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Ein Mann von so außergewöhnlichen Fähigkeiten wie Lange konnte die doppelte Aufgabe meistern, einmal einem Notstandsgebiet durch die Schaffung einer blühenden Industrie neue Lebensmöglichkeiten zu geben und die Kräfte, welche diese Industrie benötigte, selbst zu erziehen. Nach seinem Heimgang mußte die Last geteilt werden. Eine Versammlung, die im September 1876 zur Gründung eines deutschen Uhrmacherverbandes in Harzburg zusammentrat, stellte auf ihre Tagesordnung auch den nachstehenden Satz:
»Würde die Begründung einer deutschen Uhrmacherschule in Glashütte ausführbar sein?«
Es ist bemerkenswert, daß gar nicht mehr über die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit, sondern nur noch über die Ausführbarkeit beraten wurde, denn daß eine solche Lehrstätte unbedingt notwendig war, stand außer Zweifel und daß sie nach Glashütte kommen müßte, dem Ort, der durch Adolf Lange bereits die Hohe Schule der Uhrmacherkunst geworden war, darüber brauchte auch nicht mehr debattiert zu werden. Es war besonders der bereits im vorhergehenden Abschnitt genannte Moritz Großmann, der so überzeugend dafür eintrat und sprach, daß die Versammlung in Harzburg einstimmig einen Antrag annahm:
»Die Gründung von Uhrmacherschulen, vorläufig einer Schule in Glashütte wird beschlossen und dem künftigen Vorstande des Zentralverbandes deutscher Uhrmacher zur weiteren Verfolgung überlassen.« Auf dem nächsten Verbandstage, der im September 1877 in Wiesbaden stattfand, wurde die Begründung noch einmal bestätigt. Auch die sächsische Regierung stellte sich hinter den Plan, und mit ihrer Unterstützung konnte Großmann zunächst eine Studienreise zu ähnlichen Schulen in Frankreich und der Schweiz unternehmen. Schon am 12. Oktober 1877 bildete sich unter seinem Vorsitz in Glashütte ein Ortsauschuß, um die Errichtung der Schule energisch vorzutreiben, und am 1. Mai 1878 konnte sie eröffnet werden.
Klein und bescheiden begann die deutsche Uhrmacherschule zunächst in von der Gemeinde zur Verfügung gestellten Räumen, doch schon im Jahre 1881 konnte sie ein eigenes Gebäude beziehen, das erst nach 42 Jahren einen Erweiterungsbau benötigte. Ihr Ziel war das gleiche, das sich schon Adolf Lange gesteckt hatte, nämlich in Praxis und Theorie hervorragend tüchtige Uhrmacher heranzubilden. Die Schüler aber, denen solche Ausbildung zuteil werden sollte, waren jetzt von anderer Art; nicht mehr Strohflechter und Waldarbeiter, sondern zum erheblichen Teil Leute, welche ihre Lehrzeit bereits absolviert und die Gehilfenprüfung als Uhrmacher abgelegt hatten.
Durch mehr als zwei Menschenalter hat die Schule in diesem Sinne gearbeitet. Wahre Künstler des Faches sind aus ihr hervorgegangen und haben im ganzen Reiche befruchtend auf das Uhrmachergewerbe gewirkt. Die Zeit ging darüber weiter durch den Weltkrieg und die Nachkriegszeit zur nationalen Wiedergeburt. Der berufsmäßige Pflichtschulunterricht war im letzten halben Jahrhundert so weit entwickelt worden, daß man daran denken konnte, für Glashütte die Ziele noch höher zu stecken, und so ist die »deutsche Uhrmacherschule« im Jahre 1940 in die »Meisterschule des deutschen Uhrmacherhandwerkes« umgewandelt worden.
Die Meisterschule nimmt nach der Neuregelung nur noch Fachschüler auf, welche die Gehilfenprüfung bestanden und eine längere praktische Tätigkeit hinter sich haben. Über die Grundsätze und leitenden Ideen, die für die neue Schule maßgebend sind, mag in Folgendem einiges aus der Rede wiedergegeben werden, die Direktor K. Giebel im April 1940 bei der Eröffnung hielt:
»Es sollen besonders diejenigen zum Schulbesuch angeregt werden, die sich schon in Zwischenprüfungen, Reichsberufwettkämpfen, Gehilfenprüfung oder sonstwie hervorgetan haben. Dadurch werden wir eine Schülerschaft bekommen, die bis zu einem gewissen Grade schon eine Auslese darstellt, wodurch der Wirkungsgrad der Schule ganz erheblich gesteigert werden kann.
