, weil er Vater war und weil die Ehre des Namens, den unsere Kinder tragen, um jeden Preis wieder hergestellt werden muß.

Ich habe Dir schon ausführlich darüber geschrieben, und habe versucht, Dir klar zusammenzufassen und auseinanderzusetzen, warum ich diese absolute Zuversicht in die Anstrengungen von Euch allen setze; sei nur ganz sicher, der Aufruf, den ich noch im Namen unserer Kinder erlassen, ruft eine Pflicht wach, der sich niemals ein Mensch von Herz entzieht; und andererseits kenne ich die Gefühle zu gut, die Euch alle bewegen, als daß ich je denken könnte, daß irgend jemand von Euch, so lange die Wahrheit noch nicht entdeckt ist, auch nur auf Augenblicke erschlaffen könnte.

Es richten sich also alle Gemüter, alle Energie nur auf ein Ziel: dem Wild nachzujagen, bis es bezwungen ist: dem Urheber oder den Urhebern dieses schändlichen Verbrechens. Aber leider sind, wie ich Dir auch schon gesagt, in einer so entsetzlichen Lage, die schon so lange Zeit andauert, den Kräften des Herzens und des Kopfes Grenzen gesteckt. Ich weiß auch, was Du leidest, und das ist furchtbar.

Nun steht es eben weder in Deiner noch in unserer Macht, mein Martyrium abzukürzen, nur die Regierung besitzt Hilfsmittel, die machtvoll, eingreifend genug sind, die Nachforschungen zu betreiben, wenn sie nicht will, daß ein Franzose, der von seinem Vaterland nichts als Gerechtigkeit, volle Aufklärung, die ganze Wahrheit in diesem düsteren Drama fordert, der vom Leben nichts mehr verlangt, als den Tag noch zu schauen, wo seinen Kindern die Ehre wiedergegeben sein wird, unter der Last so grauenhafter Verhältnisse, in die er um eines Vergehens willen geraten, das er nicht begangen, zusammenbricht.

Ich hoffe also, daß auch die Regierung Dir beistehen wird. Was auch aus mir werden mag, ich kann Dir nur mit der ganzen Kraft meiner Seele wiederholen, daß Du das Vertrauen, die Kraft und den Mut nicht verlieren sollst, und ich kann nur immer wieder Dich so von ganzem Herzen und so mit aller Kraft umarmen, wie ich Dich und unsere geliebten, angebeteten Kinder liebe.

Alfred.

Aus den Briefen meiner Frau aus jener Zeit gebe ich folgende Auszüge:

Paris, 12. November 1896.

Ich habe Deine guten Briefe vom 3. und 5. October erhalten; ich bin noch ganz glücklich darüber, daß ich mich auf Augenblicke der köstlichen Empfindung hingeben konnte, die durch Deine Worte in mir hervorgerufen wurde. Ich bitte Dich inständig, geliebter Mann, denke nicht an meinen Schmerz, und an die Leiden, die ich ertragen muß; wie ich Dir schon oft gesagt, ich komme erst in zweiter Linie und ich wäre unglückselig, wenn ich durch meine Klagen zu Deinen Leiden noch einen neuen Schmerz hinzufügen würde. Beschäftige Dich also nicht mit mir; Du bedarfst aller Kräfte, alles Mutes, um den Seelenkampf aushalten zu können, der so hart ist, so schmerzlich, und Dich nicht durch körperliche Müdigkeit, durch das Klima, durch die Entbehrungen aller Art, die Dir auferlegt sind, niederdrücken zu lassen.

Paris, 24 November 1896.

Ich möchte alle Tage zu Dir kommen können, um zu plaudern. Aber was nützt es, immer dieselben Dinge zu wiederholen? Ich weiß sehr gut, daß alle meine Briefe sich ähnlich sehen, denn sie sind alle von demselben Gedanken erfüllt, dem einzigen, der uns alle beschäftigt, demjenigen, von dem unser ganzes Leben, dasjenige der Kinder, die Zukunft einer ganzen Familie abhängt. Wie Du, so habe auch ich nur Eins, woran ich mich klammere, Deine Rehabilitierung, ich verfolge nur ein Ziel: Dir Deine Ehre wieder zu verschaffen; außer dieser fixen Idee, die mich beständig verfolgt, interessiert mich nichts, berührt mich nichts …

Lucie.

