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Sonnabend, den 5. Januar wurde die Degradation vollzogen, ich ertrug diese unsägliche Marter ohne Wanken.
Eine Stunde vor der grauenvollen Ceremonie wartete ich im Zimmer des Garnisonsadjutanten der Kriegsschule. Während dieser endlosen Minuten spannte ich alle Kräfte meines Wesens aufs höchste an; die Erinnerung an die schrecklichen Monate, die hinter mir lagen, stieg vor mir auf; in abgerissenen Sätzen erwähnte ich den letzten Besuch, den mir Major du Paty de Clam im Gefängnis gemacht. Ich protestierte gegen die verruchte Anklage, die wider mich erhoben worden war; bezog mich darauf, daß ich an den Minister geschrieben habe, um ihm zu wiederholen, daß ich unschuldig sei. Hauptmann Lebrun-Renault hat denn auch diese Worte mit einer seltenen Gewissenlosigkeit entstellt und daraus die Sage von meinem Geständnis fabriciert oder fabricieren lassen, wovon ich erst im Januar 1899 Kenntnis erhielt. Hätte man mir vor meiner Wegschaffung aus Frankreich, die im Februar 1895, also sieben Wochen nach der Degradierung, statt hatte, Mitteilung von diesem Gerücht gemacht, so würde ich schon Mittel und Wege gefunden haben, es im Keime zu ersticken.
Ich wurde dann unter Begleitung von vier Mann und einem Unterofficier in die Mitte des Platzes geführt!
Es schlug neun Uhr. General Darras, der die Vollziehung des Degradationsactes befehligte, ließ mir meine Waffen bringen.
Ich erlitt Todesqualen, ich reckte mich, um alle meine Kraft zu concentrieren; ich beschwor die Erinnerung an Frau und Kind herauf, um mich aufrecht zu halten.
Gleich nach der Verlesung des Urteils wandte ich mich an die Soldaten und brach in den Ruf aus:
»Soldaten, man degradiert einen Unschuldigen; Soldaten, man entehrt einen Unschuldigen!«
»Es lebe die Armee, es lebe Frankreich!«
Ein Adjutant der republicanischen Garde trat auf mich zu. Mit Blitzesschnelle riß er mir Knöpfe, Tressen, die Abzeichen meines Grades an Käppi und Aermeln herunter, dann brach er meinen Säbel entzwei. Stück für Stück fiel meine Ehre in Fetzen zu meinen Füßen. Und während dieser grauenhaften Erschütterung meines ganzen Wesens rief ich, stramm und erhobenen Hauptes aufrecht stehend, wieder und wieder meinen Verzweiflungsschrei: »Ich bin unschuldig!« den Soldaten, dem versammelten Volke zu.
Die Procedur ging weiter. Ich sollte das Carré abschreiten. Ich hörte das Wutgeheul einer betrogenen Menge, ich empfand den Schauer, der über sie dahinkroch, als sie zusehen mußten, wie Verrat bestraft wird, und auch ich wollte sie erschauern machen dadurch, daß sie meine Unschuld empfinden sollten.
Ich hatte das Carré abgeschritten; die Qual war vorbei, so glaubte ich wenigstens.
Doch da begann erst die Agonie jenes langen, langen Tages.
Man band meine Hände, ein Zellenwagen führte mich nach dem Polizeigewahrsam, und wir passierten den Pont de l'Alma. Am Ende der Brücke konnte ich durch die Luke in meinem Wagen die Fenster meiner Wohnung sehen, wo ich so sonnige Jahre verlebt, wo ich mein ganzes Glück zurückließ. Das war eine namenlose Pein.
Auf dem Polizeigewahrsam wurde ich in meinem zerrissenen, zerfetzten Gewand von Saal zu Saal geschleppt, untersucht, photographiert, gemessen. Gegen Mittag brachte man mich endlich in das Gefängnis de la Santé und schloß mich in eine Zelle ein.
Meine Frau durfte mich zweimal wöchentlich im Privatbureau des Directors besuchen; dieser zeigte sich mir gegenüber während meines Aufenthaltes durchaus correct.
Nichts könnte unsere Empfindung in den traurigen Tagen meines Aufenthalts im Gefängnis de la Santé besser wiedergeben, als die Briefe, die zwischen meiner Frau und mir gewechselt wurden. Hier einige Auszüge daraus:
Gefängnis de la Santé, Sonnabend, 5. Januar 1895.
