Hans Dominik
Befehl aus dem Dunkel
Hans Dominik

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Im japanischen Kabinett herrschte seit kurzem eine fieberhafte Hochspannung und Tätigkeit. Wollte man die bisherige günstige politische Lage ausnutzen, war höchste Eile geboten.

Im Anschluß an eine Rede des hochangesehenen amerikanischen Senators Harob hatte sich beinahe über Nacht in der gesamten angelsächsischen Presse ein politischer Meinungsumschwung vollzogen, der in seinen Auswirkungen von umwälzender Bedeutung werden konnte. Senator Harob hatte ausgeführt:

Japan stehe auf dem Sprunge, unter Ausnutzung der englisch-amerikanischen Differenzen neues Land für seine hungrigen Menschenmassen zu gewinnen. Der Fall liege ähnlich wie bei der Besetzung der Mandschurei. Damals habe England im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten dem japanischen Anschlag auf die chinesische Mandschurei keinen Widerstand entgegengesetzt. Es ging dabei von der Erwartung aus, daß mit dem Erwerb der Mandschurei der japanische Landhunger auf absehbare Zeit gestillt sei und damit Japans Aspirationen auf das menschenarme Australien in den Hintergrund treten würden.

Jetzt stelle sich jedoch heraus, daß dieser Kalkül falsch gewesen sei. Alle Anzeichen deuteten darauf, daß die Großmacht im Fernen Osten eher früher als später einen neuen Landraub beabsichtige. Gelänge er, würden die Folgen unabsehbar sein. Die Besitzungen der weißen Rasse im Fernen Osten würden eine nach der anderen Opfer gelber Landgier werden. Leider sei auf eine geschlossene Front der weißen Staaten nicht zu rechnen. Manche, darunter in erster Linie Frankreich, sympathisierten ganz offensichtlich mit den gelben Plänen. Immerhin könnte das Unheil noch abgewendet werden, wenn sich England und die Vereinigten Staaten einig wären. Der Zerfall des früheren angelsächsischen Blockes sei nicht zum wenigsten durch die geschickten Machenschaften Japans verursacht worden. –

Den stärksten Widerhall fand die Rede Harobs in England. Allgemein wurde ein Wechsel der Regierung verlangt. Man schrieb offen, daß die Differenzen zwischen den beiden angelsächsischen Mächten zu einem gewissen Teil durch persönliche Unstimmigkeiten leitender Staatsmänner entstanden seien. Besonders einige konservative Mitglieder des Kabinetts mußten scharfe Vorwürfe einstecken. –

Da in Ostsibirien die Ouvertüre zu dem großen Kampf gespielt werden sollte, galt es, das Unternehmen Borodajews so schnell wie möglich in Gang zu bringen. Oberst Macoto vom japanischen Generalstab wurde in das Sungarigebiet geschickt, um an Ort und Stelle den Stand der Dinge zu prüfen. –

Seit einer Woche weilte er dort. Seine Berichte lauteten durchaus zufriedenstellend.

Heute hatte er noch mit Borodajew die am weitesten vorgeschobenen Feldlager und Formationen der Freiwilligenarmee besichtigt. Während sie jetzt nach dem Quartier des Generals zurückritten, lenkte er sein Pferd an die Seite der schönen Frau, die, vom frühen Morgen an ununterbrochen im Sattel, Borodajew begleitete.

Immer wieder hatte Macoto, während sie von einem Lager zum anderen ritten, Gelegenheit gehabt, den klaren, praktischen Blick und das sichere Empfinden Helenes zu bewundern, die treffende Art, mit der sie sich über das Gesehene äußerte und geschickte Ratschläge über Änderungen oder Verbesserungen von diesem und jenem gab.

Jetzt, der militärischen Pflichten ledig, drängte es Macoto, die Konversation dieser schönen, klugen Frau zu genießen. Er kannte Europa und seine Kultur durch einen langen Aufenthalt dort sehr genau. Nicht lange, so war er in eine lebhafte, angeregte Unterhaltung mit Helene verwickelt. –

Während er so Seite an Seite mit ihr den langen Weg heimritt, konnte er sich nicht genug wundern. Wie vermochte es diese, in ersten europäischen Gesellschaftskreisen heimisch gewesene, Frau ohne eine Spur sehnsüchtigen Bedauerns von den Erinnerungen an ihr früheres Leben zu sprechen! Immer wieder mußte er sich fragen: Wie konnte diese, auch für westliche Verhältnisse nicht alltägliche, Frau sich in dem einfachen, rohen Soldatenleben wohl fühlen? –

Sie hatten das Ufer des Sungari erreicht. Aus einer gebrechlichen Fähre setzten sie nicht ohne Gefahr über den angeschwollenen Fluß zu dem armseligen Dörfchen hinüber, in dem General Borodajew jetzt sein Quartier hatte.

Er hatte es seit kurzem hierhin verlegt. Statt des für mandschurische Verhältnisse immerhin recht gut ausgestatteten, behaglichen Quartiers in Sansing hatte man jetzt nur ärmliche Dorfhütten zur Verfügung. Doch nie war ein Wort der Unzufriedenheit, des Mißvergnügens aus Helenes Mund gekommen. Unberührt von dem Fehlen all der gewöhnten Lebensannehmlichkeiten zeigte sie stets ein heiteres, zufriedenes Gesicht.

Der General war glücklich in seiner Liebe. Hätte er jedoch tiefer in Helenes Herz schauen können, würde er wohl gemerkt haben, daß ihre frohe Laune zum Teil auch ihrer natürlichen Lust an solchem abenteuerlichen Leben entsprang. –

Macoto hatte den Bericht über seine Mission abgeschlossen. Sie saßen um den summenden Samowar. Da traf ein Radiogramm aus Mukden ein, das ihm befahl, nach Erledigung seiner Aufträge alsbald dorthin zu kommen.

Der Oberst schaute auf die Uhr und trat ans Fenster. Die Mondsichel war hinter schweren Wolken verborgen, der Himmel sternenlos, eine undurchdringliche Finsternis draußen.

»Kaum möglich, in dieser Nacht im Flugzeug die Reise anzutreten. Ich kann mir auch nicht denken, daß man mich sofort erwartet. Wenn ich morgen früh fliege, bin ich gegen Mittag dort. Das dürfte wohl genügen.« Der Gedanke, noch einige Stunden in der Gesellschaft der schönen Frau Helene zu verbringen, versöhnte den Obersten mit der Verzögerung seiner Abreise.

Helene verließ einen Augenblick den Raum. Als sie wiederkam, wandte sie sich mit schmeichelndem Mund zu Borodajew:

»Du mußt mir gestatten, Alexei, daß ich selbst Oberst Macoto im Flugzeug nach Mukden bringe, das heißt, wenn er sich meiner Führung anvertrauen will.«

Der General runzelte die Brauen, sein starker Schnurrbart sträubte sich. Helene strich ihm liebkosend über die Stirn und sagte mit ihrem gewinnendsten Lächeln halblaut: »Es gibt Dinge, Alexei, die eine Frau selbst im Felde schwer entbehren kann.«

Der General beugte den Kopf zur Seite, als wolle er doch widersprechen. Da fuhr sie fort: ». . . darunter solche, deren Einkauf sie am liebsten selbst besorgt. In Mukden werde ich alle diese Dinge finden. Wenn ich bei einbrechender Dunkelheit noch nicht zurück sein sollte, sorge bitte für eine gute Beleuchtung des Flugplatzes.«

Oberst Macoto nahm die Einwilligung Borodajews vorweg und dankte Helene mit liebenswürdig-begeisterten Worten für ihr Anerbieten.

»Dann aber jetzt sofort zu Bett!« sagte Borodajew brummend, »Punkt sechs Uhr mußt du startbereit sein.«

Helene drückte ihm strahlend die Hand. »Immer wieder muß ich sagen, du sorgst dich unnötig, Alexei. Die vier bis fünf Stunden Flug sind doch ein Kinderspiel für mich.«

»Sag das nicht, Helene! Die um diese Jahreszeit oft so plötzlich auftretenden Orkane können den besten Piloten gefährlich werden.«

»Keine Angst, Alexei, ich werde mich schon vorsehen. Weiß auch sehr wohl, schweren Wettern rechtzeitig auszuweichen.« –

Mukden, der Sitz der mandschurischen Regierung, hatte während der letzten Jahre seine Einwohnerzahl fast verdoppelt. Ganz neue Viertel waren an den Ufern des Hun Ho entstanden. Tausende japanischer Gewerbetreibender hatten sich hier niedergelassen und die europäischen und amerikanischen Unternehmungen fast verdrängt. Japanische Firmenschilder in allen Straßen, japanisches Militär, wohin man sah, japanisch der Stempel, welcher der Stadt den Charakter gab.

Hinter den schimmernden Spiegelscheiben der großen Kaufhäuser lagen alle Erzeugnisse westlicher Kultur. Helene schwelgte ein paar Stunden in lang entbehrten Genüssen. Dann ließ sie sich zum Flughafen fahren. Macoto hatte sie gebeten, dort noch einmal mit ihm zusammenzutreffen, für den Fall, daß er gewisse Weisungen vom japanischen Oberkommandierenden für Borodajew erhalten würde.

Sie betrat den Platz und fand Macoto im Hafenrestaurant.

Er hatte eine versiegelte Mappe bei sich, die für General Borodajew bestimmt war. Wiederholt und dringend bat er sie jedoch, den Rückflug auf den nächsten Morgen zu verschieben. Die Auskunft, die er fürsorglich bei der meteorologischen Station eingeholt hatte, sagte ungünstiges Flugwetter voraus.

»Erst recht ein Grund für mich, doch zu fliegen«, sagte Helene eigensinnig. »Ich bin gewöhnt, das Gegenteil von den Voraussagen der Wetterpropheten anzunehmen, und habe damit meistens das Richtige getroffen.«

Sie stand auf und ging, von Macoto gefolgt, zur Startbahn. Selbstsicher wies sie auf ihre Maschine.

»Sie sind im Fliegen nicht ausgebildet, Herr Oberst, sonst würden Sie wohl zugeben, daß diesem schnellen, schnittigen Zweisitzer so leicht nichts anzuhaben ist. Kommt mir wirklich ein Unwetter in den Weg, werde ich mir die große Schnelligkeit meiner Schwalbe zunutze machen und ausweichen.«

Sie wollte eben in ihr Flugzeug steigen, da fiel ihr Blick auf eine andere Maschine, die gerade aufgesetzt hatte und jetzt ausrollte. Sie sah neugierig hinüber, wer die Fluggäste wären.

»Polizeiflugzeug«, sagte Macoto. »Anscheinend zwei Kriminalbeamte, die einen Gefangenen transportieren . . . ein Westländer, wie es scheint.«

Interessiert trat Helene ein paar Schritte vor und sah zu dem anderen Flugzeug hin . . . einen Augenblick schien ihre Gestalt zu wanken. Tief erblaßt stand sie da, starrte wie gebannt auf den Gefangenen.

Macoto war an ihre Seite geeilt, legte den Arm in ihren. »Meine gnädigste Frau, ich bitte Sie, was ist Ihnen? . . . Sind Sie krank geworden? . . . Oder ist es . . . der Gefangene? . . .«

Bei Macotos Worten schreckte Helene auf und drehte sich um.

»Aber, meine Gnädigste . . . wie sehen Sie aus? . . . Weshalb sind Sie so erschüttert? . . . Wie kann ich Ihnen helfen? . . . wie . . .«

Helene senkte den Kopf und strich mit einer schmerzlichen Gebärde über die Augen. »Rochus«, kam es tonlos von ihren Lippen. »Rochus . . . hier sehe ich dich wieder . . .«

»Oh, meine teure gnädige Frau, wie muß ich Sie bedauern! Der Gefangene ist Ihnen bekannt . . . ja noch mehr, er steht Ihnen nahe? Ich bin ratlos, wie ich Ihnen helfen könnte. Der Gefangene . . . alle Umstände deuten darauf, daß seine Lage sehr ernst ist. Immerhin, ich will versuchen . . . doch nein . . . zuvor möchte ich Sie in das Restaurant zurückführen. Sie bedürfen unbedingt einer Erholung . . . einer Erfrischung.«

»Ja, ja, Herr Oberst, gehen wir dorthin! Ich bedarf einer kurzen Ruhe . . . doch nein . . . lassen Sie bitte meinen Arm, ich finde allein den Weg. Gehen Sie bitte zu den Kriminalbeamten und fragen Sie, wer der Gefangene ist und wessen man ihn beschuldigt.« –

Als Oberst Macoto kurze Zeit später zu Helene in das Restaurant kam, fand er sie wieder gefaßt. Sie sagte kein Wort, doch ihre Augen verrieten deutlich, mit welcher Spannung sie auf seine Mitteilungen wartete.

