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III

Nach Schluß der Untersuchung durch du Paty wurde von General Mercier, dem Kriegsminister, der Befehl zur Eröffnung der regulären Untersuchung erteilt. Meine Führung war vollständig einwandfrei; nicht das Geringste in meinem Leben, meinen Handlungen, meinen Beziehungen konnte Veranlassung zu einem Mißverständnis geben.

Am 3. November unterzeichnete General Saussier, Militairgouverneur von Paris, diesen Untersuchungsbefehl.

Die Untersuchung wurde Major d'Ormescheville, dem Berichterstatter des ersten Kriegsgerichts in Paris, übergeben; er war nicht im stande, eine bestimmte Anklage zu erheben. Sein Rapport ist ein Gewebe von Anspielungen und verleumderischen Insinuationen; man hat es auch auf dem Kriegsgericht von 1894 nach Gebühr aufgefaßt; am letzten Verhandlungstag schloß der Regierungscommissar die Beweisaufnahme damit, daß er zugab, daß alles, mit Ausnahme des Bordereau, hinfällig geworden sei. Die Polizeipräfectur, die sich über mein Privatleben informiert hatte, gab einen durchaus günstigen Bericht über mich ab; der Agent Guénée, der dem Informationsbureau des Kriegsministeriums angehört, stellte dagegen einen anonymen Bericht über diesen Punct aus: leeres, verleumderisches Geschwätz. Aber nur dieser letztere Rapport wurde dem Kriegsgericht 1894 vorgelegt, der Rapport der Polizeipräfectur, den man Henry übergeben hatte, verschwand. Die Beamten des Obersten Gerichtshofes fanden den Entwurf dazu in den Acten der Präfectur und machten 1899 den wahren Sachverhalt offenkundig.

Nach den sieben Wochen der Untersuchung, während welcher ich streng isoliert gehalten wurde, kam der Regierungscommissar, Major Brisset, am 3. December 1894 zu dem Schluß, daß ich in Anklagestand versetzt werden müßte, da genügend Wahrscheinlichkeitsgründe gegen mich vorlägen. Diese Wahrscheinlichkeitsgründe fußten auf den widersprechenden Aussagen der Schriftexperten. Zwei Experten, Herr Gobert, Experte bei der Bank von Frankreich, und Herr Pelletier entschieden sich zu meinem Gunsten; zwei andere Experten, die Herren Teyssonnières und Charavay, waren gegen mich, obschon sie zugaben, daß zwischen der Schrift des Bordereau und der meinigen zahlreiche Verschiedenheiten existierten. Herr Bertillon, der nicht als Experte functionierte, sprach auf Grund angeblich wissenschaftlicher Schlüsse gegen mich. Es ist bekannt, daß beim Proceß in Rennes Herr Charavay seinen Irrtum feierlich zugegeben hat.

Am 4. December 1894 unterzeichnete General Saussier, der Militairgouverneur von Paris, den Befehl, daß ich in Anklagezustand versetzt werden sollte.

Damals wurde ich mit Herrn Demange in Verbindung gebracht, dessen bewundernswerte Aufopferung mir in all meinen Prüfungen eine wirkliche Stütze war.

Immer noch verweigerte man mir die Erlaubnis, meine Frau zu sehen, endlich, am 5. December, wurde mir gestattet, einen offenen Brief an sie gelangen zu lassen.

Dienstag, 5. December 1894.

Meine liebe Lucie,

endlich kann ich einige Zeilen an Dich richten. Soeben hat man mir mitgeteilt, daß am 19. dieses Monats der Verhandlungstermin stattfinden wird. Man verweigert mir aber, Dich zu sehen.

Ich will Dir nicht schildern, was ich gelitten; die Sprache hat keine Worte, die dazu ausreichten.

Erinnerst Du Dich noch, wie ich Dir davon sprach, wie glücklich wir seien? Das ganze Leben schien uns zu lachen. Und auf einmal dieser Schlag, unter dem mein Geist noch heute bebt! Ich, ich bin des ungeheuerlichsten Verbrechens angeklagt, das ein Soldat begehen kann! Noch glaube ich, nur das Opfer eines fürchterlichen Traumes zu sein.