Mein Liebling,
ich will Dir nicht sagen, was ich heute gelitten, Du hast an Deinem Leid genug, und ich will es nicht noch vergrößern.
Wenn ich Dir versprochen habe, auszuhalten und zu leben, bis ich rehabilitiert sein werde, so habe ich Dir das höchste Opfer gebracht, das ein anständiger Mensch, ein Mann von Herz, dem man seine Ehre geraubt, hat bringen können. Gebe Gott, daß meine physischen Kräfte mich nicht im Stiche lassen. Seelisch kann ich es tragen, denn mein reines Gewissen hält mich aufrecht, aber Geduld und Körperkraft fangen an zu versagen. Später, wenn wir wieder glücklich sind, erzähle ich Dir, was ich heute durchgemacht, wie mein Herz blutete, als man mich mitten durch wirklich Schuldige führte. Ich fragte mich, was ich denn eigentlich da zu suchen habe, warum ich da sei … mir war, als sei ich nur der Spielball eines bedrückenden Traumes. Dann rief mich aber der Anblick meiner beschmutzten, zerrissenen Kleider wieder in die Wirklichkeit zurück, und der Ausdruck tiefster Verachtung, der mir aus allen Augen entgegenstarrte, verriet mir nur zu deutlich, wieso ich hierher gekommen war.
Warum kann man nicht mit dem Seciermesser die Herzen der Menschen aufschneiden und in ihrer Seele lesen? Da hätten alle gesehen, wie in dem meinen in goldenen Lettern geschrieben steht: »Dieser Mann ist ein Ehrenmann.« Aber ich verstehe sie so gut. Ich hätte an ihrer Stelle auch die Verachtung nicht zurückhalten können, wenn man mich einem Officier gegenüber gestellt hätte, den man als Verräter bezeichnet. Ach, gerade darin liegt die ungeheure Tragik meines Schicksals, daß ich dieser Verräter nicht bin …
5. Januar 1895, abends 7 Uhr.
Ich bin einen Augenblick lang zusammengebrochen, ich weinte und schluchzte, und mein Körper wird vom Fieber geschüttelt. Es ist die natürliche Reaction auf die Leiden dieses Tages. Und statt daß ich in Deinen Armen weinen und mein Gesicht an Deine Schulter lehnen kann, hallt mein Schluchzen nur von den kahlen Wänden meiner Zelle zurück.
Es ist wieder vorbei, nochmals, Kopf hoch! Ich concentriere alle meine Kräfte. Stark durch mein reines, makelloses Gewissen, muß ich mich meiner Familie und meinem guten Namen erhalten. Solange noch ein Atemzug in mir lebt, darf ich nicht desertieren, ich kämpfe mit der Hoffnung espoir prochain. im Herzen, daß es bald Tag werden wird; laßt nicht nach mit Suchen …
Von meiner Frau:
Sonnabend, abends, 5. Januar 1895.
Ach, der entsetzliche Morgen! Was waren das für qualvolle Minuten! Nein, nein, ich will nicht mehr daran denken, es schmerzt zu sehr. Mein armer Freund! Du, ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, ein begeisterter Franzose, ein hochsinniger, vornehmer Mensch, Du hast die entwürdigendste Strafe erdulden müssen, die über einen Menschen verhängt werden kann, es ist unerhört, unerhört.
Du hattest mir versprochen, den Mut nicht zu verlieren, Du hieltest Dein Wort; ich danke Dir dafür. Deine Würde, Deine edle Haltung hat viele Gemüter ergriffen, und wenn die Stunde Deiner Rehabilitation kommen wird, wird die Erinnerung an die entsetzlichen Qualen, die Du in den furchtbaren Augenblicken hast ertragen müssen, tief in die Seelen der Menschen eingegraben sein.
Ich wäre so gerne bei Dir gewesen, um Dich zu stärken und zu trösten, ich hatte so fest darauf gehofft, daß ich Dich würde sehen können, und mein Herz blutet, wenn ich daran denke, daß die Autorisation dazu noch nicht da ist, und daß ich noch langer warten muß, bis mir wieder das unendliche Glück zu teil wird, Dich umarmen zu können …
Unsere Lieblinge sind so reizend, lustig und vergnügt. Ein Glück nur in unserem großen Kummer, daß sie zu klein sind, um das Leben zu verstehen. Pierre legt sein ganzes Herzchen hinein, wenn er von Dir spricht, so daß ich immer weinen muß.
