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VI

Ich verließ das Gefängnis am 17. Januar 1895. Wie gewöhnlich hatte ich mein Zimmer in Ordnung gebracht, mein Lager herunter gelassen und mich zur vorgeschriebenen Stunde niedergelegt. Nichts wies darauf hin, daß mein Transport so nahe bevorstehe. Man hatte mir sogar am selben Tage mitgeteilt, daß meine Frau die Erlaubnis erhalten habe, mich übermorgen zu besuchen, da sie seit beinahe einer Woche nicht bei mir gewesen.

Zwischen zehn und elf Uhr nachts wurde ich plötzlich geweckt, und man befahl mir, mich sofort reisefertig zu machen. Ich hatte nur so viel Zeit, als ich zum Anziehen brauchte. Der vom Ministerium zu meiner Wegführung beorderte Beamte, dem drei Wärter beigegeben waren, war von empörender Brutalität; kaum hatte ich mich angezogen, ließ er mir Handschellen anlegen und gab mir nicht einmal so viel Zeit, daß ich mein Lorgnon aufheben konnte. Es war bitter kalt. Ich wurde in einem Zellenwagen nach dem Orléans-Bahnhof gebracht, dann durch das Portal, das zur Frachtabfertigung führt, auf den Fahrsteig zu einem besonderen Wagen geleitet, der dazu dient, Galeerensträflinge zu transportieren. In diesem Wagen befinden sich mehrere Zellen, in denen ein sitzender Mensch gerade so knapp Platz hat, die Zellen werden unter sich durch eine Art Zwischenthüren abgeschlossen, so daß es unmöglich ist, die Beine auszustrecken. Ich wurde, an Händen und Füßen gefesselt, in eine solche Zelle eingeschlossen. Die Nacht war endlos, und meine Glieder wurden steif wie Holzklötze. Erst nach langem Bitten gelang es mir am folgenden Morgen etwas schwarzen Kaffee, Brot und Käse zu erlangen. Ich zitterte vor Fieber.

Gegen Mittag kamen wir endlich in La Rochelle an; mein Transport von Paris war nicht signalisiert worden; wenn man mich sofort nach meiner Ankunft eingeschifft hätte, so wäre ich unbemerkt durchgekommen.

Aber am Bahnhof standen einige Neugierige, die sich gewohnheitsmäßig einfanden, um die Sträflinge zu sehen, die nach der Insel Ré deportiert werden sollen. Man wollte warten, bis sie sich entfernt haben würden. Jeden Augenblick wurde der Oberaufseher durch den Ministerialbeamten aus dem Wagen geholt und wenn er zurück kam, gab er den Wärtern geheimnisvolle Befehle. Diese gingen abwechselnd weg, kamen wieder, schlossen einmal die eine Jalousie, dann die andere und tuschelten sich etwas zu. Natürlich erregte dieses Gethue den Verdacht der Umstehenden, die bald heraus hatten, daß ein wichtiger Gefangener in dem Zellenwagen sitzen müsse; da man ihn auch nicht aussteigen ließ, drängten sie sich herzu, um ihn zu sehen. Darauf eilten die Wärter und der Beamte geschäftig herbei. Dann wurde, wie es scheint, eine Indiscretion begangen; mein Name wurde ausgesprochen. Die Kunde verbreitete sich rasch und der Zulauf wurde immer größer. Ich hörte in meinem Wagen, in dem man mich den ganzen Nachmittag eingesperrt hielt, wie die Menge anschwoll und wie sie heulte und tobte. Endlich holte man mich abends heraus. Sobald ich erschien, brach das Toben doppelt wütend los. Hageldick fielen Schläge auf mich nieder, und um mich herum balgte man sich verzweifelt. Ich blieb unbewegt inmitten dieser Rotte, einen Augenblick lang stand ich fast allein und war nahe daran, ihr ohne Besinnen meinen Leib auszuliefern. Ich hatte mich aber vollkommen in der Gewalt mon âme était à moi. und verstand die Entrüstung dieses mißleiteten Volkes nur zu gut; wie gern hätte ich ihm meinen Leib preisgegeben, wenn ich ihm dafür hätte seinen Irrtum ins Bewußtsein rufen können. Ich stieß die Wärter zurück, die zu mir traten, sie sagten mir aber, daß sie für mich verantwortlich seien. Verantwortlich? Welche Verantwortlichkeit lastet aber erst auf jenen, die einen Menschen auf diese Weise martern ließen, ein ganzes Volk so schamlos irreführten!