Dann im Februar:

Paris, 15. Februar 1897

Ich hoffte, diesen Monat noch einige Deiner lieben Briefe zu erhalten, ich freute mich darauf, daß Du mit mir plaudern würdest, da aber nichts gekommen, nahm ich Deine Briefe vom October nochmals vor und las sie immer wieder.

Paris, 25. December 1896.

Wieder liefere ich meine Correspondenz mit dem bittern Kummer ab, daß ich Dir die Nachricht, die Du ersehnst, die wir mit solcher Seelenangst erwarten, die Nachricht von Deiner Rehabilitierung, noch nicht geben kann. Ich weiß, daß das für Dich eine neue Enttäuschung sein wird, eine Verlängerung Deiner Leiden, und darum bin ich doppelt unglücklich darüber … Armer Freund, ich stehe furchtbare Todesängste, entsetzliche Herzbeklemmungen aus um Deiner Schmerzen willen, die all unsere Thätigkeit, all unsere Willenskraft nicht abzukürzen im stande sind.

Lucie.

Im März ließ man mich bis zum 28. warten, bevor man mir die Januarbriefe meiner Frau übergab. Zum erstenmal wurden mir diese Briefe nur in Copieen abgeliefert. Wer weiß nun, wie viel von dem, was durch irgend eine gewöhnliche, banale Hand abgeschrieben worden, dem Originaltext entspricht. Ich kann es nicht entscheiden. Seit ich diese Zeilen geschrieben, habe ich vom Colonialminister die Herausgabe sämtlicher Briefe meiner Frau verlangt, sowie auch derjenigen, die ich nur in Copieen erhalten, ferner noch die Niederschriften, die ich während meines Aufenthalts auf der Teufelsinsel gemacht; zu diesen letzteren war mir jedes Blatt einzeln, numeriert und gezeichnet, eingehändigt worden, und ich mußte erst das Geschriebene abliefern, bevor ich frisches Papier erhielt.
Alle von mir auf der Teufelsinsel geschriebenen Papiere sind gefunden und mir zurückgegeben worden, aber von den oben bezeichneten Briefen meiner Frau fanden sich nur noch vier, die anderen waren auf Befehl des damaligen Colonialministers, Herrn Lebon, vernichtet worden.

Ich empfand die neue Kränkung, die all den anderen folgte, in ihrer ganzen Stärke, und war bis in die tiefste Seele dadurch verletzt, aber mein Wille wurde trotzdem nicht geschwächt.

Salut-Inseln, 28. März 1897.

Nach langem, angstvollen Harren erhalte ich die Copie zweier Deiner Briefe vom Monat Januar. Du beklagst Dich, daß ich Dir nicht längere Briefe sende, ich habe Dir Ende Januar zahlreiche Briefe geschrieben, sie sind vielleicht unterdessen in Deinen Besitz gekommen.

Und dann kennen wir doch die Empfindungen, die in unsern Herzen leben und unsere Seelen beherrschen. Und wir haben alle beide, alle miteinander, den Becher des Leidens bis auf die Hefe geleert.

Du bittest mich noch, liebe Lucie, daß ich Dir ausführlicher von mir sprechen soll. Ich vermag es leider nicht. Wenn man so entsetzlich leidet, wenn man solche Seelenqualen erduldet, so kann man am Abend nicht sagen, was der Morgen bringt.

Du wirst es mir auch verzeihen, wenn ich nicht immer stoisch geblieben bin, wenn ich Dich, die Du selber so sehr leidest, noch an meinem Leid teilnehmen ließ. Aber es war manchmal zu viel, ich war zu einsam.