Lucie.
Aus dem Gefängnis de la Santé:
Sonntag, 6. Januar 1895, abends 5 Uhr.
Verzeih mir, Liebste, daß ich gestern meiner Qual so rückhaltlos Luft gemacht habe und meine Schmerzen derart vor Dir ausbreitete. Aber ich mußte mich jemandem anvertrauen. Und wer auf der Welt wäre eher dazu befähigt, das Allzuviel meines Empfindens in sich aufzunehmen, als Du. Deine Liebe hat mir den Mut zum Weiterleben gegeben, aber ich muß auch fühlen, daß sie die Schwingungen meiner Seele teilt.
Verliere den Mut nur nicht. Denke nicht zu viel an mich. Du hast andere Pflichten zu erfüllen, Du gehörst den Kindern und dem Namen, den Du rehabilitieren mußt. Denke an alle die hohen Aufgaben, die Deiner warten; sie sind wohl schwer, aber ich weiß, daß Du im stande bist, sie durchzuführen, wenn Du Dich nicht niederdrücken läßt, wenn Du Dir Deine vollen Kräfte bewahrst.
Du mußt gegen Dein eigenes Ich ankämpfen, Deine ganze Energie zusammenraffen, und nur an Deine Pflichten denken …
Von meiner Frau:
Sonntag, 6. Januar 1895.
Ich bin so aufgeregt, daß ich noch keine Nachrichten von Dir habe. Ich bin unruhig, bis ich weiß, wie Du die schrecklichen Augenblicke überstanden hast. Man bringt mir zwei Briefe von Dir, das giebt mir Erleichterung; ich danke Dir, daß Du mich so verwöhnst, es ist wieder ein Zeichen Deiner Herzensgüte. Ich kann Dir nicht sagen, wie es mir das Herz zerreißt, Folgt noch: quels déchirements je ressens. wenn ich an Deine Leiden denke. Mein Gott, was ist das für ein Leben, ein Martyrium! Ich war darauf gefaßt, daß Du eine Krisis, einen Zusammenbruch Deiner Kräfte würdest durchmachen müssen; sicherlich hat es Dir gut gethan, daß Du weinen konntest. Armer, geliebter Freund! wir waren so glücklich, so ruhig, wir lebten nur für einander und wollten nur das Glück unserer Familie, unserer Eltern, unserer Kinder. Wenn ich doch wenigstens bei Dir sein könnte, Deine Schmerzen, Deine Leiden mit Dir tragen dürfte, in derselben Zelle leben, wo Du und dasselbe Leben führen, wie Du, das würde mir fast wie Glück erscheinen. Dann hätte ich doch die Befriedigung, Dir Dein Leiden ein wenig zu erleichtern, Dich mit meiner ungeheuren Liebe zu trösten, Dich mit all der Sorgfalt zu umgeben, die eine Frau, welche Dich anbetet, Dir bereiten kann. Aber ich flehe Dich an, bewahre Dir Deinen Mut, laß Dich nicht zu Boden drücken …
Montag, 7. Januar 1895.
Meine erste Beschäftigung, sobald ich aufgestanden bin, ist die, daß ich zu Dir komme, um mit Dir zu plaudern und zu versuchen, ein wenig Wärme in Deine traurige Zelle zu senden. Ich leide so sehr, so sehr darüber, daß Du so unglücklich bist und daß ich Dir Deinen Schmerz nicht lindern kann, daß alles, was mich umgiebt, alles, was um mich herum geschieht, überhaupt alles, was nicht Du bist, mich ganz kalt läßt.
Alle meine Gedanken gehen zu Dir, ich will auch nur für Dich und die Hoffnung leben, Dich bald wieder zu finden. Dringend bitte ich Dich, mir alles zu sagen, was Du empfindest und wie es Dir körperlich geht. Ich stehe Todesängste aus, Folgt noch: des inquiétudes terribles. daß Deine Gesundheit nicht stand halten werde. Ach, wenn ich Dich nur besuchen könnte, wenn ich bei Dir bleiben, Dich Dein Unglück ein wenig vergessen machen könnte. was gäbe ich nicht dafür!