Macotos Gesicht war ernst, als er zu sprechen begann:

»Eine sehr bedenkliche Angelegenheit, gnädige Frau. Ich kann Ihnen vorläufig nur das Wenige sagen, was mir die Beamten mitteilten, die, wie ich merkte, über das eigentliche Vergehen des Mannes nicht informiert sind. Es handelt sich um einen der Spionage verdächtigen Ausländer namens Arngrim. Er ist vor einiger Zeit aus dem Gefängnis in Tokio entflohen und in Yokohama an Bord eines französischen Dampfers gegangen. Bei der Landung in Niutschwang ist er auf telegraphischen Befehl von dem Schiff heruntergeholt und hierhergebracht worden. Was weiter mit ihm geschehen wird, kann ich nicht sagen. Ich hörte nur, daß er vorläufig hier in das neue Gefängnis am Hun Ho gebracht wird.«

In Helenes Gesicht vollzog sich, während Macoto sprach, eine gewisse Wandlung. Ihre Augen gewannen den alten Glanz wieder, ihre Züge den gewohnten Ausdruck. Sie konnte sich sogar zu einem Lächeln zwingen, als sie jetzt zu Macoto sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, Herr Oberst. Sie waren ja so besorgt um mich. Nun will ich Ihnen auch erzählen, warum mich der Anblick des Gefangenen so stark traf.« –

Während sie jetzt sprach, schienen die letzten Spuren der Erschütterung verschwunden zu sein. Doch wer Helene etwa so kannte wie Alfred Forbin, würde sich sagen: Ah, jetzt hat sie einen schlauen Plan ausgeheckt, auf dessen Ziel sie mit aller Geisteskraft und Energie losgeht! Wie wohl eine schöne Frau einem Verehrer aus ihrer Tanzstunden- und Backfischzeit Reminiszenzen serviert, in humoristischer, leicht ironischer Weise über Anbeter von damals plaudert, so sprach Helene von fröhlichen Jugendtagen, von frohen Stunden, die sie mit der Neustädter jeunesss dorée . . . darunter auch Arngrim . . . einst verlebt hatte. Dieser Arngrim habe später ihre Heimatstadt verlassen, um auszuwandern. Was er in der Zwischenzeit getrieben, wisse sie nicht. Sein plötzlicher Anblick hier als Gefangener . . . Verbrecher habe sie natürlich sehr ergriffen . . .

Helene zog die Uhr. »Ich sehe, Herr Oberst, daß ich dem Gefangenen nicht helfen kann, so leid er mir auch tut. Ich fühle mich wieder vollkommen wohl. Lassen Sie uns zur Startbahn gehen.«

»Gnädige Frau! Sie wollen doch nicht etwa jetzt den Rückflug antreten?«

»Aber warum nicht, Herr Oberst?«

»Habe ich schon vorher dringend abgeraten, so muß ich jetzt darauf bestehen, gnädige Frau, daß Sie bis morgen warten. Gewiß, Sie haben die schwere Erschütterung scheinbar überwunden. Aber ich glaube doch, daß sie im Unterbewußtsein noch nachwirkt. Mit Nerven, die nicht völlig intakt, dürfen Sie den Flug bei solcher Wetterlage unmöglich wagen.«

Helene machte ein mißmutiges Gesicht. »Ich habe es Alexei versprochen, und . . .«

»Höhere Gewalt, gnädige Frau, geht über alle Versprechen. Ich werde sofort mit Ihrer Erlaubnis ein Radiogramm an General Borodajew schicken, daß Sie erst morgen fliegen.«

»So mag's denn sein, Herr Oberst«, sagte Helene zögernd, »obgleich ich Ihre Besorgnisse für übertrieben halte. Ich werde die Gelegenheit benutzen, heut abend das Theater zu besuchen. Vielleicht treffen wir uns danach noch einmal in meinem Hotel.«

»Aber selbstverständlich, meine Gnädige! Es wird mir ein großes Vergnügen sein, noch ein Stündchen mit Ihnen im Hotel zu plaudern.« –

Als Macoto gegen die elfte Abendstunde in das Restaurant des Hotel Mandschuria kam, fand er Helene in einer anscheinend recht vergnügten Stimmung. Sie sprachen über das Theaterstück und über die künstlerischen Genüsse Mukdens. Nur ab und zu meinte Macoto aus ihren scherzenden Worten einen nervösen Unterton herauszuhören. Als es die zwölfte Stunde schlug, erhob sich Helene und reichte ihm die Hand zum Abschied. Der Oberst versprach, am nächsten Vormittag auf den Flugplatz zu kommen, um ihr die Mappe für Borodajew zu bringen. Bald nachdem er fortgegangen, trat auch Helene vor die Tür des Hotels. In der Fliegerkleidung unter dem weiten Mantel, eine Reisemütze über den Kopf gezogen, konnte sie in der Dunkelheit für einen Mann gelten. Nach einigen Kreuz- und Quergängen schlug sie den Weg zum Hun Ho ein. An einem Kaischuppen unweit des Gefängnisses blieb sie stehen.

Eine Viertelstunde mochte sie wohl gewartet haben, da kam vom Gefängnis her ein Mann. In der Nähe des Schuppens gab er einen leisen Pfiff von den Lippen, den Helene ebenso beantwortete. Der Mann flüsterte ihr ein paar Worte zu, worauf sie ihm ein Päckchen Geldscheine in die Hand drückte. Es war der Rest des Bestechungsgeldes für Arngrims Befreiung.

Der Unbekannte verschwand in einer Seitengasse, Helene schlug den Rückweg zum Hotel ein. Er ist frei! Er ist frei! murmelte sie vor sich hin, was ich tun konnte, habe ich getan. Ob es ihm gelingen wird, ungesehen einen Hafen zu erreichen? Dann wäre er gerettet. Irgendein Schiff wird sich schon finden, das ihn aufnimmt. Das Geld, das ich ihm in den Seemannsanzug einnähte, wird ihm helfen. Das heißt, setzte sie etwas nachdenklich hinzu, wenn dieser Gefängniswärter es nicht gestohlen hat. –

Auch am folgenden Tage war die Wetterlage wenig verheißungsvoll. Die Prognose war ebenso ungünstig wie gestern. Doch diesmal waren alle Bitten Macotos, den Rückflug noch einmal zu verschieben, vergeblich. Helene bestand auf ihrem Willen.

Ihre Maschine wurde aus der Halle auf die Startbahn gezogen. Ein kurzer Händedruck, dann stieg sie in ihr Flugzeug und ließ den Propeller anwerfen. Wenige Minuten später sah Macoto die Maschine nur noch als kleines Pünktchen nach Norden entschwinden.

»Selbst sie ist nicht frei von Weiberlaunen, läßt sich nicht raten«, brummte er vor sich hin. »Das Postflugzeug nach Söul da drüben wird in die Halle zurückgezogen. Es folgt der Wetterwarnung, unterläßt den Flug.« –

Zwei Stunden hielt Helene ihre Maschine mit einer Geschwindigkeit von fast dreihundert Kilometer auf Nordkurs, da stieg im Westen eine schwarze Wetterwand auf. Nicht ohne Sorge sah Helene sie mit bedrohlicher Schnelle näher kommen, doch verlor sie keinen Augenblick die kühle Überlegung.

Eine Landung auf dem zerklüfteten, größtenteils mit Wald bedeckten Erdboden war ausgeschlossen. Es blieben ihr nur die beiden Möglichkeiten, umzukehren oder ihren Weg weiter zu verfolgen, indem sie aus ihrer Maschine das Letzte herausholte, was die an Schnelligkeit zu leisten vermochte.

Zweifellos wäre es richtiger gewesen, zurückzufliegen und das Unwetter dann von Süden her westwärts zu umgehen. Dann war es aber ausgeschlossen, noch am selben Abend den Heimathafen am Sungari zu erreichen. Entschlossen setzte sie deshalb den Weg nach Norden fort und suchte dabei größere Höhen zu gewinnen, um das Unwetter vielleicht unter ihr Flugzeug zu bringen.

Die Luft war inzwischen so diesig geworden, daß sie vom Boden nichts mehr erkennen und nur nach dem Kompaß fliegen konnte. Die in immer schnellerer Folge einsetzenden Böen zeigten ihr, daß ihre Lage von Minute zu Minute ernster wurde. Eine einigermaßen sichere Aussicht dem Wetter zu entgehen war nur bei einem Kurs nach Nordosten vorhanden. Das bedeutete aber unweigerlich das Überfliegen des Ussuristromes und damit des russischen Küstengebietes.

Mit verbissener Energie blieb sie auf dem alten Kurs. Der Versuch, dem Unwetter durch Gewinnung großer Höhe zu entgehen, erwies sich als erfolglos. Schon zeigte der Höhenmesser fast fünftausend Meter, das Atmen fiel ihr schwer.

Da war es plötzlich, als würde ihr Flugzeug von einer unsichtbaren Hand gepackt und in rasendem Sturz in die Tiefe gerissen. Sekunden verstrichen, dann hatte sie sich und die Maschine wieder in der Gewalt. Ihre Augen gingen zum Kompaß, zum Höhenmesser. Noch ehe sie die Orientierung wiedergefunden, traf sie ein neuer Stoß, der sie beinahe aus dem Führersitz warf.

Es dauerte geraume Zeit, bevor sie das Flugzeug wieder zu meistern, einen Blick auf die Instrumente zu werfen vermochte. Da erkannte sie mit Schrecken, daß die Maschine mit dem Sturm geradeswegs nach Osten jagte. Mit einem schnellen Ruck drehte sie das Steuer, zwang das Flugzeug wieder in die Nordrichtung zurück. –

Wohl eine Stunde kämpfte sie gegen das Wetter, dann hatte sie das Zentrum des Sturmes hinter sich. Sie konnte freier atmen . . . Wo war sie? . . . Wie weit hatte der Orkan sie aus ihrem Kurs geworfen?

Entschlossen stieß sie durch die Wolkenwand, die ihr die Sicht versperrte, nach unten durch. Zunächst bot das Landschaftsbild unter ihr nicht den geringsten Anhaltspunkt zur Orientierung. Doch in der Überzeugung, daß sie weit nach Osten auf russisches Gebiet abgetrieben, nahm sie reinen Kurs nach Westen. Der Grenzfluß Ussuri, die Eisenbahnlinie Chabarowsk-Mukden mußten die Bestätigung dieser Ansicht bringen, wenn es so war.

Eine halbe Stunde war sie geflogen, da sah sie im Sonnenschein das doppelte Band des Flusses und der Eisenbahn schimmern. Ihr Blick ging flußauf-, flußabwärts, blieb an den Häusern und Türmen einer größeren Stadt hängen. Sie schätzte die Entfernung bis zur Grenze auf einige zwanzig Kilometer. In wenigen Minuten mußte sie die überflogen haben.

Da sah sie von Norden, von Chabarowsk her, zwei Flugzeuge herankommen, die sich anschickten, neben der Stadt niederzugehen. Nach ihrer Karte konnte die Stadt vor ihr Wasiliewa sein, wo eine Fliegerabteilung stationiert war. –

Schon hoffte sie, ungesehen über die Grenze entwischen zu können, da sah sie zu ihrem Schrecken, wie die beiden Flieger wieder größere Höhen suchten. Der eine kam direkt auf sie zu, während der andere nach Westen ausbog, offensichtlich um ihr den Weg zu verlegen. Der letztere war der gefährlichere Feind, weil er den kürzeren Weg hatte. Mit ein paar schnellen Griffen machte sie das eingebaute Maschinengewehr fertig, nahm aber doch mit Vollgas Kurs nach Südwesten. Vielleicht, daß ihre Maschine, schneller als die feindliche, die Grenze vor der erreichte.

Aber schon nach wenigen Augenblicken mußte sie einsehen, daß das nicht gelingen würde, ohne in das Feuer jenes Fliegers zu kommen. Kaum daß sie es erkannt, warf sie ihre Maschine herum und stürmte in gerader Linie auf das Flugzeug los, das ihr den Weg abschnitt.