Die Wahrheit wird aber bald ans Licht kommen, mein Gewissen ist vollkommen ruhig und macht mir nicht den leisesten Vorwurf. Ich habe immer meine Pflicht gethan und nie das Haupt gebeugt. Wie ich mich so allein mit meinen wirren Gedanken in dem düstern Gefängnis sah, brach ich fast zusammen, ich hatte Augenblicke der Raserei, ich redete irre, aber mein Gewissen wachte über mich. Es sprach zu mir: »Kopf hoch, der Welt ins Auge geschaut! Dein Gewissen verleiht Dir Kraft, gehe Deinen geraden Weg und erhebe Dich! Die Prüfung ist furchtbar, aber sie muß ertragen werden.«

Ich schreibe Dir nicht ausführlicher, weil der Brief heute abend noch fort soll.

Ich küsse Dich so innig, wie ich Dich liebe und verehre, tausend Küsse an die Kinder. Ich wage nicht, länger von ihnen zu sprechen, sonst treten mir die Thränen in die Augen.

Alfred.

Aus folgendem Brief, den ich am Vorabend vor dem Termin an meine Frau schrieb, geht deutlich meine Zuversicht in die Rechtlichkeit der Richter hervor:

Nun ist das Ende meines Martyriums erreicht. Morgen werde ich erhobenen Hauptes und ruhigen Gemütes den Gerichtssaal verlassen.

Die Prüfung, die ich erduldet, diese furchtbare Prüfung hat meine Seele geadelt. Ich werde als ein besserer Mensch zu Euch zurückkehren und will Dir und unseren Kindern mein ganzes künftiges Leben weihen.

Wie ich Dir schon berichtete, habe ich schreckliche Krisen durchgemacht; ich hatte wahre Wahnsinnsanfälle, wenn ich mir vorstellte, daß man mich eines so ungeheuerlichen Verbrechens anklagen konnte.

Ich bin bereit, vor Soldaten als ein Soldat zu erscheinen, der sich nichts vorzuwerfen hat. Sie werden in meinem Antlitz, in meiner Seele lesen, sie werden zur Ueberzeugung von meiner Unschuld gelangen, wie alle die, die mich kennen.

Meinem Vaterland bin ich von ganzem Herzen ergeben, ich habe ihm meine ganze Kraft, meine ganze Intelligenz gewidmet; was sollte ich da fürchten? Schlafe also ruhig, Liebling, und mache Dir keine weitere Sorge. Denke nur an die Freude, wenn wir uns wieder angehören, wenn wir uns umarmen können und in unserer Liebe bald die traurigen Tage vergessen werden.

Indem ich diesem glücklichen Augenblick entgegensehe, sende ich Dir tausend Küsse.

Alfred.

Am 19. December 1894 begannen die Verhandlungen und zwar, trotz des energischen Protestes meines Advocaten, unter Ausschluß der Oeffentlichkeit; ich selber wünschte dringend öffentliche Verhandlung, damit meine Unschuld vor aller Welt zu Tage trete.

Als ich von einem Lieutenant der republicanischen Garde in den Gerichtssaal geführt wurde, sah und hörte ich vorerst nichts. Ich war mir durchaus nicht bewußt, was um mich her vorging, so vollständig war mein Geist absorbiert, durch den entsetzlichen Alb, der auf mir lastete, durch die ungeheuerliche Anklage auf Verrat, deren Nichtigkeit, Haltlosigkeit ich im nächsten Augenblick darzuthun gedachte.

Ich unterschied nur ganz hinten auf der Tribüne die Richter des Kriegsgerichts, Officiere, gleich mir, Cameraden, vor denen ich meine Unschuld endlich taghell beweisen konnte. Als ich mich vor meinem Verteidiger, Herrn Demange, niedersetzte, betrachtete ich die Richter. Sie waren starr und unbeweglich.