Aber heute wie gestern: »Weg mit allen Klagen und Beschuldigungen! Das Leben ist ohne Belang, man muß aber als hohe, reine Menschenseele, die eine geheiligte Pflicht zu erfüllen hat, über alle Schmerzen, wie immer sie auch sein mögen, über alle Leiden triumphieren.«

Sei unbesiegbar, stark und tapfer, schaue weder rechts noch links, nur geradeaus aufs Ziel.

Ich weiß ja wohl, daß Du auch nur ein Mensch bist, aber, wenn Dein Schmerz zu groß wird, wenn die Prüfungen, die Dir die Zukunft vorbehält, zu schwer sind, so betrachte unsere Lieblinge und sage Dir, daß Du leben mußt, daß Du als ihre Stütze da sein mußt bis zu dem Tag, an dem das Vaterland erkennt, wer ich war und wer ich bin …

Was ich Dir aber mit der ganzen Kraft meiner Seele wiederholen will, was ich Dir mit einer Stimme zurufe, der Du immer Gehör geben mußt, das ist: Mut und wieder Mut. Deine und unser beider Willenskraft und Geduld dürfen nie ermatten, so lange die Wahrheit nicht vollkommen ans Licht gebracht und anerkannt ist.

Das, was ich nicht genug in meine Briefe hineinlegen kann, das ist die Liebe, die ich für Dich im Herzen hege. Wenn ich bis hierher mein Seelenleiden ertragen, so habe ich die Kraft dazu aus den Gedanken an Dich, an die Kinder geschöpft …

Alfred.

Hier ein Auszug der Copie aus zwei Briefen meiner Frau (erhalten am 28. März):

Paris, 1. Januar 1897.

Heute habe ich noch mehr als sonst das Bedürfnis, zu Dir zu kommen, mich Dir zu nähern, mich mit Dir über unsere Hoffnungen zu unterhalten. Ich möchte diesen ganzen Tag, der um so trauriger ist, als er mir köstliche, gemeinsame Erinnerungen wach ruft, nur damit verbringen, mit Dir zu plaudern, er würde mir dann weniger lang, weniger bitter erscheinen. Ich kann nicht nochmals die Wünsche ausdrücken, die ich schon so oft und seit so langer Zeit wiederholt. Von ganzem Herzen sehne ich den Augenblick herbei, der so lange ausbleibt, wo wir endlich in Frieden vereint sein werden, wo ich Dir Deinen Namen wieder zu Ehren ziehen kann, wo ich Dich in meine Arme schließen werde … Wir wollen doch die Hoffnung nicht verlieren, daß dieses neue Jahr unsere Wünsche verwirklicht …

In dem Zustand beständigen Harrens, in dem ich lebe, können nur Deine Briefe mir ein wenig Erholung bereiten; sie sind doch etwas von Dir, ein kleines Teilchen Deiner Gedanken, die zu mir kommen und mich während eines langen Monats trösten …

Lucie.

Durch die wenigen Copieen der Briefe, die ich erhalten hatte, war ich nicht im stande gewesen, mir Rechenschaft darüber zu geben, was sich unterdessen in Frankreich zutrug; es seien die Ereignisse jener Zeit hier nur kurz zusammengefaßt:

Der Artikel im »Eclair« vom 15. September 1896, der eine Enthüllung über die ausschließliche Mitteilung der geheimen Acten an die Richter im Beratungssaale brachte.

Die mutige Initiative von Bernard Lazare, der im November 1896 seine Broschüre: » Une erreur judiciaire« publicierte.

Die Veröffentlichung eines Facsimile des Bordereaus durch den »Matin« im November 1896.

Die Interpellation an die Deputiertenkammer durch Castellin am 18. November 1896.

Ich erfuhr diese Ereignisse erst bei meiner Rückkehr nach Frankreich 1899.

Damals wußte weder meine Frau noch irgendwer außerhalb des Kriegsministeriums, daß der wirkliche Verräter durch Oberstlieutenant Picquart entdeckt worden war, niemand kannte das heldenmütige Vorgehen dieses vortrefflichen Officiers, niemand die verbrecherischen Machinationen, die ihn verhinderten, das Werk der Gerechtigkeit zu Ende zu führen.