Endlich erreichten wir doch den Wagen, der mich wegbringen sollte, und nach einer bewegten Fahrt kamen wir im Hafen von La Palice an, wo man mich in eine Schaluppe einschiffte.

Es war entsetzlich kalt; der Körper war wie gelähmt, mein Kopf brannte, die Hände konnte ich nicht mehr rühren, sie waren von der Kälte und dem Druck der Handschellen ganz starr geworden.

Die Ueberfahrt dauerte über eine Stunde.

Als ich bei dunkler Nacht auf der Insel Ré ankam, mußte ich durch den Schnee nach dem Polizeigewahrsam waten, wo mich der Director hart anfuhr; auf die Kanzlei geführt, wurde ich vollständig entkleidet und durchsucht. So gegen neun Uhr brachte man mich an Leib und Seele gebrochen, in die Zelle, die ich von nun an bewohnen sollte. Direct neben der Zelle befand sich die Wachtstube, die durch eine große vergitterte Oeffnung über meinem Lager mit derselben in Verbindung stand. Tag und Nacht hatten zwei Wächter, welche alle zwei Stunden abgelöst wurden, bei dieser Oeffnung Wache zu stehen und durften keine meiner Bewegungen außer Auge lassen.

Der Director teilte mir sofort mit, daß, falls ich meine Frau zu sehen wünsche, das mir nur in seiner Gegenwart in seinem Bureau gestattet sei, und zwar so, daß er sich zwischen uns stellen werde und ich nicht das Recht habe, mich meiner Frau zu nähern oder sie zu küssen.

Während meines Aufenthalts auf der Insel Ré wurde ich jedesmal ausgezogen und untersucht, wenn ich von dem Spaziergang zurückkam, den ich auf dem eingezäumten Platz vor meiner Zelle machen durfte. Dieser Hof war von allen Gebäuden und Höfen, welche zum Gefängnis gehörten, durch eine hohe Mauer streng isoliert; die Thüre, die hinein führte, wurde nur in dienstlicher Angelegenheit geöffnet. Wenn ich spazieren ging, so bildeten alle Wächter der Mauer entlang Spalier.

Die Briefe, die ich in dieser Zeit mit meiner Frau wechselte, geben unsere damaligen Empfindungen wieder. Es sollen einige Auszüge daraus angeführt werden.

Insel Ré, 19. Januar 1895.

Donnerstag nacht hat man mich aufgeweckt, um mich hierher zu bringen, wo ich erst gestern abend anlangte. Ich will Dir nicht von meiner Reise erzählen, um Dir nicht das Herz zu zerreißen; aber das sollst Du wissen, daß ich den berechtigten Empörungsschrei les cris légititimes. eines Volkes gehört dem gegenüber, den es für einen Verräter, für den Elendesten der Elenden gehalten. Ich weiß nicht, ob ich noch ein Herz in der Brust habe …

Willst Du die Güte haben, beim Minister folgende Autorisation, die nur er erteilen kann, einzuholen oder einholen zu lassen: erstens die Bewilligung, daß ich an alle Glieder meiner Familie, Vater, Mutter, Brüder, Schwester schreiben darf; und zweitens, daß ich in meiner Zelle schreiben und arbeiten darf …

Gegenwärtig habe ich weder Papier, noch Feder, noch Tinte! Man übergiebt mir nur das eine Blatt, auf welchem ich schreibe, dann nimmt man mir Feder und Tinte wieder weg.

Ich rate Dir, nicht, herzukommen, bevor Du ganz genesen bist. Das Klima ist sehr rauh, und Du brauchst alle Deine Kräfte vorerst für unsere geliebten Kinder, und dann auch für das Ziel, das Du verfolgst. Es ist mir untersagt, über die Behandlung, der ich hier unterstellt bin, zu Dir zu sprechen.

Dann möchte ich Dir noch ans Herz legen, daß Du, bevor Du herkommst, Dich mit allen nötigen Autorisationen für Deinen Besuch versiehst, daß Du um die Erlaubnis nachsuchst, mich umarmen zu dürfen u.s.w. …

Insel Ré, 21. Januar 1895.