Ein paar Sekunden später fuhren die Geschosse aus ihrem Maschinengewehr dem Russen in die Flanke. Plötzlich eine dunkle Rauchwolke bei dem. Eine glückliche Kugel mußte den Benzintank getroffen haben. In einer roten Feuergarbe schoß das russische Flugzeug nach unten.

In Helene jubelte es auf. Gerettet! dachte sie. In einer Minute bin ich über mandschurischem Boden. Da sah sie etwas Dunkles vor ihrer Maschine durch die Luft fliegen. Ein Treffer des anderen Gegners hatte ihr einen Propellerflügel zerschlagen. Jäh kippte ihr Flugzeug zur Seite. Ein paar Herzschläge höchster Gefahr, dann hatte sie es aufgefangen, suchte in langem Gleitflug über den Ussuri hinweg mandschurischen Boden zu erreichen.

Vergeblich die Hoffnung! Trotz aller Anstrengungen schlug ihre Maschine auf dem Fluß auf. –

Als Helene wieder zu sich kam, befand sie sich in einem militärischen Wachlokal auf einer Soldatenpritsche. An einem Tisch in der Mitte des Zimmers saß ein Soldat, der ihr den Rücken zukehrte.

Gefangen! Ihr erster Gedanke. Eine Flut anderer hinterher . . . der abgeschossene Flieger . . . die Papiere in ihrem Flugzeug . . . der photographische Apparat . . . Spionage . . . Hoheitsverletzung . . . was werden sie mit mir machen? . . .

Vorsichtig begann sie ihren Körper zu untersuchen, ob sie irgendwie bei dem Sturz verletzt sei. Alles in bester Ordnung . . . ein gutes Zeichen . . . nirgends Schmerzen. Nur der Kopf brummt ein bißchen. Wahrscheinlich bin ich bei meiner unfreiwilligen Landung gegen die Wand geschleudert worden. Also vorläufig kein Grund, alle Hoffnung aufzugeben.

»Hallo, mein Bester! Möchten Sie mir nicht lieber Ihre freundliche Seite zukehren?«

Bei dem Klang ihrer Stimme fuhr der Soldat auf, drehte sich zu ihr um. Er war, wie sie aus den Abzeichen erkannte, ein Unteroffizier der Fliegertruppe. Mit ein paar raschen Schritten trat er auf sie zu, streckte ihr drohend die Faust entgegen und überschüttete sie mit einer Flut von Worten.

Da ihr russischer Sprachschatz nur klein war, quittierte sie seine zweifellos recht unfreundliche Ansprache mit einer Nichtverstehen bedeutenden Handbewegung.

Der Soldat drehte sich wütend um, verließ das Zimmer und kam bald darauf mit einigen Offizieren zurück. Ein junger Leutnant sprach sie auf englisch an und bedeutete ihr, daß er bei dem jetzt folgenden Verhör durch Major Opiskin als Dolmetscher dienen würde.

Während die Offiziere an dem Tisch Platz nahmen, fragte sie der Leutnant in ziemlich rücksichtsvollem Ton, ob sie irgendwelche Beschwerden habe und ob sie schon jetzt, eine Stunde nach dem Unfall, geistig frisch genug sei, dem Verhör zu folgen.

»Nun«, sagte Helene lächelnd, »mein Kopf ist zwar bei dem Sturz etwas in Mitleidenschaft gezogen, aber ein Glas Tee und eine Zigarette werden genügen, um mich voll verhandlungsfähig zu machen.«

Während der Dolmetscher hinausging, um das Gewünschte zu besorgen, hatte sie Gelegenheit, die Offiziere am Tisch zu betrachten. Das tat sie in voller Ruhe, ohne sich daran zu kehren, daß sechs Augen sie mit größter Spannung und Neugierde prüften. Der Eindruck, den sie von den Offizieren und besonders von dem Führer, Major Opiskin, bekam, war nicht schlecht. Sie versuchte eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen und redete ihn abwechselnd in allen europäischen Sprachen an, die sie beherrschte. Der Major antwortete ihr in gebrochenem Französisch, daß außer dem Dolmetscher niemand hier eine andere Sprache als Russisch spräche.

Der kam jetzt zurück und stellte ein Kännchen Tee und Zigaretten neben ihr Lager. Helene hielt es für besser, liegenzubleiben, um sich unauffällig vor der scharfen Beobachtung schützen zu können. Außerdem war sie sich bewußt, daß sie in dem unvorteilhaften Fliegerkostüm keinen besonderen Eindruck auf die Offiziere machen konnte. So gab sie, die Arme unter dem Kopf verschränkt, die Augen auf eine Wanduhr ihr gegenüber gerichtet, Antwort auf die vielen Fragen, die ihr gestellt wurden. Ihr Benehmen während des Verhörs machte den Eindruck, als fühle sie sich in keiner Weise schuldig und halte ihr Tun und Handeln für durchaus berechtigt.

Um fünf Uhr hatte das Verhör begonnen. Der Zeiger näherte sich der achten Stunde, und noch immer hatte es kein Ende genommen. Helene fühlte, wie ihre Kräfte nachließen. Der lange, anstrengende Flug, der Kampf in der Luft mit Natur- und Feindesgewalt, das zermürbende Verhör . . . ihre Nerven drohten zu versagen. Kurz entschlossen sprang sie auf:

»Meine Herren! Ihr Benehmen ist nicht ritterlich. Sie vergessen, daß ich eine Dame bin. Sie quälen mich.«

Einen Augenblick sahen die Offiziere sie verdutzt an, brachen dann in ein lautes Gelächter aus. Solche Worte aus dem Munde einer Frau, die mehrfach den Tod verdient hatte, schienen ihnen denn doch der Gipfel der Kühnheit. Einer von ihnen, der Hauptmann Gregorieff, trat entrüstet zu Helene heran und suchte ihr in einem sehr kauderwelschen Französisch klarzumachen, daß man das Verhör jetzt beende . . . nicht weil die gnädige Frau es wünsche, sondern weil der festgestellte Tatbestand vollkommen genüge, um sie vor die Flintenläufe zu bringen. War es Helenes verächtlich-spöttisches Gesicht, waren es ihre französischen Worte »Dummer roher Patron!« . . . der Offizier geriet in Wut und hob schon die Hand gegen sie, da faßte ihn Major Opiskin am Arm und zog ihn aus dem Raum.

Etwas nachdenklich sah Helene sie gehen. Die mehr oder weniger gespielte Sicherheit, mit der sie das Verhör bestanden begann zu wanken. Mit nervösen Fingern griff sie zu der Tabaksdose und zündete sich eine Zigarette an. Nach ein paar beruhigenden Zügen bekam sie ihre Nerven wieder in die Gewalt.

»Der Weg vor die Flintenläufe, Herr Hauptmann Gregorieff, ist sicherlich weiter, als Sie denken«, murmelte sie vor sich hin und schnippte die Asche der Zigarette beiseite. »Noch lebe ich, und das bedeutet allerlei, mein verehrter Herr Hauptmann!« –

Als am nächsten Tage das Kriegsgericht zusammentrat, um gegen Helene Forbin zu verhandeln, hatte ihre an sich schon schlimme Lage soweit möglich noch eine Verschlechterung erfahren. Kurz vor Beginn der Verhandlung war der Kommissar Schtschetinin aus Chabarowsk gekommen.

Schtschetinin hatte keinen offiziellen Posten in der Verwaltung. Er war sozusagen ein Minister ohne Portefeuille und ständig unterwegs, um überall nach dem Rechten zu sehen. Da er niemand unterstellt und nur der Regierung in Moskau verantwortlich war, waren seine Machtbefugnisse unbegrenzt. Die Art und Weise, wie er sie ausnutzte, hatte ihn im ganzen Fernen Osten sehr verhaßt und gefürchtet gemacht.

Äußerlich erweckte er durchaus keinen ungünstigen Eindruck. Noch verhältnismäßig jung, mit regelmäßigen Gesichtszügen und von schlanker, hoher Figur, ging er stets aufs beste gekleidet. Auch suchte er etwas darin, im Verkehr überaus korrekt und höflich aufzutreten. Doch wehe, wenn er auch nur das geringste fand, einem etwas am Zeuge zu flicken. In liebenswürdigster, freundlichster Weise verabschiedete er sich von dem, um ihn ein paar Tage später in schärfster Weise maßregeln und bestrafen zu lassen. Nur in einem Punkt war Schtschetinin verwundbar, er hatte eine Schwäche für Frauenschönheit. Daß er die unzweifelhaften Erfolge, die er auf diesem Gebiete aufweisen konnte, in erster Linie seiner Stellung verdankte, ließ ihn seine Eitelkeit nicht zugeben. Der Fall Helene Forbin hatte aus mehrfachen Gründen großes Interesse für ihn. –

Die Verhandlung vor dem Kriegsgericht nahm einen kurzen Verlauf. Die Angeklagte erklärte von vornherein, daß sie außer den bereits gestern gemachten Aussagen nichts weiter mitzuteilen habe. Sie werde auf alle weiteren Fragen, die an sie gerichtet würden, keine Antwort geben. So mußte sich nach vergeblichem Zureden der Vorsitzende des Gerichts damit begnügen, auf Grund des in der Sitzung vorgelesenen Protokolls das Urteil zu finden. Wie es ausfallen mußte, stand ja außer Zweifel.

Wohl keiner lauerte auf die Verkündung dieses Urteils mit solchem Interesse wie Schtschetinin. Mit einer Art perverser Neugier sah er der Reaktion der Angeklagten auf den Todesspruch entgegen. War ihre Fassung wirklich echt? Würde sie sie bewahren? Er glaubte, wünschte es nicht. Was würde sie tun? Würde sie das gequält-gemachte Lächeln der Gleichgültigkeit zeigen? Würden ihre Nerven gänzlich versagen und sie zusammenbrechen unter der Wucht des Spruches? Würde sie um Gnade bitten? . . .

Noch kürzer als die Verhandlung war die Beratung des Gerichtshofes. Dann wurde das Urteil verkündet: Tod durch Erschießen.

Schtschetinin erlebte eine ärgerliche Enttäuschung. Keine seiner Erwartungen erfüllte sich. Die Angeklagte hörte das Urteil mit ungespielter Ruhe und Gleichmütigkeit an. Nicht anders, als hätte der Vorsitzende eine belanglose Meinung über das Wetter geäußert. –

Eine Stunde später hielt Borodajew den Funkspruch eines seiner Agenten in Händen, der ihm meldete, daß Helene am nächsten Morgen erschossen werden würde.

*

Dale kam mit mehreren anderen Offizieren aus dem Generalstabsgebäude in Canberra. Sein Gesicht sah gerötet und erhitzt aus, eine tiefe Falte war zwischen den buschigen Augenbrauen eingegraben. Ein Ausdruck starker Verbitterung und Enttäuschung stand um seinen Mund. Vergeblich sein langer Kampf, vergeblich alle Anstrengungen, die höheren Militär- und Regierungsstellen von der nahen Kriegsgefahr zu überzeugen. Die Zahl seiner Gegner war zu groß gewesen.

Die Konferenz, die sich vom frühen Morgen bis zum Spätnachmittag hingezogen hatte, war von dem neuernannten Landesverteidigungsminister einberufen worden. Es war zu erwarten, daß der Minister infolge gewisser Presseangriffe vor dem Parlament in nächster Zeit verschiedene Anfragen, die Landesverteidigung betreffend, zu beantworten haben würde. In der »Australian World« waren eine Reihe von Artikeln erschienen, die in eindringlichster Weise Maßnahmen der Regierung zum Schutze des Landes verlangten.

Unter anderem war darin gesagt, der Ausbruch der Feindseligkeiten an der russisch-mandschurischen Grenze würde keineswegs eine Entspannung der Lage für den übrigen Osten bedeuten, ein Krieg in Ostsibirien würde – einerlei, wie er auch ausginge – auf jeden Fall die militärischen Kräfte Rußlands derart fesseln, daß es bei etwaigen anderen Konflikten zu vollständiger Untätigkeit verurteilt wäre. Nur aus diesem Grunde unterstütze Japan die Aufstandsbewegung in Sibirien. Die Ausführungen des Artikelschreibers über die Möglichkeiten, bei einem englisch-japanischen Konflikt Australien und in erster Linie die großen Handelsstädte an den Küsten vor einer Invasion zu schützen, waren sehr pessimistisch gehalten. Auch die übrige Presse hatte sich, angeregt durch die Artikel, immer nervöser mit diesen Problemen beschäftigt.

