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II

Das Jahr 1893 verfloß ohne irgendwelchen Zwischenfall, durch die Geburt unseres Töchterchens Jeanne fiel ein neuer Sonnenstrahl in unser Heim.

Das Jahr 1894 sollte mein letztes Dienstjahr im Generalstab sein; ich wurde für die letzten drei Monate besagten Jahres noch zu einem in Paris stationierten Infanterieregiment abcommandiert.

Ich trat am 1. October 1894 den Dienst an; Sonnabend, den 13. October, erhielt ich eine dienstliche Note, in der ich aufgefordert wurde, mich am darauffolgenden Montag zur Generalinspection im Ministerium einzufinden; ausdrücklich war darin bemerkt: »in Civil«. Die Stunde schien mir für eine Inspection sehr früh angesetzt, denn sonst fand die Generalinspection abends statt, die Aufforderung, in Civil zu erscheinen, überraschte mich. Aber schließlich merkte ich mir nur den dienstlichen Teil der Note und vergaß das Uebrige rasch, da ich ihm keine weitere Bedeutung beimaß.

Sonntag abend hatten wir wie gewöhnlich bei meinen Schwiegereltern diniert, von Herzen fröhlich kehrten meine Frau und ich nach Hause zurück, so recht durchdrungen von dem Behagen, das uns unser Familienleben, unsere anregende Umgebung bot.

Montag morgen verabschiedete ich mich von den Meinigen. Mein Söhnchen Pierre, damals drei und ein halbes Jahr alt, begleitete mich wie gewöhnlich noch bis zur Thüre. An diesen Augenblick mußte ich während meiner langen Leidenszeit so oft denken; in den schlaflosen Nächten, in den Stunden, die kein Ende nahmen, sah ich das Kind vor mir, wie ich es zum letzten Mal in meine Arme gedrückt, und so sehr mich auch die Erinnerung schmerzte, sie entfachte doch immer wieder meine Hoffnung und den Mut, um der Kinder willen auszuhalten.

Es war ein schöner, frischer Morgen, die Sonne stieg am Horizonte auf und zerteilte die leichten Nebel; alles verkündete einen herrlichen Tag. Da ich ein wenig zu früh gekommen, ging ich noch einigemale vor dem Ministerium auf und ab, dann begab ich mich zum Bureau hinauf. Ich wurde bei meinem Eintritt von Major Picquart begrüßt, der auf mich gewartet zu haben schien und der mich dann auch sofort in sein Cabinet führte. Ich war erstaunt, keinen meiner Cameraden zu sehen, da sonst die Officiere immer gruppenweise zur Inspection einberufen werden. Nachdem ich einen Augenblick mit Major Picquart über gleichgiltige Dinge gesprochen, geleitete er mich in das Cabinet des Generalstabschefs. Mein Erstaunen war groß, als ich mich dort nicht dem Generalstabschef gegenüber sah, sondern von Major du Paty in Uniform empfangen wurde. Es waren ferner noch drei mir völlig unbekannte Personen in Civil zugegen: Herr Cochefort, der Chef der Polizei, sein Secretair und der Archivar Gribelin.

Major du Paty kam auf mich zu und sagte mit gepreßter Stimme: »Der General wird bald kommen. Wollen Sie unterdessen, da mir mein Finger weh thut, statt meiner einen Brief schreiben?« So seltsam auch unter diesen Bedingungen das verlangen war, erfüllte ich es doch sogleich. Ich setzte mich an ein Tischchen, auf dem alles bereit lag, Major du Paty placierte sich dicht neben mich und verfolgte meine Hand mit den Augen. Zuerst ließ er mich ein Inspectionsformular ausfüllen, dann dictierte er mir einen Brief, in welchem einige Stellen an den incriminierten Brief, den ich später als das »Bordereau« kennen lernte, erinnerten, während des Dictats unterbrach er mich lebhaft und sagte: »Sie zittern ja.« – Ich zitterte nicht. Beim Kriegsgericht 1894 erklärte er diese brüske Unterbrechung damit, daß er sagte, er habe gesehen, daß ich nicht zittere, habe daraus geschlossen, daß er es mit einem Simulanten zu thun habe, und habe daher versucht, meine Sicherheit zu erschüttern. – Diese in heftigem Tone ausgestoßene Bemerkung, ebenso wie die feindselige Haltung du Patys machte mich stutzig. Da ich aber nicht im entferntesten irgend einen Verdacht schöpfte, dachte ich, ich schreibe ihm zu schlecht. Ich hatte kalte Hände, denn draußen war es kühl gewesen, und ich war erst einige Minuten in dem geheizten Raum. So antwortete ich ihm: »Ich habe kalte Hände.«

Als ich nun, ohne irgend welche Bestürzung zu verraten, weiterschrieb, versuchte Major du Paty eine zweite Aufforderung und sagte: »Passen Sie auf, die Sache ist ernst.« So sehr ich auch über dieses ebenso unhöfliche wie ungewohnte Benehmen überrascht war, versuchte ich nur, besser zu schreiben. Nunmehr kam Major du Paty, wie er vor dem Kriegsgericht 1894 erklärte, zu der Ansicht, daß ich meine ganze Kaltblütigkeit bewahre und daß es unnötig sei, das Experiment weiter fortzusetzen. Die Dictatscene war bis ins kleinste Detail vorbereitet gewesen, sie hatte aber den Erwartungen nicht entsprochen, die man in sie gesetzt.