Als man mich kürzlich in La Rochelle verhöhnte, wäre ich am liebsten meinen Wärtern entflohen und hätte mich mit entblößter Brust jenen gegenübergestellt, die mich zur Zielscheibe ihrer gerechten Entrüstung machten, und hätte zu ihnen gesprochen: »Beschimpft mich nicht, meine Seele, die Ihr ja nicht kennen könnt, ist frei von jedem Makel; wenn Ihr mich aber für schuldig haltet, hier habt Ihr meinen Leib, ich überliefere ihn Euch ohne Bedauern.« Vielleicht hätte man dann, wenn ich in den heftigsten Qualen, während der Bitterkeit der körperlichen Marter mit dem Ruf: »Es lebe Frankreich, es lebe die Armee« hingesunken wäre, an meine Unschuld geglaubt.

Was fordere ich denn schließlich anderes Tag und Nacht, als Gerechtigkeit, Gerechtigkeit. Sind wir denn im XIX. Jahrhundert oder um Jahrhunderte zurück? Ist es möglich, daß in einem Jahrhundert der Aufklärung und Gerechtigkeit die Unschuld so verkannt wird? Man möge nur nachforschen; ich will keine Gnade, aber ich fordere die Gerechtigkeit, die man jedem menschlichen Wesen schuldig ist. Nur immer die Nachforschungen weiterführen; diejenigen, die die wirksamen Mittel zur Verfügung haben, um Klarheit zu schaffen, sollen dieselben zu diesem Zweck handhaben; es ist für sie eine heilige Pflicht der Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Es ist undenkbar, daß sich dann diese geheimnisvolle Tragödie nicht aufklären sollte …

Ich kenne nur zwei glückliche Augenblicke im Tag; sie sind herzlich kurz. Der eine: wenn man mir dieses Blatt Papier bringt, damit ich an Dich schreiben kann und ich ein paar Momente zubringe, mit Dir zu plaudern; der zweite, wenn man mir Deinen täglichen Brief übergiebt …

Ich wage nicht über die Kinder zu sprechen. Wenn ich ihre Photographieen ansehe, wenn ich ihre guten sanften Augen betrachte, steigt mir das Schluchzen aus dem Herzen in die Kehle …

Insel Ré, 23. Januar 1895.

Ich erhalte Deine Briefe täglich, doch hat man mir noch keine Zeile von irgend einem andern Familienglied überbracht, und ich selber habe auch die Erlaubnis noch nicht, an sie zu schreiben. Seit Sonnabend schrieb ich täglich an Dich, hoffentlich bist Du im Besitz meiner sämtlichen Briefe …

Wenn ich so denke, was ich vor wenigen Monaten noch war, und es mit meiner heutigen elenden Lage vergleiche, so überkommt mich, ich kann es nicht verhehlen, das Gefühl trostlosester Schwäche und ein erbitterter Zorn über die Ungerechtigkeit des Geschickes. Ich bin thatsächlich das Opfer des entsetzlichsten Rechtsirrtums in unserem Jahrhundert. Manchmal sträubt sich mein Verstand dagegen, es zu glauben, und mir scheint, daß ich der Spielball einer furchtbaren Hallucination sei, und daß alles, plötzlich zerstieben werde, ach, aber die Wirklichkeit umgiebt mich von allen Seiten …

Alfred.

Von meiner Frau:

Paris, 20. Januar 1895.

Ich befinde mich in entsetzlicher Todesangst, in einer furchtbaren Unruhe, denn ich habe keine Nachricht von Dir. Ich leide unsäglich, mir ist, als ob man mir jedesmal einen Fetzen von meiner Seele wegreiße, wenn man Dir wieder neue Qualen zufügt; es ist grauenhaft!

Wie gerne wäre ich bei Dir, würde Dich mit meiner warmen Liebe stützen, Dir zärtliche Worte sagen, die Dein armes Herz erwärmen könnten …

Paris, 21. Januar 1895.