Erfolglos hatte Dale, unterstützt von einigen wenigen anderen Militärs, darunter Scott und Trenchham, in der Konferenz den Standpunkt des Artikelschreibers der »Australian World« – er war es in Wirklichkeit selbst – aufs energischste vertreten. Die Mehrzahl der Anwesenden wollte nichts von einer drohenden Kriegsgefahr wissen. –

Während Dale die Straße hinunterging, sah er auf der anderen Seite Clennan winken, der eben in das Café Edinburgh eintreten wollte. Er überschritt den Fahrdamm und begrüßte ihn. Dessen Aufforderung, mit in das Café zu kommen, lehnte er ab. »Mir raucht der Kopf schon zur Genüge, Clennan.«

In kurzen Worten erzählte er dem von den Vorgängen in der Konferenz und seiner Niederlage gegenüber den unbelehrbaren, schwerfälligen Bürokratenseelen, die immer nur die Meinung von Downing Street verträten. Im Foreign Office könne man sich nun einmal nicht von den Scheuklappen frei machen, hinter denen man seit geraumer Zeit das Weltgeschehen betrachte.

»Ich werde mir Urlaub nehmen und mich bei Georg Astenryk für einen der nächsten Tage zum Besuch anmelden.« Er verabschiedete sich von Clennan und ging weiter.

Im Café lenkte Clennan zunächst wie üblich seine Schritte zu einer Tischreihe direkt hinter der großen Fensterscheibe. Doch mitten auf dem Weg dorthin schien er sich eines anderen zu besinnen. Er wandte sich zur Seite und nahm an einem Tisch im Hintergrund des Lokals Platz. Es kam ihm noch kurz zum Bewußtsein, daß die Blicke des Kellners, der gewöhnt war, ihn an einem der Fensterplätze zu bedienen, verwundert fragend auf ihm ruhten. Dann war es, als lege sich ein dunkler Schleier über sein Hirn.

Er fühlte sich zwar noch Herr aller seiner Sinne, indem er genau wußte, was er tat und dachte. Aber jede seiner Handlungen, jeder seiner Gedankengänge schienen ihm fremd, ungewollt. Er fühlte sich nach Puls und Herz, dachte an einen Fieberanfall, der ihn plötzlich überkommen hätte. Da sah er einen Herrn, der bisher am Nebentisch, den Rücken ihm zugekehrt, gesessen hatte, aufstehen und zu ihm kommen. Er nahm die Hand, die der Fremde ihm entgegenstreckte und sagte mit freundlichem Lächeln:

»Guten Tag, Mr. Turi. Ich freue mich, Sie begrüßen zu können.«

Turi Chan nahm wie ein alter Bekannter an Clennans Tisch Platz und verwickelte ihn in eine lebhafte Unterhaltung. Der Kellner sah öfter verwundert zu dem Tisch der beiden hinüber, wo ab und zu lautes, vergnügtes Lachen erklang. Ein paar gute alte Freunde, die sich da wiedergefunden haben, dachte er im stillen.

Nach einer halben Stunde erhoben sich beide und zahlten. Ehe sie das Lokal verließen, gingen sie zusammen zu einer der Telephonzellen und verweilten dort kurze Zeit. –

»Georg, komme bitte herauf! Clennan ruft von Canberra aus an.«

»Ich komme sofort, Marian.«

Gleich darauf trat Georg in sein Arbeitszimmer, wo ihn Marian, den Hörer in der Hand, erwartete.

»Nun, was hat denn der gute Clennan auf dem Herzen. Will er mich auch besuchen wie Dale, der vorher anrief?«

Marian schüttelte den Kopf und gab Georg den Hörer. Der sprach mit Clennan. Nach einiger Zeit legte er den Hörer zurück und sagte: »Ich soll morgen so bald als möglich nach Canberra kommen und Clennan aufsuchen. Er meinte, er hätte mir allerlei Wichtiges mitzuteilen. Ich habe ihm versprochen, so früh zu fahren, daß ich um halb zwölf bei ihm bin . . . Aber was hast du denn? Du machst ja ein Gesicht, Marian, als käme dir meine Reise nicht zupasse.«

Marian hob den Kopf und schaute Georg unsicher an. »Fiel dir nichts auf, Georg, während du mit Clennan sprachst?«

Der sah verwundert auf. »Nicht daß ich wüßte! Wie kommst du darauf?«

Marian schnitt ein Gesicht und druckste ein paarmal, wie im Zweifel, was er sagen sollte, sagte dann: »Es gefiel mir nicht, wie Clennan am Telephon sprach. Gewiß, es war seine Stimme, aber ihr Klang . . . so eintönig leblos, als spräche eine Puppe.«

Georg lachte laut heraus: »Marian, Marian! Du scheinst mir neuerdings an Einbildungen zu leiden. Clennan sprach durchaus vergnügt und munter. Mir schien es eher, er hätte noch lebhafter als sonst gesprochen.«

»Ich meine nicht die Worte, die er sprach . . . den Ton, in dem er es sagte.«

»Nun laß aber gut sein, alter Junge! Ich werde Clennan zum Spaß von deinen Halluzinationen erzählen.« –

Die Uhr von St. Mary's Cathedral in Canberra schlug das zweite Viertel nach elf, als Georg Astenryk seinen Kraftwagen auf einem Parkplatz am Victoria Square abstellte. Wenige Minuten später betrat er Clennans Wohnung. Daß die Tür schon offen stand, als er klingeln wollte, fiel ihm nicht weiter auf. Der Freund mochte ihn wohl schon vom Fenster aus gesehen haben.

Er ging in das Arbeitszimmer. Erstaunt sah er um sich, Clennan war nicht hier. Er wandte sich um und wollte den Raum verlassen, da war es ihm, als riefe ihn etwas zurück. Gleichzeitig hörte er die Portiere zum Nebenzimmer rauschen. Er wollte sich schnell herumdrehen, fühlte aber plötzlich eine solche Schwere in den Füßen, daß er nur eben den Kopf zu wenden vermochte.

Der Mann da . . . Georgs Augen weiteten sich zu unnatürlicher Größe, wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es ihn beim Anblick der Gestalt, die jetzt aus der Portiere hervortrat und auf ihn zukam. Mit ungeheurer letzter Willensanstrengung raffte er sich zusammen. Mit geballten Fäusten, blitzenden Augen, die Kiefer fest aufeinandergepreßt, verharrte er sekundenlang, alle Nerven aufs stärkste gespannt.

Dann, als striche ein magnetischer Strom über ihn hin, entspannten sich alle Organe, Körper und Geist versanken in lähmende Ruhe. Die Arme schlaff zur Seite, den Kopf gesenkt, stand er völlig apathisch da, hörte mit gleichgültigem Ohr die Worte, die jetzt zu ihm drangen:

»Sie wollten Herrn Clennan besuchen, Herr Astenryk. Ihr Freund ist leider verhindert, Sie hier zu empfangen. Doch sein Aufenthaltsort ist mir bekannt. Ich werde Sie sofort zu ihm bringen. Er wartet mit Sehnsucht auf Sie. Gehen Sie bitte voran. Wir werden zu dem Parkplatz gehen und Ihren Wagen benutzen. In kurzer Zeit werden Sie Freund Clennan wiedersehen.« –

Von Georgs Arm, Turi Chans Willen gelenkt, rollte der Wagen durch das Straßengewühl nach Norden aus der Stadt heraus, bis er vor einem einzeln stehenden Landhaus hielt. Wohl eine Stunde saßen sie dort in einem kahlen, nüchternen Raum des Erdgeschosses. Dann erhob sich Turi Chan mit einer leichten Verneigung:

»So weiß ich denn alles, was Sie dachten und wollten mit Ihrem Verstärker. Ich werde meine weiteren Maßnahmen danach einrichten. Nochmals meinen besten Dank für Ihre wertvollen Mitteilungen, Herr Astenryk.«

Der gewollt ironische Ton, in dem Turi Chan dies sprach, gelang nur unvollkommen. Ein anderer hätte sehr wohl den Unterton starker Bewunderung und Anerkennung hindurchklingen hören.

»Bitte, folgen Sie mir jetzt! Ich werde Sie zu Ihrem Freunde Clennan bringen.« Er führte Georg in den Keller hinunter, schloß eine Tür auf und stieß ihn hinein. Der stand einen Augenblick verwirrt, wie betäubt, da klang es an sein Ohr:

»Sie sind's, Herr Astenryk?! Also doch!«

Die Stimme, die Georg entgegenschlug, schien aus dunkler Tiefe zu kommen.

»Clennan?« kam es fragend aus seinem Munde.

»Gewiß, ich bin's. Doch halt! Bewegen Sie sich nicht weiter. Ich bin gleich bei Ihnen. Vor Ihnen liegen mehrere Stufen.

So! Jetzt bitte!« Damit griff Clennan Georg beim Arm und führte ihn wohl ein halbes Dutzend Stufen hinunter. »So, da wären wir.«

Er fühlte, wie Georgs Hände seinen Arm wie mit eisernen Klammern umspannten. »Ist's denkbar, Clennan, daß wir beide Opfer, Sklaven dieses Turi Chan geworden sind?« kam es heiser vor Wut und Haß aus Georgs Munde.

»Lassen Sie, Herr Astenryk! Sprechen Sie noch nicht! Vermutlich hat Sie das Ungeheuer eben erst aus seinem Bann entlassen. Kommen Sie hierher, setzen Sie sich an den Tisch. Allmählich werden Sie sich an die Dunkelheit gewöhnen. Das kleine Luftloch da oben läßt soviel Licht herein, um bei Tage das Notwendigste zu erkennen. Hier, greifen Sie das Glas. Es ist ein ganz anständiger Wein. Genügend Vorrat ist da. Zu Ihrer linken Hand steht auch ein Kasten Tabak. Rauchen können wir also.«

Lange Zeit saßen sie sich schweigend gegenüber. Clennan hatte das Gefühl, er müsse Georg erst Zeit gönnen, das seelische Gleichgewicht wiederzufinden. Mahnte ihn nur öfter, von dem Wein zu trinken.

Mit einem Male fuhr dessen Faust donnernd auf den Tisch herunter, daß Flasche und Gläser tanzten. Ein Gelächter brach aus Georgs Kehle, so voll gräßlichen Spotts und Hohns, daß Clennan sich entsetzt zu ihm hinüberbeugte, ihm die Hand um die Schulter legte.

»Lassen Sie, Clennan! Keine Angst, daß ich verrückt geworden bin. Ist doch alles tatsächlich zum Lachen! Wir . . . noch vor wenigen Stunden im Hochgefühl unserer allem überlegenen Macht . . . lassen uns von diesem Verbrecher wie dumme Lämmer am Gängelbande führen.«

»Ruhe, Ruhe, lieber Freund! Noch ist nicht aller Tage Abend. Ebenso wie meine Annahme, Sie heute hier begrüßen zu können, eingetroffen ist, werden sich wohl auch meine anderen Vermutungen als richtig erweisen.«

»Und die wären, Herr Clennan?«

»Lassen Sie jetzt . . . davon später! Zunächst einmal möchte ich wissen, was Ihnen passiert ist.«

Eine Weile hörte Clennan nur das stoßweise, heftige Atmen Georgs.

»Nun, ich kann es mir ungefähr denken«, sagte er mitleidig. »Sie sind auf meinen telephonischen Anruf prompt in meine Wohnung gekommen. Dort hat Sie der Halunke, wie Marian sich so schön ausdrückt, ›gefaßt‹. Hat Sie mit sich genommen hier in dieses Haus und Ihnen unter dem Zwang seines Willens alle Ihre Geheimnisse entrissen. Dann hat er sie zu mir in den Keller gebracht, wo wir vorläufig seine Gefangenen sind . . .«

Georg fuhr auf. »Sie sagen vorläufig? . . . Haben Sie irgendeinen Plan, eine Idee? . . . Mir ist der Kopf noch so schwer, daß ich kaum einen klaren Gedanken fassen kann.«

»Das gerade nicht, Herr Astenryk. Ich habe bisher nur versucht zu kombinieren, was jetzt weiter geschehen wird. Ich zweifle nicht, daß es Turi Chan in erster Linie auf Ihren Verstärker abgesehen hat. Über den haben wir ihm ja beide in unserer geistigen Ohnmacht alles Wissenswerte erzählt. Ich nehme als sicher an, daß er ihn mit seiner teuflischen Kunst bekommen wird . . .«

Georg stöhnte laut auf. »Um Gottes willen, Clennan! Wirklich? So wäre alles vergeblich gewesen? So würde alle unsere Hoffnung zunichte werden? Ich kann, will es nicht glauben, daß der gelbe Schuft Herr über all das wird, was wir in mühevoller Arbeit ersannen, erschufen.«

»Ganz so meine ich es ja auch nicht. Ohne Zweifel wird es Turi Chan zwar gelingen, sich in den Besitz Ihres Verstärkers zu bringen. Aber damit hat er noch lange nicht gewonnen. Bedenken Sie, wie unendlich schwierig es selbst für einen Fachmann sein würde, diesen komplizierten Apparat in Tätigkeit zu setzen. Da können Sie wohl sicher sein, daß Sie oder ich – oder wir beide – von Turi Chan herangeholt werden, um die Konstruktion und Inbetriebsetzung des Apparates zu erklären . . .«

»Lieber sterben!« Georg sprang auf und lief wie wahnsinnig durch den engen Raum.