Um die Eignung für die schulische Weiterbildung festzustellen, ist eine Aufnahmeprüfung eingeführt. Sie hat den Zweck, festzustellen, ob der Eintretende seine bisherigen Bildungsgelegenheiten in Praxis und Theorie gut ausgenutzt hat, also in der Lage ist, unserem Unterricht mit Verständnis zu folgen. Wer das nicht kann, bildet einen Hemmschuh für seine Kameraden und muß deshalb ausscheiden. Eine derartige Siebung schon bei der Aufnahme ist notwendig, da im Unterricht ein ziemlich scharfes Tempo vorgelegt werden muß, um das Ziel des einjährigen Meisterkurses zu erreichen, an dessen Abschluß für diejenigen, welche die äußeren Bedingungen erfüllen, die Meisterprüfung steht.«
Meister des Uhrmacherhandwerkes! Es ist ein Handwerk von eigener Art, das die heutigen Jünger Peter Henleins betreiben. Eine Geschicklichkeit der Hand und ein Fingerspitzengefühl, die noch über das von Feinmechanikern, Juwelieren oder Optikern verlangte hinausgehen, müssen sie mit einer Fülle mathematischer und physikalischer Kenntnisse vereinigen. Handwerk und Wissenschaft fließen insbesondere beim Bau von Präzisionsuhren zu einer Einheit zusammen. In der Berechnung ebenso wie in der Ausführung werden Genauigkeiten gefordert, die erstaunlich hoch sind. – – –
Eine erstklassige Taschenuhr, etwa eine Glashütter, soll in 24 Stunden höchstens 4 Sekunden Gangabweichung haben. 24 Stunden sind 86 400 Sekunden. Hier wird also eine Genauigkeit von mehr als 1 : 20 000 verlangt. Derjenige Teil der Taschenuhr, der Schwingungen von einer solchen Gleichmäßigkeit ausführen soll . . . 5 in jeder Sekunde, also 432 000 in 24 Stunden . . . ist die Unruh, und zwar soll sie es gleichbleibend in den verschiedensten Lagen und bei verschiedenen Temperaturen. Da gilt es Lage- und Temperaturfehler auszugleichen oder zu kompensieren einerseits durch minutiöseste Arbeit bei der Anfertigung und andererseits durch sinnvolle Konstruktionen. Der Schwerpunkt des ganzen schwingenden Systems muß auf hundertstel Millimeter genau auf der Verbindungslinie der beiden Achsenzäpfchen liegen, die selbst nur 0,06 mm stark sind, also die Dicke eines Barthaares haben. Auf den Schwerpunkt ausgeglichen und genau ausgewuchtet muß das kleine Rad der Unruh sein, wenn sie in jeder Lage gleich schwingen soll. Handwerklich bedeutet das feinste Feinarbeit, theoretisch die Erfüllung einer Reihe von Bedingungen, die sich aus der Schwingungslehre ergeben.
Der Temperaturfehler wird dadurch hervorgerufen, daß die Spannkraft der Unruhfeder bei steigender Temperatur nachläßt. Sie macht sozusagen schlapp und vermag die träge Masse des Unruhrades nicht mehr im gleichen Tempo hin- und herzuschwingen. So würde eine Taschenuhr ohne Kompensation für 1° Temperatursteigerung etwa 12 Sekunden in 24 Stunden nachgehen. Bei einer Temperaturdifferenz von 30° ergeben sich 6 Minuten. Man wirkt dem entgegen, indem der Kranz des Unruhrades aus zwei der Länge nach miteinander verschweißten Metallstreifen von verschiedenen Ausdehnungskoeffizienten hergestellt und an zwei gegenüberliegenden Stellen aufgeschnitten wird. So biegen sich die freien Enden des Kranzes bei steigender Temperatur nach innen, sein Trägheitsmoment verringert sich und die Erschlaffung der Feder wird dadurch wett gemacht.
Eine normale Taschenuhr enthält in einem Raum von etwa zehn Kubikzentimetern rund 200 Einzelteile. Daraus erhellt zur Genüge, daß die einzelnen Teile recht klein sind und vielfach nur unter Zuhilfenahme starker Lupen bearbeitet und gehandhabt werden können. Die kleinsten Schräubchen einer Taschenuhr haben einen Gewindedurchmesser von 0,3 mm und wiegen weniger als 1 Milligramm. Dafür kostet aber ein Kilogramm davon etwa 300 000 RM., d. h. hundertmal soviel, wie Gold. Noch höher ist die Wertsteigerung, die Stahl durch die Verarbeitung auf Unruhfedern erfährt. Der Wert des Werkes einer feinen Taschenuhr liegt zu 3% im Material, zu 97% in der Arbeit.