… Glücklicherweise habe ich gestern früh keine Zeitungen gelesen, man hat sich bemüht, mir die schändlichen Vorgänge von La Rochelle geheim zu halten, sonst wäre ich vor Schmerz verrückt geworden … Was für entsetzliche Augenblicke hast Du erlebt! … Doch überrascht mich die Haltung der Menge nicht, sie ist das Resultat der Lectüre schlechter Blätter, die nur von Verleumdung und Schmutz leben und schon Hunderte von Lügen auf dem Gewissen haben … Aber tröste Dich nur, unter den verständigen Leuten hat sich schon eine bedeutende Wandlung vollzogen.

Paris, 22. Januar 1895.

Immer noch keine Briefe von Dir. Seit Donnerstag bin ich ohne Nachricht. Ich hätte mich vor Besorgnis verzehrt, wenn ich nicht wenigstens über Deine Gesundheit beruhigt wäre.

Ich lebe nur im Gedanken an Dich, es vergeht kein Augenblick, in welchem ich nicht bei Dir bin, und mein Jammer ist um so größer, als ich so weit von Dir entfernt und ohne Nachricht bin, und zu den Leiden jeder Minute gesellt sich noch die Angst um Dich. Ich kann den Moment nicht erwarten, bis ich die Erlaubnis habe, zu Dir zu kommen und Dich in meinen Armen zu halten. Ich habe Dir eine solche Menge zu erzählen, Nachrichten zu geben, von uns allen, von unsern armen Kindern, von der ganzen Familie, von den außerordentlichen Anstrengungen, die wir machen, um in unsern armen Köpfen den Schlüssel zu dem Rätsel zu finden …

Paris, 23. Januar 1895.

Soeben habe ich an den Director des Polizeigewahrsams telegraphiert, um Nachricht von Dir zu erhalten, ich weiß nicht mehr, wo aus und ein vor Unruhe. Ich habe noch keinen Brief von Dir, seit Du von Paris weggeführt worden, ich kann mir gar nicht erklären, was vorgeht, und das quält mich furchtbar. Ich vermute natürlich, daß Du täglich an mich geschrieben, aber woran liegt denn diese Verzögerung: ich finde keine Antwort. Wenn nur Du wenigstens meine Briefe erhalten und Dich nicht ängstigst. Es ist unerhört, so weit von einander getrennt zu sein, und nicht einmal Nachricht zu erhalten. Ich möchte von Dir hören, daß Du stark und mutig bist, daß Deine Gesundheit keine Besorgnis erweckt, daß Du weniger hart behandelt wirst …

Lucie.

Von der Insel Ré:

Insel Ré, 25. Januar 1895.

Wie aus Deinem Brief vom Dienstag hervorgeht, hast Du noch keinen Brief von mir erhalten. Wie mußt Du leiden, mein armer Liebling; was für ein Martyrium für uns alle beide …

Insel Ré, 25. Januar 1895.

Dein gestriger Brief hat mir in tiefster Seele weh gethan, aus jedem Wort spricht Dein Schmerz zu mir …

Ich habe gar keinen festen Anhaltspunct mehr für meine Gedanken; denke ich an die Vergangenheit, so erfaßt mich ein wilder Zorn, da es mir unmöglich scheint, daß alles mir auf diese Weise entrissen werden konnte; denke ich an die Gegenwart und meine furchtbare Lage, so scheint mir einzig der Tod Vergessen bringen zu können, nur der Ausblick auf die Zukunft giebt mir einigermaßen Erleichterung.

Soeben habe ich wieder eine Weile die Photographieen der Kinder betrachtet, aber ich habe ihren Anblick nicht lange ausgehalten, mir würgte das Schluchzen die Kehle zusammen. Ja, Liebste, ich muß am Leben bleiben, ich muß mein Martyrium bis zu Ende tragen, um des Namens willen, den die kleinen Lieblinge führen. Sie müssen eines Tages erfahren, daß dieser Name würdig ist, verehrt und hochgehalten zu werden, sie müssen auch erfahren, daß, wenn ich die Ehre vieler Menschen niedriger einschätze, als die meinige, ich doch keines Menschen Ehre höher stelle, als sie …

Von nun an darf ich Dir nur noch zweimal wöchentlich schreiben …

Insel Ré, 28. Januar 1895.

Heut ist wieder der Glückstag, in meinem traurigen Leben, denn ich kann eine halbe Stunde bei Dir sein, mit Dir plaudern und Dich unterhalten.