Hinter ihnen befanden sich die Ersatzrichter, Major Picquart, als Vertreter des Kriegsministeriums, Herr Lépine, der Polizeipräfect. Mir gegenüber Hauptmann Brisset, als Regierungscommissar, und der Secretair Valecalle.

Die ersten Vorgänge, der Kampf, den Herr Demange ausfocht, um die Forderung nach Oeffentlichkeit der Verhandlung durchzusetzen, die heftigen Einwände des Präsidenten des Kriegsgerichts, die Räumung des Saales, all das vermochte noch nicht, meinen Geist von dem Ziel abzulenken, das ich mir gesteckt. Es drängte mich, Auge in Auge meinen Anklägern gegenüber zu stehen, es drängte mich, die elenden Argumente einer infamen Anklage zu zertrümmern, meine Ehre zu verteidigen.

Ich hörte die entstellten und haßerfüllten Aussagen du Patys, hörte die verlogene Darstellung des Major Henry in Bezug auf unser Gespräch bei meinem Transport vom Kriegsministerium ins Gefängnis von Cherche-Midi, am Tage meiner Verhaftung. Ich protestierte ruhig und energisch gegen beide Aussagen. Aber die Erregung packte mich dann, als der Major ein zweites Mal vor die Schranken trat und erklärte, daß er von vollkommen einwandfreier Seite wisse, daß ein Officier vom zweiten Bureau Verrat übe, und heftig forderte ich, daß die Persönlichkeit, auf die er sich berief, mir confrontiert werde. Da schlug er sich theatralisch auf die Brust und fügte hinzu: »Wenn ein Officier ein Geheimnis im Kopfe hat, so vertraut er das nicht einmal seinem Käppi an.« Dann wandte er sich zu mir: »Und dieser hier ist der Verräter.« Trotz energischer Protestationen meinerseits konnte ich nicht durchsetzen, daß seine Worte aufgeklärt wurden, und vermochte somit auch deren Unrichtigkeit nicht zu beweisen.

Ich hörte auch die Widersprüche in den Gutachten der Schriftexperten, zwei von ihnen sprachen zu meinen Gunsten, zwei gegen mich, doch constatierten auch diese verschiedene Ungleichheiten zwischen meiner Schrift und derjenigen des Bordereau. Der Aussage von Bertillon legte ich keinerlei Bedeutung bei, denn sie schien mir einfach verrückt.

Alle Indicien wurden in diesen Verhandlungen als nebensächlich zurückgewiesen; auch fand man keine plausibeln Motive, die man zur Begründung eines so infamen Verbrechens hätte anführen können. Am vierten und letzten Verhandlungstage ließ der Regierungscommissar alle Nebenanklagen beiseite, es blieb als Belastungsgrund nur noch das Bordereau übrig. Er ergriff es, schwenkte es stürmisch in der Luft und rief:

»Es bleibt noch das Bordereau, aber das genügt. Die Herren Richter mögen nur ihre Lupen nehmen und urteilen.«

Herr Demange wies in seinem Plaidoyer mit hinreißender Beredsamkeit die Expertenaussagen zurück und deckte die Widersprüche in denselben auf. Er schloß mit der Frage, wie es denn überhaupt möglich sei, ein derartiges Gebäude von Anklagen zu errichten, wenn man auch nicht die geringste Triebfeder zu der verbrecherischen Handlung habe entdecken können.

Die Freisprechung schien mir sicher.

Und dennoch wurde ich verurteilt.

Vier und ein halbes Jahr später erfuhr ich, daß das Urteil der Richter durch die Aussage Henrys (Henry wurde auch in der Folge direct zum Fälscher) und durch die Mitteilung von geheimen Actenstücken an den Gerichtshof überrumpelt worden war. Diese Actenstücke waren dem Angeklagten und der Verteidigung unbekannt, teils überhaupt nicht auf mich anwendbar und teils gefälscht.

Die Mitteilung der geheimen Actenstücke an den Gerichtshof war angeordnet durch General Mercier.



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