Dann kamen wieder Originalbriefe, ich erhielt im April einen einzigen von meiner Frau, der vom 20. Februar datiert ist. Ich vernahm daraus, daß ihr auch meine Briefe nur in Copien zukamen. Hier ein Auszug jenes Briefes:

Paris, 20. Februar 1897.

Wieder wurde mir die große Freude zu teil, einen Deiner lieben Briefe zu erhalten, ich bin noch ganz glücklich darüber, obschon ich nur eine Copie davon bekommen habe. Es war mir immer eine so große Befriedigung, wenn ich Deine Schrift sah, mir schien dann, als hätte ich ein Stück von Dir in der Hand, eine Copie verwischt den intimen Charakter eines Briefes und nimmt ihm die Eigenart, welche die rein mechanische und ganz persönliche Arbeit, die den Gedanken begleitet, ihm aufdrückt. Dieses Persönliche fehlt mir, wenn Dein Brief von irgend einer gleichgiltigen Hand copiert wird, und das ist mir von den kleineren Schmerzen, die ich zu ertragen habe, mit einer der bittersten.

Lucie.

Ich schrieb an meine Frau:

Salut-Inseln, 4. Mai 1897.

Ich habe Deine und Eure Correspondenz vom März erhalten und ich lese Deine Briefe, Eure Briefe immer mit derselben schmerzlichen Erregung, mit derselben Trauer, so sehr ist unser aller Gemüt verwundet und durch die Leiden zerrissen.

Ich habe Dir schon vor einigen Tagen in Erwartung Deiner Briefe geschrieben, und ich sagte Dir, daß ich nicht forschen, nicht verstehen wolle, warum man mich auf diese Weise allen Martern unterzieht. Aber wenn ich auch durch die Kraft meines Gewissens, im Gefühl meiner Pflicht mich über alles zu erheben vermochte, wenn ich auch immer noch mein Herz unterdrücke und die Revolten meiner Seele niederschlage, so folgt daraus noch lange nicht, daß ich nicht bis ins Tiefste gelitten habe, daß nicht alles in mir in Fetzen gerissen ist.

Ich habe Dir aber auch gesagt, daß meine Seele keine Entmutigung mehr kennt, und daß Du, Ihr alle, derselben ebenfalls in Euren Herzen keinen Raum mehr geben dürft.

Ja, es ist entsetzlich, auf diese Weise zu leiden, ja, solche Dinge sind furchtbar und bringen allen Glauben an das, was das Leben edel und schön macht, aus dem Geleise; aber heute kann es keinen anderen Trost für die einen sowohl wie für die anderen geben, als die Entdeckung der Wahrheit, die vollste Aufklärung.

Wie viel Du auch leiden magst, wie groß auch die Schmerzen von Euch allen seien, sage Dir immer, daß eine heilige Pflicht zu erfüllen ist, die nichts auf der Welt erschüttern kann: es ist die Pflicht, einen Namen in den Augen von ganz Frankreich in seiner vollen Unbeflecktheit wieder herzustellen.

Nicht wahr, ich habe nicht nötig, Dir jetzt zu sagen, was mein Herz für Dich, für unsere Kinder, für Euch alle empfindet.

In den Tagen des Glückes wird man sich der ganzen Tiefe der Zärtlichkeit gar nicht bewußt, die man für diejenigen hegt, die man liebt. Erst im Unglück, durch die Empfindung für das Leiden derer, für die man den letzten Blutstropfen hingäbe, begreift man die Kraft, versteht man die Macht dieser Gefühle. Wenn Du wüßtest, wie oft ich in den Augenblicken der tiefsten Niedergeschlagenheit den Gedanken an Dich und die Kinder zu Hilfe rufen mußte, um mich zu zwingen, weiter zu leben, um das über mich ergehen zu lassen, was ich ohne das Bewußtsein meiner Pflicht nie hätte über mich ergehen lassen können.