»Ja, ja, Herr Astenryk«, sagte Clennan mit gemachter Ironie, »wenn das so ginge, das Sterben! Selbst das können Sie ja nicht, wenn ›Er‹ es nicht will.«

»So will ich's lieber gleich . . .!«

»Unsinn, Herr Astenryk! So schnell dürfen wir nicht den Mut verlieren. Was ich sagte, sind doch alles nur Annahmen. Aber wie dem auch sei, gerade aus dieser letzten Kombination schöpfe ich eine gewisse Hoffnung. Nehmen wir einmal an, er holte sie, um sich von Ihnen den Verstärker in Betrieb setzen zu lassen . . .«

»Hm!« meinte Georg, »Sie denken, das wäre eine Gelegenheit . . .«

»Allerdings, Herr Astenryk.«

»Ja, aber wie? Was? . . . Er wird mich doch zweifellos für diesen Zweck wieder in seinen Bann zwingen. Da bin ich ja völlig kraft- und willenlos.«

»Hm, hm . . . gewiß, Herr Astenryk . . . so muß man ohne weiteres annehmen. Aber . . . es ist doch ein kleiner Unterschied dabei.

Als er uns ›faßte‹, waren wir gänzlich unvorbereitet. Wenn Sie jetzt wieder mit ihm zusammenkommen, werden Sie das nicht sein . . . und da meine ich, wir als Fachleute sollten bei einigem Nachdenken doch Mittel und Wege finden können, um uns seinem höllischen Zauber zu entziehen.«

»Gut, gut, Clennan! Ich schöpfe neue Hoffnung . . . und damit ist schon einiges gewonnen. Die Wellen aus Turi Chans Hirn sind nichts anderes als die aus meinem Verstärker . . . und wie die in ihrer früheren geringen Intensität von allem Metallischen verschlungen wurden, das wissen wir. Die Energie, mit der das menschliche Hirn Wellen aussendet, kann nur den Bruchteil eines Watt betragen. Mag Turi Chan die Energie seiner Gedankenstrahlung mit seinem Teufelspulver selbst bis zu einem Watt steigern, so muß sie doch an der schwächsten metallischen Abschirmung scheitern.

Zunächst mal trinke ich Ihnen auf Ihren guten Gedanken zu. Und jetzt den Kopf angestrengt, was wir tun können!«

Clennan durchkramte seine Taschen. Schlüsselbund, Messer, Uhr waren alles, was er an Metallischem bei sich führte. »Ihr Metallvorrat wird nicht viel anders sein, Herr Astenryk. Oder sollten Sie etwa zufälligerweise eine Imkermaske bei sich führen?« fragte er in einem Anflug von Galgenhumor.

Georg dachte angestrengt nach. Sein Auge hing an dem Sonnenstrahl, der durch das Luftloch in den Keller fiel . . . Plötzlich sprang er auf.

»Ha, ich greife dich! Ein Strahl vom Himmel, Clennan! Im wahrsten Sinne des Wortes . . .«

Er griff mit der einen Hand in den Lichtbalken, deutete mit der anderen nach dem Mauerloch.

»Sehen Sie das feinmaschige Drahtgewebe in dem Loch da oben?«

Clennan schaute in die Höhe. »Bei Gott, Sie haben recht, Herr Astenryk. Das könnte uns helfen.«

Er schob den Tisch an die Außenmauer und stieg hinauf. Ein paar Griffe, dann hielt er das Gewünschte in den Fingern. Es war ein schmaler Holzrahmen, mit Drahtgaze überspannt, wie man ihn wohl zum Schutz gegen Ungeziefer vor Kelleröffnungen setzt. Er maß ungefähr acht Zoll im Quadrat.

»Ausgezeichnet!« sagte Georg und wog ihn in der Hand. »Da läßt sich allerlei draus machen. Gehen wir gleich an die Arbeit!«

*

Oberst Baranow, der Kommandeur des Vierten sibirischen Reiterregiments in Wasiliewa, kam mit seinem Adjutanten die Straße von den Bergen her zur Stadt geritten.

»Wir haben jedenfalls getan, was wir tun konnten, Ushdan. Wäre dieses Vieh von einem Kommissar nicht gekommen, würde man vielleicht einen anderen, bequemeren Weg gefunden haben, Borodajews Freundin frei zu machen. Wie die Sachen jetzt liegen, konnten wir nicht mehr riskieren, ohne sehr viel . . . vielleicht sogar alles aufs Spiel zu setzen.«

»Unbedingt, Herr Oberst. Wenn wir – und hoffentlich recht bald – vor Borodajew treten, können wir mit gutem Gewissen sagen, daß von unserer Seite alles getan wurde, um Helene Forbin zu helfen.«

»Verflucht, Ushdan! Das klingt sehr pessimistisch. Haben Sie so wenig Hoffnung?«

Der wippte mit seiner Reitgerte durch die Luft.

»Offen gesagt, ja, Her, Oberst. Zunächst einmal hängt doch alles davon ab, daß Sie den Zettel findet.«

»Allerdings, das ist eine verzweifelte Sache und hängt sehr vom Zufall ab. Es ist natürlich ausgeschlossen, daß die Gefangene das ganze Stück Brot verzehrt. Sie braucht nur die Hälfte liegenzulassen, dann steht das Verhältnis eins zu eins, daß sie den Zettel nicht findet.«

»Das andere, Herr Oberst, ist nach meiner Meinung mindestens ebenso vom Zufall abhängig.«

»Das sagen Sie nicht, Ushdan! Ich weiß wohl etwas besser über diese außergewöhnliche Frau Bescheid. Sie können sicherlich nicht bestreiten, daß sie hervorragenden Mut besitzt. Klug und verschlagen ist sie mehr als tausend andere. Wüßte ich, daß sie den Zettel gefunden hat, wäre ich nur halb so besorgt.«

Der Adjutant widersprach nicht weiter. Er wußte, daß dem Oberst die Sache mit Borodajews Freundin sehr zu Herzen ging.

War doch Baranow dem General Borodajew in besonderer Freundschaft und Bewunderung zugetan. Unter den vielen anderen Gleichgesinnten erwartete er mit stärkster Ungeduld den Tag, da Borodajew losschlagen, er zu ihm übergehen würde.

Ushdan deutete leicht mit der Hand nach einem Manne, der auf einem Seitenweg der Straße zugeschritten kam.

»Vielleicht merken sich Herr Oberst dieses Gesicht. Ich habe gewisse Nachrichten, daß es einer von Schtschetinins Agenten ist.«

»Danke, Ushdan! Werde mir den Kerl merken! Übrigens . . . es ist nicht der einzige. Ich bin ja auch nicht umsonst heute mit Ihnen in die Berge geritten. Wollte mir auf diese Weise das Pack, das mich im Auftrage des Kommissars dauernd beobachtet, eine Weile vom Halse schaffen. Heute abend muß ich jedenfalls besonders vorsichtig sein, um nicht verdächtigt zu werden, wenn etwas im Gefängnis passieren sollte.

Wenn wir jetzt nach Wasiliewa kommen, bringen wir unsere Pferde zur Kaserne und gehen dann geradeswegs in das Kasino. Hoffentlich findet sich ein kleines Spielchen zusammen, daß wir recht lange dort bleiben können.«

»Das wird vielleicht auch in anderer Hinsicht gut sein«, meinte der Adjutant. »Möglicherweise ereignen sich heute nacht auch noch andere Dinge. Ich kann mir nicht recht denken, daß General Borodajew seine schöne Freundin erschießen läßt, ohne einen Finger zu rühren.«

Baranow machte ein zweifelndes Gesicht. »Ich glaube, Sie verkennen Borodajew. Er ist ein unbedingter Pflichtmensch. Glauben Sie ja nicht, daß er etwa sein Unternehmen irgendwie schädigen oder gar aufs Spiel setzen würde um einer schönen Frau willen . . . und mag er sie noch so gern haben.«

Der Oberst schlug den Weg ein, der nach Süden um die Stadt bog. Während sie auf der Esplanade am Fluß entlang zur Stadt ritten, deutete Baranow zu den Baulichkeiten der Fliegerkaserne zur Linken.

»Dort drüben steckt sie, die schöne Frau Helene. Wie ihr wohl zumute sein mag?«

»Nun, das richtet sich wohl ganz danach, ob sie unsere Sendung entdeckt hat. Nach Ihrer Meinung, Herr Oberst, müßte sie sich dann ja für die Nacht schon einen Plan zur Befreiung gemacht haben.«

*

Was soll ich tun? . . . Stets dieselbe Frage, die sich Helene schon stundenlang immer wieder vorlegte. In der Unrast ihrer Gedanken war es ihr trotz aller Willensanstrengung nicht möglich, die äußere Ruhe zu bewahren. Bald legte sie sich auf die Pritsche in der Zelle, bald durchmaß sie mit ungeduldigen Schritten den engen Raum.

Sie hatte Freunde hier. Ein kleiner Trost! Und die hatten wohl getan, was sie konnten, als sie ihr die sonderbare Waffe in der Matratze versteckten. Daß diese Leute es nicht wagen konnten, ihr den Zettel mit dem Hinweis auf die Waffe in besserer Weise zukommen zu lassen, zeigte, wie vorsichtig die wohl sein mußten.

Sie hatte nur ein kleines Stückchen von dem Brot gegessen. Eine ganze Weile später hatte sie zum Zeitvertreib begonnen, aus der weichen Krume des Restes Figürchen zu formen, so wie sie es einst als Kind im Spiel getan. Da hatte sie plötzlich aus dem Brotstück etwas Weißes hervorlugen sehen. Neugierig zerbröckelte sie das Brot vorsichtig weiter. Dann hielt sie einen Zettel in der Hand. Man hatte das Brot von der Seite ein Stück eingeschnitten, den Zettel in den Schnitt geschoben und den wieder irgendwie verklebt.

Auf dem Zettel stand in französischer Sprache geschrieben: »Im Bettsack. Zettel verschlucken!«

Oh, dieses freudige, wohlige Gefühl: Freunde sind hier, die sich um dich sorgen! Im Nu hatte sie den Zettel in den Mund gesteckt, zerkaut verschluckt. Dann legte sie sich, wie um zu ruhen, auf die Pritsche, und betastete den Bettsack nach allen Seiten. Sie wagte es nicht, das offen zu tun, weil sie befürchtete, man könne sie von draußen durch den Türschieber beobachten.

Da an der rechten Seite spürte ihre Hand etwas Hartes, Festes. Ohne sich zu erheben, befühlte sie die Stelle genauer. Hier war die Naht der Matratze nur flüchtig vernäht. Sie bohrte mit einem Finger in der Naht, riß die Fäden auf. Griff dann mit der ganzen Hand hinein, zog das Versteckte vorsichtig heraus.