Sobald das Dictat beendet war, erhob sich Major du Paty, legte seine Hand auf meine Schulter und rief mit donnernder Stimme: »Im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie, Sie sind des Hochverrats beschuldigt.« Wäre ein Blitzstrahl vor mir in die Erde gefahren, ich hätte nicht erschütterter sein können; ich stieß zusammenhanglose Worte hervor, indem ich gegen eine so schändliche Anklage protestierte, zu der nichts in meinem Leben Berechtigung gab.

Daraufhin stürzten sich Herr Cochefort und sein Secretair auf mich und durchsuchten mich. Ich setzte ihnen nicht den geringsten Widerstand entgegen und rief ihnen zu: »Nehmen Sie meine Schlüssel und durchsuchen Sie bei mir zu Hause alles, ich bin unschuldig.« Dann fügte ich hinzu: »Legen Sie mir wenigstens die Beweise für die Niederträchtigkeit vor, die ich nach Ihren Angaben begangen haben soll.« Die Belastungsmomente sind erdrückend, antwortete man mir, ohne dieselben zu specialisieren.

Hierauf wurde ich durch Major Henry und einen Schutzmann nach dem Gefängnis von Cherche-Midi überführt. Während dieser Fahrt fragte mich Major Henry, der übrigens genau wußte, worum es sich handelte, denn er hatte hinter einem Vorhang versteckt der ganzen Scene beigewohnt, was für eine Anklage gegen mich erhoben sei. Meine Antwort wurde dann das Thema jenes Rapportes, dessen Verlogenheit schon in den ersten Verhören, die ich bestanden und noch in den nächsten Tagen zu bestehen hatte, klar hervortrat.

Bei meiner Ankunft im Gefängnis wurde ich in eine Zelle gebracht, deren Fenster nach dem Gefängnishof schaute. Ich wurde vollständig isoliert gehalten, und jede Verständigung mit den Meinigen war mir untersagt. Ich hatte weder Papier, noch Tinte, noch Feder, noch Bleistift zur Verfügung. In den ersten Tagen wurde ich in Sträflingsbehandlung genommen, späterhin hob man diese Maßregel wieder auf.

Die Angestellten, die mir mein Essen brachten, wurden immer von einem Sergeanten und einem Polizisten begleitet, welch letzterer allein den Schlüssel zu meiner Zelle in Händen hatte. Es war auch verboten, mich anzureden.

Als ich mich noch unter dem frischen Eindruck der grauenhaften Scene, die ich eben durchgemacht, und der ungeheuerlichen Anklage, die man gegen mich erhoben, in dieser düstern Zelle sah, als ich an diejenigen dachte, die ich vor wenigen Stunden in Glück und Freude verlassen, geriet ich in einen so entsetzlichen Zustand der Aufregung, daß ich vor Schmerz heulte.

Ich lief in meiner Zelle umher und rannte mit dem Kopf gegen die Wand. Der Commandant des Gefängnisses, von dem Polizisten begleitet, besuchte mich, und das beruhigte mich auf eine Weile.

Ich freue mich, daß ich an dieser Stelle Major Forzinetti, dem Director des Militairgefängnisses, meine Verehrung aussprechen kann; er hat es verstanden, mit der strengsten Pflichttreue des Soldaten die vornehmste Menschlichkeit zu vereinigen.

Während der siebzehn Tage, die folgten, wurde ich durch Major du Paty, welcher als Strafpolizei-Officier functionierte, verhört. Er kam immer erst abends zu mir und wurde von seinem Secretair Gribelin begleitet. Er dictierte mir kleine Bruchstücke aus dem incriminierten Brief, hielt mir beim Lampenlicht schnell Worte, Wortteile aus demselben Schriftstück unter die Augen und fragte mich, ob ich die Schrift kenne. Außer den durch das Verhör vorgeschriebenen Fragen machte er allerhand versteckte Anspielungen auf Thatsachen, von denen ich keine Ahnung hatte, zog sich dann theatralisch zurück und stellte mein Gehirn vor unlösbare Rätsel. Ich wußte immer noch nicht, auf welcher Basis die Anklage begründet war. Trotz meiner dringenden Bitten war es mir nicht möglich, irgendwelche Aufklärung über die ungeheuerliche Anklage zu erhalten. Es war, als schlüge ich in die Luft.

Wenn ich in jenen unendlich langen Tagen und Nächten den Verstand nicht verlor, so ist Major du Paty nicht daran schuld. Ich hatte weder Tinte noch Papier, um meine Gedanken niederzulegen, die ganze Zeit über wälzte ich in meinem Gehirn Bruchstücke von Sätzen herum, die ich ihm ausgepreßt, und die mich immer noch mehr in Verwirrung setzten. Wie sehr ich auch litt, mein Gewissen wachte über mich und sagte mir: »Wenn Du stirbst, so hält man Dich für schuldig; was auch geschehen mag, Du mußt am Leben bleiben, um der ganzen Welt die Kunde von Deiner Unschuld ins Gesicht rufen zu können.«

Am fünfzehnten Tage nach meiner Verhaftung zeigte mir Major du Paty endlich eine Photographie des incriminierten Briefes, der von nun an als das Bordereau bezeichnet wurde.

Diesen Brief hatte ich nicht geschrieben, ich war nicht der Urheber desselben.



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