Jedesmal, wenn man mir einen Brief von Dir bringt, fällt ein Sonnenstrahl in mein verbittertes Gemüt.

Ich vermag nicht rückwärts zu schauen, die Thränen steigen mir in die Augen, wenn ich an unser vergangenes Glück denke, und ich kann auch nur mit der verzweifelten Hoffnung nach vorwärts blicken, daß bald der große Tag der Aufklärung und der Wahrheit anbrechen wird.

Insel Ré, 31. Januar 1895.

Endlich wieder der glückliche Tag, an dem ich an Dich schreiben kann. Ich kann die glücklichen Tage zählen, glaube mir! Ich habe thatsächlich seit letztem Sonntag keinen Brief von Dir mehr erhalten. Das war wieder eine entsetzliche Zeit! Bis dahin hatte ich doch jeden Tag einen frohen Augenblick gehabt, wenn Deine Briefe kamen, sie bedeuteten mir einen Widerhall aus Euerem Leben, einen Widerhall Euerer Zuneigung, der mein armes, erstarrtes Herz erwärmte. Ich las Deinen Brief vier- oder fünfmal, prägte mir jedes Wort ein, bis ich sie nach und nach zu hören glaubte und es mir schien, als spräche man aus nächster Nähe zu mir. Diese köstliche Musik drang tief in meine Seele hinein! Und nun seit vier Tagen nichts mehr, kein Laut in meiner dumpfen Trauer, in meiner entsetzlichen Einsamkeit …

Alfred.

Von meiner Frau:

Paris, 24. Januar 1895.

Endlich habe ich einen Brief von Dir. Er ist erst heute früh in meine Hände gelangt, ich war außer mir vor Unruhe. Ich habe das Fetzchen Papier mit Thränen benetzt, es war doch etwas, was nach all diesen Tagen der Todesangst von Dir zu mir kam. Und dazu datieren die Nachrichten von Dir schon vom 19., dem Tage nach Deiner Ankunft, und ich erhalte sie erst am 24., also fünf Tage später. Was müssen das für hartherzige Menschen sein, die es über sich bringen, zwei arme Wesen so zu quälen, die sich anbeten, die nichts weiter kennen, als grade, ehrliche Empfindungen, die kein anderes Ziel, keinen andern Traum haben als: den Schuldigen zu finden und ihren Namen, den Namen ihrer Kinder, den man ungerechterweise heruntergerissen, zu rehabilitieren …

Paris, 27. Januar 1895.

Heute früh erhielt ich Deinen lieben, guten Brief, er hat mir einen frohen Augenblick bereitet. Vergieb mir meine ersten, verzweifelten Briefe, ich war wirklich einen Moment völlig mutlos. Ich hatte keine Nachricht von Dir und war außer mir vor Besorgnis.

Doch das ist nun vorbei, die Willenskraft hat die Oberhand gewonnen, ich bin wieder kampfbereit und stark, wir müssen alle beide am Leben bleiben, wir müssen Deine Rehabilitierung erlangen, es muß Licht werden. Wir dürfen erst sterben, wenn wir unsere Pflicht gethan, wenn unser Name von diesem Makel rein gewaschen ist. Dann wird das Glück zu uns zurückkehren, ich werde Dich so von ganzem Herzen lieben, Deine Kinder werden in ihrer Dankbarkeit Dich mit solcher Zärtlichkeit umgeben, daß die Erinnerung an Dein Leiden, wenn es auch entsetzlich gewesen, sich verwischen wird.

Ich weiß ja schon, daß alle diese Worte Dir das gegenwärtige schreckliche Leid nicht fortnehmen können; aber Du hast Deine Seelengröße, einen eisernen Willen, ein vollkommen freies Gewissen, und mit diesen Waffen mußt Du widerstehen, müssen wir alle beide uns halten können.

Heute morgen unterhielt Pierre sich damit, alle Deine Photographieen zu betrachten, Dein Reiterbild, das Bild von der Reise, von Bourges. Er freute sich darüber, daß er sie dem Schwesterchen zeigen und ihr ausführlich alle Beobachtungen, die ihm durch den Kopf fuhren, darlegen konnte. Jeanne hörte ihm andächtig zu …

Paris, 31. Januar 1895.