Abends, 7. Januar.
Was kann ich Dir anderes sagen, als daß ich nur an Dich denke, nur von Dir spreche, daß meine ganze Seele, mein ganzes Gemüt nur zu Dir hinstrebt. Ich bitte, ich beschwöre Dich, den Mut nicht zu verlieren, Dich nicht in Kummer zu verzehren, Dich nicht niederdrücken zu lassen, zu kämpfen, daß Deine Körperkräfte Dir erhalten bleiben. Wir müssen Dich rehabilitieren, wir thun alles und werden weiterhin alles thun, um dieses Ziel zu erreichen. Was bedeutet unser Vermögen im Vergleich zu der Ehre eines Mannes, zweier Kinder, zweier Familien; ich werde stolz darauf sein, unsere ganze Habe dieser hohen Aufgabe gewidmet zu haben …
Wir alle leben der festen Ueberzeugung, daß es keinen Irrtum giebt, der nicht eines Tages erkannt werden würde, daß der Schuldige gefunden werden muß und daß unsere Anstrengungen von Erfolg gekrönt sein werden …
Lucie.
Aus dem Gefängnis de la Santé:
Dienstag, 8. Januar 1895.
… In den Zeiten tiefster Depression, in den Augenblicken der heftigsten Krisen leuchtet plötzlich ein Stern in meinem Geiste auf und winkt mir zu. Es ist Dein Bild, Liebste, Dein heißgeliebtes Bild, image adorée. das ich bald wieder in Wirklichkeit zu sehen hoffe, in dessen Nähe ich geduldig warte, bis man mir das Teuerste wiedergiebt, das ich auf Erden habe, meine Ehre, meine Ehre, gegen die ich mich nie versündigt …
Von meiner Frau:
Dienstag, 8. Januar 1895.
Ich war unaussprechlich unruhig, weil ich keine Nachricht von Dir hatte, und ich verbrachte eine furchtbare Nacht; diesen Morgen erhielt ich endlich Deinen guten Brief, und das hat mir wohlgethan. Ich kann mir gar nicht erklären, warum die Briefe so lange Zeit brauchen, bis sie in meine Hände gelangen; so bekomme ich erst Dienstag einen Brief, den Du schon Sonntag geschrieben …
Soeben erhalte ich die Erlaubnis, Dich Montag und Freitag um zwei Uhr im Privatcabinet des Herrn Directors besuchen zu dürfen; Du wirst Dir wohl denken können, wie glücklich ich hierüber bin …
Lucie.
Aus dem Gefängnis de la Saute:
Mittwoch, 9. Januar 1895.
… Wenn ich so über alles nachdenke, frage ich mich thatsächlich, woher ich denn nur den Mut genommen, Dir zu versprechen, nach meiner Verurteilung noch am Leben bleiben zu wollen. Dieser Sonnabend ist mit ehernen Lettern in mein Gedächtnis eingegraben. Ich habe wohl den Mut des Soldaten, der der Gefahr ins Auge sieht; werde ich aber auch den Mut des Märtyrers haben?
Ich zehre von der Hoffnung, ich lebe durch die Ueberzeugung, daß es unmöglich ist, daß die Wahrheit sich nicht Bahn brechen sollte, daß meine Unschuld in Frankreich, meinem geliebten Vaterlande, nicht erkannt und verkündet werden sollte …
Alfred.
Donnerstag, 10. Januar 1895.
Seit zwei Uhr nachts schlafe ich nicht mehr vor ungeduldiger Erwartung, daß ich Dich heute sehen soll. Mir ist, als hörte ich schon Deine geliebte Stimme, die zu mir von unsern lieben Kindern, unsern teuern Familien spricht. Ich schäme mich auch nicht, wenn ich weine, denn die Qual, die ich erdulde, ist wahrhaftig für einen Unschuldigen zu grausam …
Alfred.
Von meiner Frau:
Donnerstag, 10. Januar 1895.