Und das führt mich, mein Liebling, immer wieder an denselben Punct zurück: erfülle Deine Pflicht heldenmütig, unüberwindlich, als ein vornehmes, stolzes Geschöpf, comme une âme très haute et très fière qui est mère. das auch Mutter ist, das will, daß sein Name, der Name seiner Kinder von der furchtbaren Besudelung gereinigt werde.

Also Dir und Euch allen: Mut und immer wieder Mut …

Alfred.

Auszüge aus den Briefen meiner Frau, aus dieser Zeit:

Paris, 5. März 1897.

Ich wollte, bevor ich zu Dir kam, um zu plaudern, erst noch Deine Briefe abwarten, aber ich kann meine Ungeduld nicht mehr beherrschen, und bin nicht im stande, mir eine so lange Tortur aufzuerlegen; ich habe so sehr das Bedürfnis darnach, mich zu erholen, zu Dir zu kommen, mein Herz an Deinem zu erwärmen und einen Augenblick zu ruhen, bevor ich mich wieder auf die entsetzlichen Gedanken an diese lange, endlose Trennung concentriere. Wenn ich schreibe, habe ich wenigstens eine Weile lang meine Illusion, die Feder, die Phantasie, die Anstrengung meines Willens, das alles bringt mich Dir so nahe, so ganz nahe, wie ich es in Wirklichkeit zu sein wünsche, damit ich Dich trösten, über die Zukunft beruhigen könnte, damit ich die ganze Hoffnung zu Dir bringen, Dir mitteilen könnte, die in meinem Herzen eingeschlossen ist. Es ist ja nur ein flüchtiger Moment, aber ich empfinde doch auf Augenblicke das Glück bei Dir zu sein, und ich lebe wieder auf …

Lucie.

Paris, 16. März 1897.

Vor einigen Tagen bin ich zu Dir gekommen, ich lebte damals wieder in der angstvollen Erwartung Deiner Nachrichten, nun habe ich die lieben, so heiß ersehnten Briefe erhalten. Von jenem Augenblick an trinke ich Deine Worte in mich je me pénètre de tes paroles. und werde nicht müde, sie immer wieder zu lesen; es sind meine einzigen guten Zeiten, wenn ich ein wenig in Deiner Nähe leben kann.

So wie die letzten Monate habe ich auch diesen nicht die Freude gehabt, Deine Schrift zu sehen, da mir nur eine Copie zugegangen ist, Du kannst Dir wohl vorstellen, wie sehr mein Herz blutet, daß mir dieser einzige Trost, der mir noch bis zu diesem Sommer gewährt worden, nun auch entrissen ist. Wie ist doch der Weg, den wir wandern müssen, voller Bitternis und Schmerz, es sind ja Kleinigkeiten, über die man schweigen sollte, wenn man sie mit der Größe unserer Aufgabe vergleicht, aber für sensitive Naturen sind alle diese Wunden deshalb nicht minder brennend.

Da es doch so sein muß, wollen wir uns darüber nicht weiter aufhalten, und da wir aus Achtung für unsern Namen und den Namen unserer Kinder unglückseligerweise eine heilige Pflicht zu erfüllen haben, so wollen wir uns auch zur ganzen Höhe unserer Mission erheben und uns nicht dazu erniedrigen, diese Nichtigkeiten ins Auge zu fassen. Wenn uns der Kummer vernichtet, so wollen wir wenigstens die Befriedigung davon tragen, daß wir unsere Pflicht erfüllt, wir wollen uns im Bewußtsein unseres reinen Gewissens aufrichten und unsere ganze Energie, unsere Kraft bewahren, um die Angelegenheit unserer Rehabilitierung zu einem guten Ende zu führen.

Lucie.

Im Juni 1897 erhob sich ein blinder Lärm, der die schlimmsten Folgen hätte haben können. Die Instruction besagte, daß beim geringsten Anzeichen eines Fluchtversuches, der von mir oder von außen her angestrebt werden würde, ich das Leben riskiere. Der diensthabende Wärter sollte durch die wirksamsten Mittel eine Entführung oder Entweichung verhindern. Man kann sich vorstellen, wie gefährlich bei einer derartigen Instruction der blinde Lärm war, der unter dem zu meiner Bewachung bestimmten Personal entstand. Diese Verordnung war außerdem unerhört, denn man hätte mich doch nicht für einen derartigen Versuch verantwortlich machen können, der ohne mein Wissen von außen her angestellt worden wäre.