Es war ein verschnürtes Säckchen. Behutsam löste sie die Fäden, tastete in dem Inhalt herum. Was waren das für Dinge? Jetzt fühlte sie ein Stückchen Papier. Sie nahm es an sich und stand auf. Ging ein paarmal auf und ab, setzte sich dann so, daß sie der Tür den Rücken zukehrte, und las beim Schein der kleinen Lampe auf dem Tisch das sonderbare Schreiben:

»Der flache Glaskörper enthält ein betäubendes Gas, das kleine Fläschchen ein Gegenmittel. Wenn Sie das größeres Glas mit der Hand zerbrechen oder, besser, mit dem Fuß zertreten, entwickelt sich ein geruchloses Gas, das sofort betäubt. Wenn Sie den Inhalt des anderen Fläschchens in Ihr Taschentuch schütten und dieses sofort vor die Nase halten, wird Ihnen das Gas nichts anhaben können. Ob und wie Sie das verwenden können, steht bei Gott und Ihrem Glück.« –

Das Gebäude, in das man Helene gebracht, war ein kleineres Haus in unmittelbarer Nähe der Kaserne der Fliegerkompanie. Da die Flieger auch mit Wasserflugzeugen ausgerüstet waren, lagen die Baulichkeiten und die Startplätze für das Landen und Wassern in dem breiten Grunde, der sich südlich der Stadt zwischen dem Fluß und dem Eisenbahndamm hinzog. Das Haus diente neben Bürozwecken auch zum Unterbringen von Arrestgefangenen. Es war ein langgestrecktes, einstöckiges Gebäude, an dessen Südseite die Zelle lag, in der Helene gefangen war. – Mitternacht war schon vorüber. In Helenes Lage hatte sich nichts geändert, seitdem sie in den Besitz dieser eigenartigen Waffe gekommen war. Mit jedem Uhrenschlag, der von der Fliegerkaserne zu ihr drang, wuchs ihre Unruhe.

Was tun? Wieviel hundertmal hatte sie die beiden Worte gedacht! Wohin auch ihre Gedanken gingen, immer wieder kehrten sie zu dem einen Plan zurück, der allein bei einigem Glück auszuführen war.

Seit sie hier in dieser Zelle war, kam ungefähr jede Stunde der Gefängniswärter, ein Unteroffizier der Fliegertruppe, herein, und untersuchte den Raum. Die übertrieben scharfe Überwachung machte Helene nervös. An sich war ja die Durchsuchung ziemlich überflüssig. Die Möglichkeit, daß die Gefangene mit ihren schwachen Kräften in der verhältnismäßig kurzen Zeit ihrer Gefangenschaft eine Wand oder den Fußboden durchbrechen konnte, war doch ausgeschlossen.

Der Plan, auf den Helene immer wieder zurückkommen mußte, war der, während einer solchen Revision die Gasampulle zu öffnen und, während der Wärter betäubt am Boden lag, sich der Schlüssel zu bemächtigen. Dann müßte sie die Kleidungsstücke des Betäubten anziehen und versuchen, mit Hilfe der Schlüssel aus dem Gebäude zu entkommen. Der an sich wohl ausführbare Plan wurde aber einfach dadurch unmöglich gemacht, daß ein Wachtposten, solange der Wärter in der Zelle war, sich draußen vor der Tür aufhielt, meistens auch neugierig durch den Türschieber hindurch in die Zelle sah. –

Eine halbe Stunde seit der letzten Durchsuchung der Zelle war wohl vergangen. Helenes Unruhe steigerte sich ins Unerträgliche. Sollte sie es doch wagen, wenn der Wärter das nächste Mal kam, das Gas spielen zu lassen? Sie sah ein, daß ihre Nerven versagen mußten, wenn sie noch länger wartete. Und dann war alles verloren.

Da hörte sie draußen den Tritt zweier Männer. Vor ihrer Zelle blieben sie stehen. Die Tür wurde aufgeschlossen und herein kam der Kommissar Schtschetinin.

Bei seinem Eintritt setzte sich Helene an den Tisch. Wer es war, wußte sie nicht genau, da sie in Unkenntnis der russischen Sprache während ihrer Gefangenschaft mit niemand hatte sprechen können. Sie hatte ihn nur während der Verhandlung im Hintergrunde des Richtertisches sitzen sehen und sich wohl gedacht, was seine Anwesenheit zu bedeuten hätte.

Nachdem Schtschetinin die Zelle verschlossen hatte, trat er an die andere Seite des Tisches und setzte sich, indem er sich in überaus höflicher Form als Kommissar Schtschetinin vorstellte.

Er sprach ein recht gutes Französisch. Nach der langen Zeit des Schweigens war es zunächst für Helene ein Genuß, Worte von einem Menschen zu hören, die sie verstand.

Mit geschärften Sinnen lauschte sie dem, was er sagte. Dachte dabei: Zu welchem Zweck kommt er? Ist das als günstiges Zeichen zu betrachten? Vielleicht doch eine Begnadigung? Sie vermochte in den Schwall von Worten, die zwischen schneidender Härte und phrasenhafter Liebenswürdigkeit wechselten, keinen Sinn zu bringen.

Als gute Menschenkennerin prüfte sie immer wieder die Züge des Mannes. Die Augen besonders waren ihr rätselhaft. Erst allmählich begriff sie, daß ihr gleichbleibender freundlicher Ausdruck zu der Maske gehörte, die er über sein Gesicht gelegt hatte. Bisher hatte das Gespräch sich hauptsächlich auf die Freiwilligenarmee in der Mandschurei bezogen. Zwischendurch versuchte der Kommissar, durch geschickte versteckte Fragen allerlei aus Helene herauszulocken. Darunter vieles, was ihre eigene Person betraf. Aber wenn er gehofft hatte, auf diese Weise Interessantes und Wichtiges zu erfahren, so sah er sich enttäuscht.

Helenes Gewandtheit und Menschenkenntnis ließ sie keinen Augenblick im Stich. Ohne jemals in Verlegenheit zu kommen, bestand sie das gefährliche Verhör, indem sie Schtschetinin, soweit es möglich war, durch falsche Antworten täuschte oder Unkenntnis vorschützte.

Doch immer wieder fragte sie sich: Ist das alles wirklich der alleinige Zweck, weshalb er jetzt mitten in der Nacht hierherkommt?

Ein paarmal, wenn sie den Kopf zur Seite gewandt und er sich unbeobachtet glaubte, war es ihr gewesen, als ginge ein begehrliches Funkeln über die Augen des Mannes. Hatte sie recht gesehen . . . dann . . .

Sie beschloß, eine Probe zu machen. Fiel die so aus, wie sie dachte, würde sich einer der vielen Pläne, die seit dem Eintritt des Kommissars ihr Hirn kreuzten, vielleicht ausführen lassen. Sie strich sich ein paarmal wie erschöpft über die Stirn, stellte sich, als ob es ihr zu warm würde in der eng geschlossenen Fliegerbluse, die sie immer noch trug. Sie griff zu dem Halsverschluß, nestelte daran, ihn zu öffnen, wobei sich jedoch anscheinend versehentlich auch einige weitere Knöpfe der Bluse lösten. Ein schneller Seitenblick zeigte ihr, daß ihr Auge vorher richtig gesehen hatte. Beim Anblick des schlanken, weißen Halses und des schönen Ansatzes war der gleichmütig ruhige Ausdruck aus den Zügen des Kommissars verschwunden. Mit unverhüllter Begierde blitzten seine Augen zu Helene hinüber.

Der wurde sofort ein gutes Stück leichter ums Herz. Das Spiel mit Männern war Helene Forbin nicht ungeläufig. Wenn es ihr im weiteren Verlauf gelingen würde, den Posten vor der Tür zu entfernen, dann glaubte sie gewonnen zu haben. Sie fühlte noch einmal vorsichtig nach den Gläsern, die sie in ihrem Kleid verborgen hatte . . . legte dann die Hände wie zerstreut auf den Tisch, bewegte wie in müßigem Spiel die Ringe an ihren Fingern.

»Ah, sieh da, meine Gnädige! Welch schöner, alter Ring an Ihrer schönen Hand! Ein Familienstück oder . . .«

Während Schtschetinin sich vorbeugte, um den Ring besser zu betrachten, ergriff er Helenes Hand und ließ seine heißen Finger schmeichlerisch darübergleiten. Sie machte keinen Versuch, ihm ihre Hand zu entziehen und sagte mit leichtem Lächeln: »Das ›oder‹, Herr Kommissar, ist richtig. Der Ring ist von General Borodajew.«

Der harte Druck, den Helene in demselben Augenblick empfand, zeigte ihr, wie der Name ihres Freundes auf den Kommissar wirkte.

»Ah, richtig, meine Gnädige! Hier ist ja auch der Namenszug des Generals eingraviert . . . hm, Sie dürfen mir die Frage nicht übelnehmen, wie kommt es, daß Sie, so jung . . . so schön . . .« seine Hand umklammerte immer fester die Helenes . . . »sich gerade diesem immerhin nicht mehr ganz jungen Herrn attachiert haben?«

Helene machte mit der freien Hand eine unsichere Bewegung. »Ich glaube nicht fehlzuraten, wenn ich Ihnen, Herr Kommissar, eine nicht geringe Frauenkenntnis zutraue.« – Mit Vergnügen sah sie an dem selbstgefälligen Zug, der über Schtschetinins Gesicht ging, wie gut diese Schmeichelei angebracht war. ». . . Da dürften Sie doch auch wissen, daß die Herzensregungen einer Frau manchmal schwer begreiflich sind. Nicht immer sind es die körperlichen Vorzüge, die Jugend eines Mannes, die eine Frau fesseln . . .«

»Ah, natürlich, meine Gnädigste! Wie oft haben die schönsten, liebenswertesten Frauen einen unscheinbaren Mann von glänzenden Geistesgaben einem Adonis vorgezogen! Immerhin . . .«

Helene lachte. »Gut gesagt, Herr Kommissar! Sie meinten, es gäbe immerhin auch Männer, die beide Eigenschaften vereinen. Ich gestehe, daß ich in meinem Leben solche Exemplare nur selten gesehen habe.«

»Oh, das wundert mich, gnädige Frau! Ich dächte eine ganze Reihe solcher Männer zu kennen.«

Er hatte dabei den Kopf etwas weiter vorgebeugt und versenkte seine Augen tief in die Helenes.

Du meinst wohl in erster Linie dich selber, dachte Helene halb belustigt, halb angewidert von dem Gesicht Schtschetinins, der jetzt die letzte Maske abgeworfen hatte und sie in unverhüllter Begehrlichkeit mit den Augen verschlang. Halb im Scherz, halb im Ernst schlug sie mit der freien Rechten Schtschetinin kräftig auf die Finger, die von ihrer Hand weiter an ihrem Arm emporglitten. Der Kommissar zog seine Hand zurück, da deutete Helene mit dem Kopf zur Tür.

»Ist es Ihre Gewohnheit, Herr Kommissar, vor Zeugen den Damen Ihrer Bekanntschaft Courtoisie zu erweisen?«

Die Wolke des Unmuts auf dem Gesicht des Kommissars schwand ebenso schnell, wie sie gekommen. Er sprang sofort auf, ging zur Tür und schrie den Posten in nicht mißzuverstehender Weise an, sich fortzuscheren.

Jetzt oder nie! dachte Helene. Leise ließ sie die Glasampulle unter den Tisch fallen und zertrat sie. Fast gleichzeitig hatte sie das andere Fläschchen geöffnet und den Inhalt in ihr Taschentuch geschüttet. Der Kommissar war inzwischen von der Tür zurückgekommen und setzte sich auf seinen alten Platz. Willig überließ ihm Helene ihre eine Hand, während sie sich mit der anderen das Tuch vor den Mund hielt und tat, als ob sie einen Hustenreiz unterdrücken müsse.

Würde es eintreffen, wie die Freunde geschrieben? . . . Sie glaubte die wilden Schläge ihres Herzens zählen zu können. Ihre Erregung war so groß, daß sie es nicht wagte, dem anderen ins Gesicht zu sehen. Da war es ihr, als lockere sich der Griff seiner Hand. Ihre Finger schoben das Tuch höher, daß es auch die Augen deckte . . . nicht sehen, was mit dem da drüben geschah.

Jetzt . . . mit Mühe unterdrückte sie einen Schrei . . . in schwerem Fall stürzte der Kommissar zu Boden. Sie nahm das Tuch an zwei Zipfeln und band es sich fest über Nase und Mund, wandte sich dann zu dem am Boden Liegenden.

Was sie jetzt tat, machte sie rein mechanisch. Das war in früheren Plänen ja alles durchdacht. Das erste war, die Schlüssel an sich zu nehmen. Dann streifte sie ihm die langen Militärstiefel ab und zog sie über ihre Füße. Nicht ohne Mühe bemächtigte sie sich seines Mantels. Sie mußte den schweren Körper ein paarmal hin und her wälzen, um den Mantel zu bekommen. Jetzt noch die Mütze des Kommissars übergestülpt, und sie konnte an den zweiten Teil ihres Planes gehen.