Gestern abend erhielt ich Deinen Brief vom Dienstag, ich las ihn immer wieder; als ich dann allein in meinem Zimmer war, weinte ich, und heute früh beim Erwachen weinte ich wieder. Ich hatte diese Nacht ein wenig Ruhe gefunden, mir träumte, daß wir zusammen plauderten; aber wie bitter war das Erwachen, als ich mich wieder allein mit meinem Kummer sah. Wenn ich so sehr leide, geschieht es ja nur Deinetwillen, der Du so heldenhaft, die unsäglichste Marter erträgst, der Du auf die entsetzlichste und unverdienteste Weise seelisch gequält wirst …
Lucie.
Aus dem Gefängnis de la Santé:
Freitag, 11. Januar 1895.
Vergieb mir, wenn ich zuweilen aufstöhne, aber was willst Du, es kommt eben so über mich, daß ich unter der Bitterkeit meiner Erinnerungen das Allzuviel meines Herzens in das Deine überfließen lassen muß. Wir haben uns, Liebling, immer so bis ins Innerste verstanden, daß ich überzeugt bin, Deine starke, große Seele vibriert vor Empörung gemeinsam mit der meinigen.
Wie glücklich waren wir doch! das ganze Leben lachte uns. Erinnerst Du Dich noch, wie ich zu Dir sagte, daß uns nichts zu wünschen übrig bleibe? Wir besaßen geachtete Stellung, Vermögen; gegenseitige Liebe, entzückende Kinder … Alles, wirklich alles.
Und keine Wolke am Himmel … da plötzlich ein Blitzstrahl! So entsetzlich, so unerwartet, so unfaßbar, daß ich heute noch oft glaube, der Spielball eines schrecklichen Traumes zu sein.
Ueber meine körperlichen Leiden klage ich nicht, Du kennst mich dafür, daß ich sie nicht beachte, aber ertragen müssen, daß eine furchtbare, infame Anschuldigung über meinem Namen schwebt, wenn man unschuldig ist … Nein, nein, das läßt sich nicht ertragen. Ich habe auch nur darum alle Qualen, alle Beschimpfung über mich ergehen lassen, weil ich überzeugt bin, daß die Wahrheit früher oder später ans Licht kommen wird und daß man mir dann Gerechtigkeit widerfahren läßt.
Ich kann den Zorn und die Wut eines vornehmen Volkes, welches erfährt, daß es einen Verräter unter sich hat, sehr wohl entschuldigen, aber ich will mich am Leben erhalten, damit es einst wisse, daß ich nicht dieser Verräter bin.
Deine Liebe, die grenzenlose Zuneigung der Unsern, das hilft mir, das Verhängnis zu überwinden. Ich will damit nicht etwa behaupten, daß ich nicht doch zu Zeiten schwache Augenblicke, sogar Verzweiflungsanfälle durchmachen werde. Um sich über einen so ungeheuerlichen Irrtum nicht zu beklagen, bedürfte es einer Seelengröße, die ich auch gar nicht zu besitzen vorgebe, aber mein Sinn wird fest und tapfer bleiben …
Ich werde weiterleben, Liebling, weil ich will, daß Du auch fürderhin meinen Namen in Ehren, Freude und Liebe tragen kannst, und weil ich ihn den Kindern intact übergeben will.
Laßt Euch also alle zusammen durch unser Mißgeschick nicht zu Boden drücken; sucht nur immer, sucht ohne Rast und Ruhe …
Von meiner Frau:
Freitag, 11 Januar 1895.
Ich war so sehr glücklich, daß ich einige Augenblicke bei Dir sein konnte, obschon die Zeit im Fluge verging. Meine Erregung war aber so groß, daß ich nicht im stande war, mit Dir zu sprechen, Deinen Mut anzufeuern. Armer Freund, ich habe Dir sagen wollen, was ich von Dir denke, wie ich Dich bewundere, wie sehr ich Dich liebe, und ich hatte Dir meine Dankbarkeit ausdrücken mögen für das ungeheure Opfer, das Du mir und den Kindern gebracht. Ich mache mir auch Vorwürfe, daß ich Dir nicht ausführlicher von der Hoffnung sprach, die wir hegen, daß wir die Wahrheit werden entdecken können; ja, wir sind vollkommen überzeugt, daß wir das Ziel erreichen werden. Es ist freilich ganz unmöglich, den Zeitraum zu bestimmen, der dazu nötig ist, aber man muß sich eben gedulden und nicht verzagen. Wie ich Dir vor wenigen Augenblicken gesagt, haben wir alle Tag und Nacht nur ein Interesse, nur ein Ziel, irgendwie einen Fingerzeig, den Faden zu finden, der uns auf den Schuldigen hinweist, auf das elende Subject, das uns unserer Ehre beraubt hat.