Am 6. Juni gegen neun Uhr abends stieg eine Rakete von der Teufelsinsel auf. Man behauptet, daß gleichzeitig ein großer Schoner in dem von der Josefs- und Teufelsinsel gebildeten Golf bemerkt worden sei. Der Commandant der Strafcolonie gab zuerst den Befehl, daß blind geschossen werden und Kampfstellung gefaßt werden solle. Er selbst kam mit Hilfspersonal herbei, um die Mannschaft der Teufelsinsel zu verstärken. Ich lag, wie jede Nacht, von meinem Wärter bewacht in meiner Zelle eingeschlossen, und wurde durch die aufeinander folgenden Kanonen- und Flintenschüsse aus dem Schlaf aufgeschreckt, sah meinen Wärter schußbereit, mich beobachten. Ich fragte: »Was geht vor?« Der Wärter antwortete mir nicht. Da ich mich aber in dem ausschließlichen Gedanken an meine Ehre nicht weiter um die Vorfälle der Außenwelt kümmerte, streckte ich mich wieder auf meinem Lager aus. Das war vielleicht mein Glück; der diensthabende Wärter hatte die strengsten Vorschriften, und man kann sich wohl fragen, ob er nicht auf mich geschossen haben würde, wenn ich durch dieses ungewöhnliche Geräusch überrascht, aus meinem Bett gesprungen wäre.

Am 10. August schrieb ich an meine Frau:

Ich habe Deine drei Briefe vom Juni und alle diejenigen von meiner Familie, ich will unter dem immer gleich lebhaften, gleich schmerzlichen Eindruck, die alle die köstlichen Erinnerungen, alle die entsetzlichen Leiden in mir hervorrufen, Dir antworten.

Ich will Dir wieder und wieder zuerst meine tiefe Liebe, meine unendliche Zärtlichkeit, meine Bewunderung für Deinen vornehmen Charakter ausdrücken; ich will Dich auch in meiner Seele lesen lassen und ich werde Dir Deine Pflicht vorzeichnen und Dein Recht, das Recht, dessen Du Dich erst im Tod begeben darfst.

Und dieses Recht, diese unwandelbare Pflicht, sowohl für mein Vaterland, als für Euch alle, das besteht darin, daß Ihr volle und ganze Aufklärung über die entsetzliche Tragödie fordert, daß Ihr ohne Schwäche, wie auch ohne Großsprecherei, aber mit unbesiegbarer Energie fordert, daß unser Name, der Name, den unsere lieben Kinder tragen, von diesem entsetzlichen Makel rein gewaschen werde.

Und dieses Ziel mußt Du, müßt Ihr alle als gute tapfere Franzosen erreichen, die das Martyrium erdulden, die aber alle, wie groß auch der Schimpf und die Bitterkeit gewesen sein mag, auch nie einen Augenblick ihre Pflicht gegen das Vaterland vergessen haben. An dem Tag, an dem es Licht werden, an dem die ganze Wahrheit enthüllt sein wird – und das muß geschehen, wenn es ein solches Ziel gilt, dürfen weder Zeit, noch Geduld, noch Willensanstrengung in Betracht kommen – dann, wenn ich nicht mehr am Leben sein sollte, wird es Deine Sache sein, mein Andenken von dieser neuen, ungerechten Beschimpfung, zu der nie irgend eine Berechtigung vorlag, zu reinigen.

Und nochmals wiederhole ich, daß, so viel ich auch gelitten habe, so groß auch die Martern gewesen sein mögen, die mir auferlegt wurden, Martern, die sich nie verwinden lassen und die nur durch die Leidenschaft zu entschuldigen sind, in welche die Menschen sich zu Zeiten verstricken, ich doch niemals vergessen habe, daß über den Menschen, über ihren Leidenschaften, über ihren Verirrungen, das Vaterland steht. Ihm wird es dann zukommen, mein höchster Richter zu sein.