So klein wie die Teile sind auch die Kräfte, die sie bewegen. Die aufgezogene Feder einer Taschenuhr enthält Energie im Betrage von 0,1 Meterkilogramm, die im Laufe von 24 Stunden oder 86 400 Sekunden in das Werk abgegeben wird. Eine Pferdestärke leistet in jeder Sekunde 75 Meterkilogramm. Daraus ergibt sich, daß ein einpferdiger Motor rund 65 Millionen Taschenuhren betreiben könnte und es leuchtet ein, daß mit der geringfügigen Energiemenge, die für das Uhrwerk zur Verfügung steht, sehr pfleglich umgegangen werden muß.
Reibung verzehrt die Energie; möglichst reibungslos muß das Werk deshalb arbeiten; aus blauhartem Stahl bestehen die haarfeinen Zapfen seiner Wellen und laufen in den Bohrungen härtester Edelsteine, in Rubinen und Saphiren, ja in Diamanten. Und poliert sind Edelsteine und Zapfen. Was der Feinmechaniker Polieren nennt, heißt beim Uhrmacher noch Schleifen. Was vom Uhrmacher poliert ist, darf auch unter einer achtfach vergrößernden Lupe keinen Riß oder Kratzer mehr zeigen. Daß eine so weit getriebene Politur auch einen weitgehenden Rostschutz bietet, ist ein Vorteil, der nebenbei anfällt.
Genauigkeiten oder Ungenauigkeiten, die auch mit starken Lupen nicht mehr zu kontrollieren sind, muß der Präzisions-Uhrmacher mit der Hand fühlen. Fehler, die er nicht mehr fühlen, sondern nur noch ahnen kann, können immer noch verhängnisvoll werden. Deshalb müssen seine Handgeschicklichkeit, das feine Gefühl und Augenmaß in unerhörtem Maße geschult werden. Die geringste Exzentrizität eines Rades oder Triebes muß er feststellen, und wo das Auge nicht mehr ausreicht, muß er die Fehler am Widerstande fühlen. Ist etwa im Gabeleinschnitt einer Ankerhemmung eine ganz geringe Rauhigkeit oder eine Spur verharzten Öles, gleich äußert es sich in einer Gangverschlechterung. Ist ein Zapfen, der sieben Hundertstel Millimeter im Durchmesser hat, um tausendstel Millimeter unrund oder stärker als der andere, sofort zeigen sich Lagefehler. Diese wenigen Beispiele mögen einen Begriff von der handwerklichen Arbeit des Präzisions-Uhrmachers geben. Die Hunderte von Spezialwerkzeugen, die er dafür benötigt, fertigt er sich teilweise selbst, damit sie ihm gut in der Hand liegen.
Nun die theoretische Seite. Er muß die Lehre von den Verzahnungen beherrschen, von den Eingriffen der Hemmungen und von den Gangreglern, d. h. die Theorie der mechanischen Schwingungen. Ein Sonderkapitel bietet die Lehre vom Isochronismus, die zur mathematischen Ableitung bestimmter Anfangs- und Endkurven führt, nach denen die haarfeinen Unruhfedern genau gebogen werden müssen. In Spezialgebiete fallen dann die Lehre von den Schlagwerken ohne und mit Repetition, die Lehre von den Stoppeinrichtungen, die schleichende und die springende Sekunde, der nachspringende Zeiger und anderes mehr. Eine besondere Wissenschaft bilden schließlich die astronomischen Werke, die den Lauf von Sonne, Mond und den Planeten zeigen. Endlich gehören auch elektrische Uhren in den Arbeitsbereich, die eine nicht unerhebliche Menge elektrotechnischer Kenntnisse erfordern.
So ist das Pensum wahrlich nicht gering, das auf der Meisterschule des deutschen Uhrmacherhandwerkes im Laufe eines Jahres zu bewältigen ist, und es muß in der Tat ein scharfes Tempo vorgelegt werden. Der praktische Unterricht beginnt mit den Arbeitsmethoden, die möglichst schon an produktiven Fertigungen geübt werden; zum Beispiel dem Feilen von Radschenkeln, Sticheln und Maßwinkeln, dem Drehen von Wellen mit Zapfen und von Trieben, dem Rund- und Flachpolieren, dem Fassen von Lager- und Deckelsteinen. An diese ersten Arbeiten schließt sich der Bau von Hemmungs-Modellen und Tastmikrometern, und dann geht es an die Taschenuhr selbst. Der Schüler muß die Teile einer Uhr, wie sie die Rohwerkefabrik anliefert, Stück um Stück so überarbeiten und zusammenfügen, daß eine Uhr von Glashütter Güte daraus wird. Dadurch hat er Gelegenheit, sämtliche an einer Präzisionsuhr vorkommenden Arbeiten bis zur Feinreglage auszuführen, und erfährt praktisch die Wahrheit des Spruches: Der Regleur ist der König der Uhrmacher.