Heute früh keine Nachrichten, ich hoffte so sehr darauf. Mein Gott, was ist das für ein Leben, dieses Hoffen und Harren von einem Tag zum andern.

Lucie.

Von der Insel Ré:

5. Februar 1895.

Ich habe furchtbar gelitten, seit letztem Sonntag, also acht Tage lang habe ich kein Wort von Dir. Ich fürchtete, daß Du oder eines der Kinder krank seiest. Ich stellte mir schließlich in meinem kranken Gehirn alles Mögliche vor und machte mir alle erdenklichen Hirngespinste …

Du kannst Dir vorstellen, Liebling, was ich litt und was ich noch leide. In meiner furchtbaren Einsamkeit, in dieser trostlosen Lage, in welche mich eine Verkettung von seltsamsten und unerklärlichen Ereignissen versetzten, hatte ich wenigstens den einen Trost, daß ich Dein Herz mit meinem zusammenklingen hörte, daß Du meine Leiden mit mir trugst …

Insel Ré, 7. Februar 1895.

Ich bin seit zehn Tagen ohne Bericht von Dir. Es ist nicht zu sagen, wie ich leide.

Du aber sollst Deinen Mut und Deine Energie bewahren. Ich verlange das im Namen unserer innigen Liebe von Dir, denn Du mußt auf dem Posten sein, um meinen Namen von der Besudlung zu reinigen, die ihm angethan worden, um aus unseren Kindern tüchtige, anständige Menschen zu machen. Du mußt da sein, um ihnen eines Tages sagen zu können, was ihr Vater war, ein tapferer, biederer Soldat, der durch ein entsetzliches Verhängnis niedergeschmettert wurde.

Werde ich heute Nachricht von Dir erhalten? Wann werde ich erfahren, daß ich die Freude und das Glück haben soll, Dich zu umarmen? Ich erhoffte es jeden Tag, und nichts unterbricht mein entsetzliches Martyrium.

Mut, Liebling, Du brauchst viel Mut, Du und unsere beiden Familien bedürfen dessen so dringend. Ihr habt nicht das Recht, Euch niederdrücken zu lassen, Ihr habt eine hohe Mission zu erfüllen, was auch aus mir werden mag.

Alfred.

Von meiner Frau:

Paris, 3. Februar 1895.

Jeden Morgen erlebe ich dieselbe Enttäuschung, die Post hat nichts für mich. Was soll ich mir dabei denken? Oft frage ich mich, ob Du krank bist, was aus Dir wird. In den langen Nächten, in denen mich die entsetzlichsten Träume quälen, stelle ich mir die furchtbarsten Dinge vor. Ich möchte dort bei Dir sein, um Dich zu trösten, Dich zu pflegen, um Dir wieder neue Kraft zu verleihen …

Noch habe ich die Erlaubnis nicht erhalten, Dich besuchen zu dürfen; mein Gott, wie lange dauert das. Nun bist Du schon drei Wochen auf der Insel Ré, ohne daß Dich einer der Deinigen hätte umarmen können …

Paris, 4. Februar 1895.

Soeben wurde mir die große Freude zu teil, Deinen herrlichen Brief zu erhalten. Denke Dir doch, wie glücklich ich war, Bericht von Dir zu haben, wenn er auch vom Montag vor acht Tagen zurückdatiert. Eine lange Woche hat es gedauert, bis Deine köstlichen Worte zu mir gelangten …

Paris, 6. Februar 1895.

… Wenn ich unsere Lieblinge ansehe und mir vorstelle, wie sehr Du Dich ihrer gefreut hättest, wie glücklich Du gewesen wärest, wenn Du hättest beobachten können, wie sie sich entwickeln, wie ihr Geist sich aufthut, bin ich so traurig, daß mir die Thränen in die Augen steigen.

Nun hast Du die armen Seelchen schon fast vier Monate nicht mehr gesehen; sie haben sich sehr verändert …

Paris, 7. Februar 1895.

Dein letzter Brief datiert vom 28. Januar, er brauchte acht Tage, bis er bei mir war, und seit da bin ich wieder ohne Nachrichten; das ist wirklich hart. Ich hoffte von ganzem Herzen, wenigstens brieflich mit Dir plaudern zu können, und die unglückseligen Briefe, die schon so lange brauchen, bis sie an mich gelangen, werden noch immer seltener.