Sie prüfte zunächst das Schlüsselbund, an dem mehrere kleinere und zwei größere Schlüssel hingen. Es war anzunehmen, daß die kleineren Zimmerschlüssel, die größeren Torschlüssel waren. Nach einigem Suchen hatte sie den Schlüssel gefunden, der zu ihrer Zelle paßte. Noch einen letzten Blick auf den Kommissar . . . ah, wie konnte sie das vergessen! Er durfte nicht an dieser Stelle liegenbleiben. Der Posten würde ihn entdecken und Alarm schlagen. Sie griff den wie tot Daliegenden unter den Armen und zog ihn zu der Pritsche. Nicht ohne Mühe gelang es ihr, den Bewußtlosen hinaufzuheben. Sie breitete eine Decke darüber, die ihn völlig verbarg.

Dann ging sie zur Tür zurück, schloß sie festen Griffes auf und trat mit harten Schritten hinaus. Unsicheres Benehmen mußte sie verdächtig machen. Ohne jedes Zögern ging sie geradeswegs den Gang entlang zum Tor des Gebäudes.

Bei der Einlieferung hatte sie gesehen, daß der Haustür gegenüber die Wachtstube lag. Jetzt kam ein gefährlicher Augenblick. Würde einer der Soldaten oder der Wachhabende heraustreten, sie anreden . . . oder würde der Respekt vor dem Kommissar so groß sein, daß man es vermied, ihm unnötig in den Weg zu laufen?

Auf gut Glück steckte sie den größten Schlüssel in das Tor. Gott sei Dank, er paßte! In diesem Augenblick rann es wie ein eisiger Schauer über ihren Rücken, sie hörte, wie die Tür des Wachlokals hinter ihr aufgeklinkt wurde.

»Pascholl!« schrie sie gewaltsam beherrscht über die Schulter zurück . . . hörte erleichtert, wie die Wachstubentür sofort wieder ins Schloß fiel. Sie trat hinaus. Über einen breiten Graben führte eine Brücke zu der hölzernen Palisadenwand, die das Gebäude umgab. Jetzt den anderen größeren Schlüssel! Auch der paßte . . . sie stand im Freien.

Der Himmel war zum Teil von Wolken überzogen, die das Mondlicht nur zeitweise durchließen. Die Richtung, die sie einzuschlagen hatte, war unverkennbar. Das Rauschen des angeschwollenen Ussuri drang deutlich an ihr Ohr. Zur Sicherheit beschloß sie indes, erst ein Stück flußaufwärts nach Süden zu wandern und dann hart am Flußufer zurückzugehen. Sie vertraute darauf, irgendwo am Ufer ein passendes Fahrzeug zu finden, um über den Strom zu setzen. Im äußersten Fall war sie entschlossen, sich auf ihre Schwimmkunst zu verlassen.

Doch je länger sie das Ufer entlangwanderte, desto ungeduldiger wurde sie. Mehrmals kam sie an Fahrzeugen vorbei, die wegen des starken Stromganges hoch an Land gezogen waren, aber ihre Kräfte reichten nicht aus, ein Boot ins Wasser zu bringen. Sie war dabei immer näher an die Startstelle der Fliegerabteilung gekommen. Nur mit größter Vorsicht, indem sie jede Deckung wahrnahm, durfte sie sich vorwärtsbewegen. Es war ja sicher anzunehmen, daß dort, wo die Wasserflugzeuge vertäut waren, Posten standen.

Im Schutze eines langen Bretterschuppens gelangte sie beinahe in unmittelbare Nähe der Flugzeuge und da . . . da lag ein leichter Kahn am Uferrand. Im Schein des Mondlichts konnte sie erkennen, daß auch die Riemen dabei waren. Aber um dorthin zu gelangen, mußte sie offenes Gelände überschreiten.

Wo war der Posten? . . . Sie lauschte angestrengt in die Nacht hinaus. Nichts war zu hören als das eintönige Rauschen des Flusses. Sie warf sich zu Boden, kroch ein Stück weiter bis zu einer roh gezimmerten Hütte, die wohl als Schilderhaus dienen mochte . . . da blieb sie plötzlich regungslos liegen. An die Hütte gelehnt, stand der Posten.

Behutsam schlich sie zurück, bis sie wieder im Schutze des Schuppens war. Fiebernd vor Ungeduld lag sie dort. Wenn es das Unglück wollte, konnte der Posten noch bis zur Ablösung da stehenbleiben. Sie erhob sich vorsichtig, griff einen kleinen Stein und warf ihn, soweit sie konnte, schräg landeinwärts. Wie sie erwartete, schreckte das Niederfallen des Steines den Soldaten auf. Er ging sofort beschleunigten Schrittes in der Richtung davon, aus der das Geräusch gekommen war.

Jetzt galt's. Mit ein paar hastigen Sprüngen überquerte Helene den Raum bis zum Fluß. Im Nu hatte sie den Strick gelöst und sprang in den Kahn. Kaum hatte sie die Ruder ergriffen und war vom Ufer abgestoßen, als der Posten zurückkam.

Mit aller Kraft legte sie sich in die Riemen, bestrebt, so schnell wie möglich vom Ufer wegzukommen. Doch alsbald merkte sie, daß es bei der starken Strömung unmöglich war, den Fluß in gerader Richtung zu überqueren. Sie wurde flußabwärts abgetrieben, an dem Posten vorüber.

Sobald er sie zu Gesicht bekam, rief ihr der Soldat ein lautes »Halt!« zu. Wenn er jetzt schoß, konnte er sie unmöglich verfehlen. In der Verzweiflung entsann sie sich des rettenden »Pascholl!« im Gefängnis. Schrie mit aller Kraft »Pascholl!« zum Ufer hinüber. Der Soldat zögerte ein paar Augenblicke, rief ihr dann erneut »Halt!« zu.

Helene hörte kaum hin. Sie hatte ihr Augenmerk auf einen treibenden Baumstamm gerichtet, bemüht, dem auszuweichen.

Da . . . ein Knall. Eine Kugel sauste über ihren Kopf hinweg. Das war zu deutlich, um sich noch länger offen im Boot zu zeigen. Schnell warf sie sich am Boden nieder. Die starke Strömung mußte, auch ohne daß sie ruderte, das Boot von dem Schützen wegführen. Jetzt ein zweiter Schuß. Helene hörte deutlich das Splittern des Holzes. Die Kugel hatte den Kahn getroffen. Hoffentlich nicht unter der Wasserlinie! dachte sie erschreckt . . . fühlte aber gleich darauf das Wasser in den Kahn dringen.

Noch ein paar solcher Treffer, und ich bin verloren . . . da kam unvermutete Hilfe. Eine dunkle Wolkenwand schob sich vor den Mond. Im Augenblick war alles um sie herum in tiefes Dunkel gehüllt. Schnell setzte sie sich wieder auf die Bank und begann aus Leibeskräften zu rudern.

Plötzlich war das Ufer in helles Licht getaucht. Durch die Schüsse des Postens waren die Wachmannschaften alarmiert worden. Im Schein der Magnesiumfackeln konnte Helene deutlich sehen, wie der Posten einem Offizier die Richtung wies, in der sie geflohen war, während andere ein Motorboot klarmachten.

»Jetzt fehlt nur noch, daß sie einen Scheinwerfer haben, dann fangen sie mich doch noch.«

Da blitzte es schon am Bug des Motorbootes auf, ein breiter Lichtkegel huschte über die Wasserfläche. In der Hoffnung, daß das Motorboot seine Richtung nach dem anderen Ufer nehmen würde, ruderte sie mit der Strömung flußabwärts. Doch die Leute in dem Boot mochten sich wohl auch sagen, daß der leichte Kahn nur flußabwärts gesucht werden könne. Nicht lange, dann drehte das Boot nach Norden, sein Scheinwerfer leuchtete die Wasserfläche von Ufer zu Ufer ab. Bei der Schnelligkeit des verfolgenden Bootes dauerte es nicht lange, dann hatte der Lichtkegel sie erfaßt. Fast im selben Augenblick begann ein Maschinengewehr zu arbeiten.

Doch Helene gab sich noch nicht verloren. »Vielleicht kann ich sie täuschen.« Schnell warf sie die hindernden Kleidungsstücke ab und ließ sich ins Wasser gleiten . . . suchte mit kräftigen Stößen möglichst schnell vom Kahn wegzukommen, der jetzt von einen Kugelregen überschüttet wurde. Dabei kam das Motorboot in schneller Fahrt immer näher . . .

War's das eisige Wasser, war's die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, Helene fühlte, wie ihre Kräfte schwanden . . . da plötzlich der dumpfe Knall eines Geschützes schräg links von ihr, das Bersten einer Granate weit hinter ihr. Gleich darauf ein zweiter, ein dritter Schuß. Sie raffte sich zu letzter, verzweifelter Kraftanstrengung auf. Freunde! . . .

Schon bei der ersten Granate hatten die Verfolger im Motorboot den Scheinwerfer ausgeschaltet und einen Haken geschlagen. Doch mochten wohl die Positionslaternen dem unbekannten Angreifer genügendes Ziel bieten, die dritte Granate faßte das Motorboot mitschiffs. Eine hohe Feuergarbe schoß zum Himmel, das Krachen des explodierenden Benzintanks folgte . . .

In dem Licht, das ein paar auf dem Strom treibende brennende Trümmer warfen, erkannte Helene eine dunkle Masse, die sich aus der Richtung der Schüsse her langsam über das Wasser schob. Mit letzter Kraft warf sie sekundenlang ihren Körper hoch, daß sie den Fluß besser überschauen konnte.

Gerettet! jubelte es in ihr auf. Das massige, ungefüge Fahrzeug vor ihr war einer der Amphibientanks Borodajews. Ein Tank, der sich zu Wasser und zu Lande gleich gut vorwärtsbewegen konnte.

Mit erlöschender Stimme rief sie immer wieder: »Borodajew!« . . . Dann verließ sie das Bewußtsein. –

Als sie wieder erwachte, fand sie sich, auf einem Lager gebettet, in einer Mongolenhütte allein. Sie wollte sich erheben, doch die Glieder versagten den Dienst. Nur daß sie den Mund zu öffnen vermochte, um einen Ruf auszustoßen. Da sprang eine Mongolenfrau, die hinter dem Lager gekauert, auf, eilte zur Tür. Ein paar Sekunden später stürmte Borodajew herein, stürzte zu ihrem Lager, schlang die Arme um sie.

*

Jan Valverde hatte sein Mittagsschläfchen beendet und stieg aufs Pferd, um in die Felder zu reiten. Als er die Brücke des Baches passierte, sah er Marian mit einem fremden Herrn vom Park her kommen und zum Wohnhaus gehen. Er hielt sein Pferd an, um genauer zu sehen, wer das wohl wäre, da waren die beiden schon in der Haustür verschwunden. Wird irgendein Geschäftsmann aus Georgetown sein, dachte er, und ließ sein Pferd antraben.

Marian war inzwischen mit dem Fremden die Treppe zum Laboratorium hinaufgestiegen. Hätte Jan sein Gesicht gesehen, er wäre entsetzt gewesen. In den Augen ein trüber, glasiger Schimmer, der Mund krampfhaft zusammengepreßt, totenbleich. Das ganze Gesicht nur ein Zerrbild seiner selbst.

Vor der Tür zum Laboratorium blieb er einen Augenblick stehen. Ein Zittern ging durch seine Gestalt, wie wenn er noch einmal letzten Widerstand versuchen wollte. Seine Hände gingen vorwärts, er trat auf den Fremden zu, als wolle er ihn erwürgen. Da traf ihn dessen Blick wie ein schwerer Schlag. Er taumelte zurück, noch im Sturz ein kurzer Blick des Triumphs aus seinen Augen. Sein Arm hatte, halb gewollt, halb zufällig, den verborgenen Schutzschalter am Pfosten der Tür getroffen . . . Mechanisch ging seine Hand zum Türgriff. Mit gesenktem Kopf schritt er vor Turi Chan über die Schwelle des Heiligtums seines Herrn. Turi Chan ließ hinter ihnen die Tür ins Schloß fallen. Er wollte sie abschließen, doch fehlte der Schlüssel. Dann wandte er sich um, wollte auf Marian zugehen, blieb plötzlich stehen, schaute den verwundert an.

Was war in dem Augenblick, in welchem er dem den Rücken zugekehrt, geschehen? Mit ein paar Schritten war er bei ihm, richtete die Augen auf ihn, wollte . . . Da . . .

»Haha, haha, Mr. Turi! So habe ich Sie doch noch unschädlich gemacht!«

Turi Chan trat verdutzt zurück. Was sprach der da? Der lachte ihn aus? Wie war es möglich, daß der seiner Macht widerstand? Er drehte sich um zur Tür. Doch da war niemand.