Wir concentrieren alle unsere Intelligenz, all unsere Willenskraft auf diesen einen Punct, und es ist doch unmöglich, daß wir damit und mit der Ausdauer, die wir daran setzen, es nicht sollten durchführen können, daß Du rehabilitiert wirst.
Aengstige Dich um der Kinder willen nicht, sie sind alle beide gute, tüchtige Seelchen …
Sonnabend, 12. Januar 1895.
Noch zittert in mir die Erregung von unserem gestrigen Wiedersehen nach; es machte mir einen furchtbaren Eindruck, Dich zu sehen, mit Dir zu plaudern, und ich war so glücklich darüber, daß ich die ganze Nacht kein Auge geschlossen. Man kann Dich nur bewundern, daß Du trotz Deiner Leiden so mutig bleibst und Dir Deinen vornehmen, hohen Sinn bewahrst. Ja, wir müssen die Hoffnung festhalten, daß Dir eines Tages Gerechtigkeit widerfahren wird, daß Frankreich seinen Irrtum einsehen wird und in Dir einen seiner besten Söhne sieht. Es wartet Deiner noch ein Glück, und wir werden gemeinsam wieder sonnige Zeiten verleben. Du, der Du so viele Pläne machtest, der Du so oft davon träumtest, Deinen Sohn zum Mann zu erziehen, Du wirst diese Freude noch erleben. Pierre ist ein herzensgutes Kind und Jeanne ist auch reizend. Früher war ich sehr streng mit ihnen, aber jetzt muß ich gestehen, daß ich sie etwas verwöhne, obschon ich stricten Gehorsam verlange. Sie sollen sich noch so recht des Lebens freuen, bevor sie seine Schattenseiten kennen lernen …
Sonntag, 13. Januar 1895.
Wie viel Geduld, wie viel Selbstentäußerung, wie viel Mut besitzest Du doch, daß Du diese endlosen Demütigungen zu ertragen vermagst. Ich will Dir nicht sagen, wie ich Dich aus tiefster Seele bewundere; die Willenskraft, die Würde, womit Du Dein Martyrium den Kindern und mir zu Liebe auf Dich genommen, sind einfach übermenschlich; ich bin stolz darauf, Deinen Namen zu führen, und wenn erst unsere Kinder in das Alter gekommen sein werden, wo sie Verständnis dafür haben, so werden auch sie Dir dankbar sein für die Leiden, die Du um ihretwillen ertragen …
Montag, 14. Januar 1895.
Ach, nun sind die kurzen Augenblicke unseres Beisammenseins schon wieder vorbei. Auf so lange Stunden der Sehnsucht so kurze Augenblicke des Glücks.
Dieser Besuch ist wieder wie ein Traum an mir vorbeigeglitten; voller Freude ging ich zum Gefängnis hin, und tieftraurigen Herzens bin ich heimgekehrt! Es hat mich erquickt, Dich zu sehen, ich wurde nicht müde, Dich zu betrachten, Dir zuzuhören, aber ich leide entsetzlich, wenn ich Dich so allein mit Deinem Kummer und Deinen Seelenqualen in dem finstern Gefängnis zurücklassen muß.
Lucie.
Durch diese ununterbrochene Kette von Erschütterungen wurde schließlich meine Frau derart mitgenommen, daß sie das Bett hüten mußte.
Freitag, 18. Januar 1895.
Der heutige Tag ist mir, wenn möglich, noch trauriger verflossen, als die übrigen, denn heute mußte ich sogar auf den schwachen Schein von Glück, der uns geblieben, verzichten. Ich bin zwar aufgestanden, fühle mich aber noch nicht wohl genug, um auszugehen. Obschon ich so unendlich wünschte, Dich umarmen zu können, will der Arzt, daß ich noch im Zimmer bleibe, damit ich mich nicht erkälte. Ich leide furchtbar darunter, und ich muß Dir beichten, daß ich ganz unvernünftig gewesen bin, mich in mein Zimmer verkrochen habe, um zu weinen.
Lucie.
Dieser Brief gelangte erst auf der Insel Ré in meine Hand, meine Frau wußte noch nichts von meiner Deportation.