Ungeduldig erwarte ich beständig die Erlaubnis, Dich besuchen zu dürfen, ich rechne darauf, sie bald zu erhalten, ich sehne mich so darnach, Dich zu sehen, zu umarmen, aus Deinen Augen Deinen Mut, Deine Geduld, Deine Selbstentäußerung, Deine Hingebung an unsere Kinder herauszulesen …

Paris, 9. Februar 1895.

Ich erhielt heute früh Deinen Brief vom 31. Januar. Dein Leiden erschüttert mich bis ins Innerste. Ich habe lange, lange geweint, den Kopf auf beide Hände gestützt. Erst als Pierre mich zärtlich streichelte, trat wieder ein Lächeln auf meine Lippen. Und doch sind meine Leiden nichts im Vergleich zu den Deinen …

Sei nicht besorgt, wenn Du keine Briefe von mir erhältst; ich schreibe täglich, ich werde mir doch den einzigen glücklichen Augenblick meines Tages nicht nehmen lassen …

Paris, 10. Februar 1895.

Ich habe mich wie ein Kind gefreut, als ich gestern abend die Erlaubnis erhielt, Dich zweimal wöchentlich zu besuchen.

Endlich rückt der Augenblick näher, wo ich das unsägliche Glück haben werde, Dich an mein Herz zu drücken und Dir durch meine Gegenwart neue Kräfte zu verleihen.

Es thut mir in der Seele weh, daß Du meine Briefe nicht erhältst, ich habe es nicht einen Tag versäumt, mit Dir zu plaudern. Ich kann mir den Grund zu dieser Härte nicht erklären; unsere Briefe enthalten doch nur, was sich mit der strengsten Rechtlichkeit vereinbaren läßt, den Kummer über eine so unverdiente furchtbare Lage und die Hoffnung auf eine baldige Rehabilitierung.

Lucie.

Meine Frau hatte die Erlaubnis erhalten, mich zweimal wöchentlich an zwei auf einander folgenden Tagen je eine Stunde besuchen zu dürfen. Zum ersten Mal sah ich sie am 13. Februar, ohne daß man mich davon benachrichtigt hätte. Ich wurde auf die Kanzlei geführt, die sich in der Nähe der Ausgangsthüre zu meinem Hof befindet, es ist das ein langer, schmaler, weißgetünchter, kahler Raum. Meine Frau saß im Hintergrund, der Director des Gefängnisses in der Mitte des Zimmers zwischen meiner Frau und mir. Ich mußte bei der Thüre stehen bleiben, die innen und außen von Wärtern bewacht wurde.

Der Director teilte uns mit, daß es uns nicht gestattet sei, irgend etwas in unserem Gespräch zu berühren, was sich auf den Proceß beziehe.

Obgleich wir tief verletzt waren über die grausamen Bedingungen, die man uns gestellt, trotzdem wir in wahrer Todesangst empfanden, wie die Minuten uns enteilten, erfüllte uns doch ein inniges Glücksgefühl, als wir uns wiedersahen. Die Situation war aber zu schmerzlich, als daß man sie mit Worten schildern könnte. Aber einen wahren Trost schöpften wir doch daraus: wir fühlten, daß unsere Seelen zusammenflossen, daß unser aller Wille, unser aller Intelligenz nur noch einem Ziel entgegenstrebte: der Entdeckung der Wahrheit, des Schuldigen.

Meine Frau besuchte mich hierauf am 14. Februar und reiste dann nach Paris ab.

Am 20. Februar kehrte sie nach der Insel Ré zurück, und wir sahen uns am 20. und 21. Februar zum letzten Mal.

Insel Ré nach dem Wiedersehen mit meiner Frau:

Insel Ré, Februar 1895.

Die wenigen Augenblicke, die ich mit Dir verbracht, sind köstlich für mich gewesen, obschon es mir unmöglich war, Dir alles zu sagen, was ich auf dem Herzen hatte.

Ich mußte Dich nur immer ansehen, mir Dein Bild einprägen und mich fragen, durch welch unerhörtes Verhängnis ich denn habe von Dir getrennt werden können …

Von meiner Frau nach ihrer Rückkehr nach Paris:

Paris, 16. Februar 1895.