Es folgt die gleiche Arbeit an einer Armbanduhr und die Fertigung eines Seechronometers mit einer täglichen Gangabweichung von höchstens einer halben Sekunde. Alle diese Werke werden beim Verlassen der Schule Eigentum des Schülers und helfen ihm, einen beträchtlichen Teil der Kosten des Schulbesuches decken. – – –
Könnte der alte Nürnberger Meister auf dem Schlosserwerk heute durch die Werkstätten und Hörsäle der Glashütter Schule gehen, er würde sich doch fürbaß verwundern über die Entwicklung, die jene Technik, zu der er einst den Grundstein legte, in vierhundert Jahren genommen hat. Was würde er wohl denken, wenn er eines der »Eylein« von 1510 neben einer Präzisionsuhr von 1942 sähe, wenn er seine Spindeln und Waagbalken mit einer vollkompensierten Unruh vergleichen könnte. Unfaßlich müßte ihm all das sein. – – –
Viel, sehr viel lernt ein Schüler der Meisterschule in dem einen Lehrjahr. Praktisch wie theoretisch beherrscht er sein Fach vollkommen und vermag auch Arbeiten, die aus dem Rahmen des Alltäglichen herausfallen, zu meistern. Für diejenigen jedoch, die ihrer Weiterbildung ein zweites Jahr widmen können, ist im Anschluß an die Meisterklasse noch eine ebenfalls einjährige Aufbauklasse angegliedert, deren Arbeitsplan sich freier gestalten läßt. Die Schüler, die auch diese Klasse mit Erfolg absolviert haben, stellen gewissermaßen die Auslese der Auslese dar. – – –
Der zweite Weltkrieg hat begreiflicherweise auch auf das in Glashütte weiter Geplante in mancher Hinsicht hemmend gewirkt. Der neue Träger der Meisterschule, der Reichsinnungsverband, beabsichtigt, der Schule, die jetzt mitten in dem Städtchen liegt, ein erheblich größeres Heim auf einem der Berge in der nächsten Umgebung des Ortes zu schaffen. Schon liegen die Pläne für einen Neubau vor, der (einschließlich Kameradschaftshaus und Bezirksberufsschule) rund 3000 qm Nutzfläche enthält und für sechzig Schüler und zweihundertvierzig Berufsschüler des Uhrmacherhandwerks Raum bietet. Einstweilen mußte dies Vorhaben zurückgestellt werden, doch zu gegebener Zeit wird es zur Ausführung kommen und die Entwicklung, die vor hundert Jahren in Glashütte begann, wird stetig weitergehen. – – –
Im vorangehenden und in diesem Abschnitt wurden dies Ereignisse, die mit dem Namen Adolf Lange, der Meisterschule und Glashütte verbunden sind, ausführlicher behandelt, weil darin die glückhafte Wiedergewinnung und Pflege des reichen Erbes enthalten ist, das Meister Henlein einst seinem Volke hinterließ, und das schon fast an das Ausland verloren ging. Unter solchem Gesichtspunkt und Maßstab muß Glashütte gewertet werden und aus diesem Grunde darf es in einem Buch nicht fehlen, das seinem Gedenken gewidmet ist. – – –
Zur Abrundung des Bildes mag noch erwähnt sein, daß Uhrmacherkunst, Uhrmacherhandwerk und Uhrenindustrie reichen Anteil an jenem Aufblühen von Wirtschaft und Technik gehabt haben, das im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts einsetzte. Ähnliche Schulen wie in Glashütte wurden auch in Furtwangen in Baden und in Schwenningen in Württemberg begründet. Zahlreiche Uhrenfabriken entstanden, zu erheblichem Teil große Industriewerke, die mit den besten und leistungsfähigsten Spezialmaschinen arbeiten und deren Erzeugnisse denen des Auslandes längst nicht mehr nachstehen, sie zum Teil übertreffen. Sie im einzelnen zu nennen, reicht der verfügbare Raum nicht aus. Nur das mag von ihnen gesagt werden, daß sie erfolgreich weiterführen, was Meister Peter vor vierhundertvierzig Jahren begann.