Um ein anständiger Mensch zu sein, genügt es nicht, daß man nicht im stande ist, seinem Nächsten hundert Sous aus der Tasche zu stehlen, ein anständiger Mensch sein, heißt: sich immer in den Spiegel, der nicht vergißt, der alles sieht, der alles weiß, betrachten, kurz, in seinem Gewissen sich beschauen dürfen, mit dem sicheren Bewußtsein, immer und überall seine Pflicht erfüllt zu haben. Und ich habe dieses Bewußtsein.

Liebe, gute Lucie, erfülle also mutig und unerbittlich Deine Pflicht, als gute, tapfere Französin, die ein Martyrium erduldet, die aber verlangt, daß der Name, den sie trägt, den ihre Kinder tragen, von dem furchtbaren Makel gereinigt werde. Es muß Licht werden, helles Licht. Die Zeitfrage kommt dabei gar nicht mehr in Betracht.

Und zudem weiß ich gut genug, daß die Gefühle, die mich bewegen, auch Euch bewegen, daß sie uns, Deiner Familie, wie den Meinen gemeinsam sind.

Ich kann nicht über die Kinder mit Dir sprechen. Ich kenne Dich zu gut, um auch nur einen Augenblick über die Art und Weise im Zweifel zu sein, in der Du sie erziehst. Verlasse sie nie, sei mit ganzer Seele und mit ganzem Herzen immer bei ihnen, höre sie immer, auch wenn Dir ihre Fragen noch so lästig sind.

Ich habe Dir oft gesagt, daß die Erziehung der Kinder nicht darin besteht, daß man ihnen ihre materielle oder intellectuelle Existenz sichert, sondern darin, daß ihnen der Halt geboten wird, den sie in ihren Eltern finden müssen, das Vertrauen, das diese ihnen einflößen müssen, die Gewißheit, daß sie immer eine Stätte haben, wo sie ihr Herz öffnen können, wo sie Vergessen für ihre Leiden, ihre Schmerzen, déboires eigentlich Nachwehen, Katzenjammer. wie unbedeutend, wie einfältig sie auch erscheinen mögen, finden.

Temperaturkurve im Inneren meiner Zelle.
(Aufgenommen während der trockenen Jahreszeit 1898)

In diese letzten Zeilen möchte ich noch meine ganze Liebe für Dich, unsere Kinder, Deine lieben Eltern, für Euch alle legen können, für die, die ich so von ganzem Herzen liebe, für alle unsere Freunde, deren unwandelbare Ergebenheit ich ahne und kenne, und ich möchte Dir wiederholen: Mut, Mut; nichts soll Deinen Willen erschüttern, denn über meinem Leben schwebt die höchste Sorge, diejenige für die Ehre meines Namens, des Namens, den Du trägst, den unsere Kinder tragen. Ich möchte Dich mit der heißen Glut entflammen, die meine Seele belebt, jener heißen Glut, die nur mit meinem Leben erlöschen wird …

Alfred.

Seitdem man meine Hütte mit der Pallisade umgeben, war sie vollständig unbewohnbar geworden, es war der reine Tod. Von diesem Augenblick an war keine Luft und kein Licht mehr darin, während der trockenen Jahreszeit war die ungeheuere erstickende Hitze, in der Regenzeit, die Feuchtigkeit fast unerträglich, in diesem Land, in welchem die Feuchtigkeit die furchtbare Geißel der Europäer ist. Ich war nicht nur durch den Mangel an Bewegung in freier Luft, sondern auch durch das mörderische Klima vollkommen erschöpft. Auf den Rapport des Arztes hin wurde der Bau einer neuen Hütte beschlossen.

Im Monat August 1897 wurde die Pallisade meiner Promenade weggerissen, um bei meiner neuen Behausung verwendet zu werden. Ich wurde auch während dieser Zeit wieder eingeschlossen.



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