Wie waren wir beide bis in die tiefste Seele erschüttert durch unser Wiedersehen, wie muß es besonders Dich, armer, geliebter Mann, mitgenommen haben, da Du von meinem Kommen nicht benachrichtigt worden bist …

Die Bedingungen, die man an unser Wiedersehen knüpfte, waren aber doch unsagbar grausam! Seit vier Monaten sind wir getrennt, und sich dann nur von weitem sprechen dürfen, das ist unerhört! Wie gerne hätte ich Dich ans Herz gedrückt, Deine lieben Hände erfaßt, Dich, den armen Einsamen, ein wenig erwärmt …

Ach, wie es mir das Herz zerriß, als ich Saint-Martin verließ und mich wieder von Dir entfernte …

Lucie.

Von der Insel Ré nach dem Wiedersehen mit meiner Frau:

Insel Ré, 21. Februar 1895.
(Am Tage meiner Deportation, von der ich vorher keine Ahnung hatte.)

Wenn ich Dich vor mir sehe, ist die Zeit so kurz, und vor lauter Angst darüber, daß die Minuten mit einer Schnelligkeit enteilen, die mir ganz fremd geworden, seit mir die übrigen Stunden so unendlich lang erscheinen, vergesse ich die Hälfte von dem, was ich Dir sagen wollte …

Ich wollte Dich fragen, ob Du gut gereist bist, ob Du ruhige See gehabt. Ich wollte es Dir aussprechen, wie groß meine Bewunderung für Deinen vornehmen Charakter, für Deine unvergleichliche Hingebung ist! Hundert andere Frauen hätten ihre Geisteskraft nicht bewahrt, wie Du, wenn unverdiente, grausame Schicksalsschläge in dieser Weise über sie hereingebrochen wären.

Und von den Kindern hätte ich so gerne recht ausführlich gesprochen …

Ich werde, wie ich Dir gesagt, mein Möglichstes thun, um das empörte Klopfen meines erbitterten Herzens zu beherrschen, um dieses entsetzliche, endlose Martyrium zu ertragen, damit ich mit Euch gemeinsam den glücklichen Tag meiner Rehabilitierung anbrechen sehe.

Alfred.

Beim zweiten Besuch bat meine Frau vergebens inständig darum, daß man ihr die Hände auf den Rücken binden möge, damit sie sich mir nähern und mich küssen könne; der Director verweigerte es ihr kurz und rauh.

Am 21. Februar sah ich meine Frau zum letzten Mal. Sie war von 2–3 Uhr bei mir gewesen, und ohne daß man ihr oder mir ein Wort mitgeteilt hätte, befahl man mir sofort nach ihrem Weggang, daß ich mich reisefertig zu machen, das heißt, meine Effecten zusammenzupacken habe.

Noch einmal entkleidete und untersuchte man mich, dann wurde ich unter Begleitung von sechs Wächtern nach dem Quai gebracht. Dort schifften wir uns in eine Dampfschaluppe ein, die gegen Abend in die Rhede von Rochefort einlief. Hierauf kam ich direct in das Transportschiff »Saint-Nazaire«. Kein Wort wurde zu mir gesprochen, nicht die leiseste Andeutung über den Ort gemacht, an den man mich bringen wollte.

Auf dem »Saint-Nazaire« schloß man mich in eine vor der Kommandobrücke befindliche Deportationscabine ein, die nach außen hin ein einfaches Gitter hatte. Es war beinahe 14 Grad Kälte und eine dunkle, unheimliche Nacht. Man warf mir eine Hängematte in meinen Käfig und dachte nicht daran, mir irgendwelche Nahrung zu reichen.

Die Erinnerung an meine Frau, an die ich am selben Tag geschrieben, ohne daß sie von meiner Deportation wußte, die ich nicht einmal hatte küssen können, der Gedanke an meine geliebten Kinder, an meine Familie, die ich in Angst und Verzweiflung zurückließ, die Ungewißheit, wohin man mich bringen werde, die Lage, in der ich mich befand, … so furchtbar stürmten alle diese Gedanken und Empfindungen auf mich ein, daß ich mich in einer Ecke meines Käfigs auf den Boden warf und weinte, daß die heißen Thränen in der kalten, grausigen Winternacht über meine Hände rieselten.

Am folgenden Abend lichtete der »Saint-Nazaire« die Anker.



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