»Was soll das heißen, du Schuft? Was hast du gemacht?« schrie er Marian an. »Wie kannst du es wagen, dich mir zu widersetzen?«

Er hob die Hand gegen Marian, da griff der zu einem Eisenrohr, schwang es drohend über Turi Chans Kopf.

»Zurück, du! Sonst zerschmettere ich dir den Schädel.«

Mit wutverzerrtem Gesicht, schwer atmend, wich Turi Chan zurück. »Was ist? Was soll das? Was hast du . . .«

Da war es ihm wie damals auf dem »James Cook«. Ein sonderbares, lähmendes Gefühl ging über ihn hin. Seine Hand tastete nach einem Stuhl. Er griff ihn, setzte sich darauf. Doch auch der andere hatte dasselbe getan, saß jetzt ihm gegenüber.

»Ja, ja, Mr. Turi«, lachte Marian. »Sie können hier nicht fort . . . ich allerdings auch nicht. Wir sind beide gefangen. Sie kamen hierher, um den Verstärker da drüben zu stehlen. Aber so leicht läßt sich der nicht stehlen. Er verteidigt sich selbst. Sie bekommen jetzt eine Probe von dem, was er kann. Als wir hier hereinkamen, gelang es mir trotz Ihrer teuflischen Gewalt doch noch, den Schalter am Türrahmen, der den Apparat betätigt, anzustoßen.

Blicken Sie doch über sich. Da sehen Sie die Antenne, in deren Bann wir sind. Dort drüben läuft eine Wachsplatte. Als wir hereinkamen befahl uns diese Platte, das Zimmer nicht zu verlassen. Wenn wir jetzt hier sitzen, so tun wir das nach den weiteren Befehlen der Platte . . . und so werden wir sitzen, bis man kommt und uns befreit. Das Wie und Wann kann ich Ihnen allerdings nicht sagen. Aber wir haben ja viel Zeit.«

Hätten Blicke brennen können, Marian wäre im nächsten Augenblick zu Asche geworden.

»Sparen Sie sich alle Anstrengungen, Mr. Turi«, Marian deutete zu dem Apparat, »diese Kraft ist stärker als Ihre Teufelskunst.«

Turi Chan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloß die Augen. Nur an der schweratmenden Brust konnte man sehen, wie es in ihm tobte, stürmte. –

Wohl eine Stunde hatten sie so gesessen.

»Es wird ein bißchen langweilig, Mr. Turi«, sagte Marian mit spöttischem Lachen. »Plaudern wir doch etwas zum Zeitvertreib. Fangen Sie bitte an! Ich glaube wir werden noch einige Zeit hier sitzen müssen. Sie haben sicherlich viel Stoff zum Erzählen. Was Sie alles auf dem Kerbholz haben, dürfte doch Bände füllen.«

Turi Chan verharrte stumm in seiner Stellung und warf nur ab und zu einen schrägen Blick unter den Augenlidern hindurch auf Marian. Da sah er jetzt, wie der erwartungsvoll den Kopf hob, nach irgend etwas zu lauschen schien.

Nicht lange, dann klangen Schritte im Hausflur. Gleich darauf ein lautes »Hallo!« Turi Chan vernahm ein Hin und Her von Schritten, dann kam jemand die Treppe herauf.

Die Tür ging auf und . . . Turi Chan schrak unwillkürlich zurück . . . da stand eine große Gestalt in einer merkwürdigen Kleidung. Ein Gewand aus glitzernden Drahtmaschen war es, beinahe wie das Kettenhemd eines mittelalterlichen Ritters. Nur daß es auch den Kopf bis auf einen schmalen Schlitz für die Augen vollständig einhüllte. Das Bild, schon wunderlich an sich, wurde noch grotesker, als der so mittelalterlich Gewappnete einen modernen Browning aus der Tasche zog und ihn auf Turi Chan richtete.

»Nun, Marian, was ist das für ein seltener Vogel, der auf unserer Leimrute klebt?«

»Ein guter Fang, Herr Valverde. Es ist . . . Turi Chan!«

»Wie? . . . Was? . . . Der gelbe Schuft, der Verbrecher? Soll ich nicht gleich losdrücken, Marian? Ich glaube, es wäre das beste.«

»Ruhe! Ruhe, Herr Valverde! Erst müssen wir Georg wieder haben, den er sicherlich irgendwo gefangenhält. Aber ich habe das Sitzen satt. Stellen Sie doch erst den Verstärker ab, damit ich aufstehen kann.«

»Ah, richtig! Mitgefangen, mitgehangen, Marian.«

Jan Valverde ging zur Wand und schaltete den Strom aus.

»Na, nun kann ich ja auch den lästigen Kittel abwerfen.« Mit einem Ruck stülpte er sich das Drahtkleid ab, das ihn gegen Gedankenstrahlungen schützte . . . im selben Augenblick, als Marian schrie: »Halt! Nicht! Um Gottes willen nicht!«

Zu spät! Wie zum Tode getroffen taumelte Marian auf den Stuhl zurück. »O Gott! Was haben Sie getan? Jetzt sind wir in seiner Hand.«

»Was sagst du da?« Jan hob die Rechte mit der Schußwaffe ein Stückchen in die Höhe. Da . . . ein Zittern ging durch die Riesengestalt. Dann war es, als breche etwas in ihm zusammen. Der Arm sank kraftlos herunter. Mit schleppendem Schritt wankte Jan zu dem Stuhl, auf dem eben Turi Chan gesessen.

Der stand mit verschränkten Armen vor ihnen. Ein gräßliches Lachen machte sein Gesicht fürchterlich.

»So! Jetzt habe ich euch.«

Er trat zu Marian heran, holte mit dem Arm aus. »Du elender Knecht! Ich möchte dich zu Boden schlagen, wenn du mir nicht zu erbärmlich wärst. Doch sei gewiß, dir soll nichts geschenkt werden. Alles, was du sagtest, tatest, steht in meinem Gedächtnis aufgeschrieben. Und du magst es ruhig glauben, Turi Chan vergißt eine Beleidigung nie!«

Er zog die Uhr und warf einen Blick darauf.

»Auf! Vorwärts, ihr beiden! Das soll der kleinste Teil meiner Rache sein, daß ihr mir helft zu tragen, was ich mitnehmen will.«

Er deutete mit der Hand auf den Verstärker. Wortlos, mit gesenkten Köpfen, gingen Jan und Marian zu dem Apparat und lösten ihn von seinen Verbindungen.

»Herunter mit dem Ding zu meinem Wagen! Und keine Dummheiten gemacht! Hier . . .« er ergriff Jans Revolver »habe ich noch eine zweite Waffe.«

Turi Chan ging hinter den beiden her, die den Verstärker die Treppe hinuntertrugen. Von dem Haus wandten sie sich zu dem Park. An dessen Ende stand der Kraftwagen.

Wie ihnen Turi Chan befahl, stellten sie den Apparat sorglich in den Wagen und banden ihn fest.

»So! Das wäre erledigt. Nun, was mache ich mit euch?« Er wog den Browning in der Hand. »Irgendwie muß ich euch loswerden, damit ihr mir nicht Verfolger auf den Hals hetzt. Das einfachste wäre, ich schösse euch beiden eine Kugel durch den Kopf . . .«

Er überlegte einen Augenblick, sagte dann kopfschüttelnd: »Nein! Das wäre wohl falsch. Noch seid ihr nicht reif dafür. Selbst du, erbärmlicher Hund«, er sah Marian mit verächtlichem Haß an, »mußt noch am Leben bleiben. Wahrscheinlich werde ich dich noch eines Tages nötig haben. Aber töten werde ich dich noch einmal . . . Jetzt zurück ins Haus!«

Jan und Marian wandten sich um und gingen, wie Turi Chan es ihnen befahl, in den tiefsten Keller des Wohnhauses. Der schaltete das Licht ein und sah sich prüfend in dem Raum um. Es lagen da allerlei Kisten und sonstiger Kram. Er stöberte eine Weile darin herum und fand ein paar kräftige Stricke. Schnell waren die beiden gefesselt. Dann noch jedem einen Knebel in den Mund, und Turi Chan verließ den Keller. –

Während er in schneller Fahrt nach Süden eilte, dachte er triumphierend: Jetzt zu meinen beiden schlimmsten Feinden! Der Dritte soll auch nicht lange warten. Die Artikel in der »Australian World« machen mir ganz den Eindruck, als ob Major Dale sie geschrieben hat. Ich fürchte, er wird eines Tages das Schicksal von Robert Roux teilen müssen. –

In seine Gedanken versunken, achtete er kaum auf den Kraftwagen, der ihn halbwegs Canberra passierte. In dessen Fond saß Dale, der Georg Astenryk besuchen wollte. In der Hand hielt er einen frischen Bürstenabzug der »Australian World«, den er sorgfältig korrigierte. Noch einmal las er jetzt den Schluß dieses Artikels mit einem Gefühl der Befriedigung, Erleichterung durch. Da stand:

»Jene Mine mit dem Werkzeichen K.M.V., die den Kreuzer ›Brisbane‹ zum Sinken brachte, ist keineswegs eine noch vom Weltkrieg her im Meere treibende deutsche Mine gewesen.

Im Sommer des vorigen Jahres kam ein japanischer Agent nach Kiel und hat dort Altmaterial, darunter auch mehrere zum Verschrotten bestimmte alte Minenkörper, erworben. Diese Körper sind nach dem Osten transportiert und dort mit Sprengladung versehen worden.

Die Mine, welche bei Talufuata die ›Brisbane‹ sprengte, war eine davon. Sie wurde kurz vor der Katastrophe von einem japanischen U-Boot ausgelegt.«

Dale ließ das Blatt sinken. Ich denke, das wird seine Wirkung haben. Gern habe ich es nicht getan. Habe die Veröffentlichung dieses Aufsatzes immer wieder aufgeschoben. Jetzt konnte ich nicht anders handeln. Wenn die Schlafmützen in Canberra und Downing Street sich jeder politischen Einsicht versagen und im alten Schlendrian weiterwursteln wollen, so sollen sie sich verrechnet haben. Der Artikel wird jedenfalls wie eine Bombe wirken und einige Perücken zum Wackeln bringen.

Die Scherereien, die daraus entstehen – vielleicht auch mich treffen – sollen mich gleichgültig lassen. Gespannt bin ich darauf, wie die Londoner City den Artikel aufnehmen wird. Vielleicht gelingt es ihr jetzt im Verein mit der Presse, den Rücktritt der englischen Regierung zu veranlassen. Das einzige Unangenehme bei der Sache ist, daß ich Georg Astenryk gegenüber nicht ganz fair gehandelt habe. Aber ich glaube, er sowohl wie Clennan werden einsehen, daß hier endlich mal ein kräftiges Wörtlein gesprochen werden mußte.

Nun, ich werde ja gleich sehen, was er für ein Gesicht dazu macht. –

Und dann hielt Dales Wagen vor Jans Haus. Von dem anstoßenden Wirtschaftsgebäude her kam der Chauffeur Jans, um ihm den Wagen abzunehmen.

»Die Herrschaften zu Haus?« fragte Dale.

»Herr Astenryk ist gestern mit seinem Auto nach Canberra gefahren. Wo die anderen Herren sind, weiß ich nicht. Ich bin eben erst mit unserem Wagen von Georgetown zurückgekommen.«

»Hm«, brummte Dale, »Herr Astenryk ist nicht da? Schade! Wissen Sie, wann er zurückkommt?«

Der Chauffeur schüttelte den Kopf.

»Nun, ich werde es ja gleich erfahren.« Dale ging ins Haus. Bei seinem Eintritt in die Halle kam von hinten her eine der weiblichen Angestellten und führte Dale in Jans Arbeitszimmer. Sagte dabei, als sie das Zimmer leer fand: »Herr Valverde und Herr Marian werden wohl wieder oben sein. Sie hatten vorher Besuch. Der fremde Herr war mit ihnen oben. Er ist vor kurzem weggefahren.«

Bei diesen Worten wollte das Mädchen nach oben eilen, doch Dale hielt sie zurück. »Lassen Sie schon! Ich gehe selbst hinauf.«

Als er in das Laboratorium treten wollte, prallte er erschrocken zurück. Diese seltsame Unordnung in dem Raum . . . und da . . . der Platz, wo der Verstärker stand . . . leer! Neben einem umgeworfenen Stuhl auf dem Boden das Strahlen abschirmende Schutzkleid . . . was war hier vorgegangen? Wo war der Verstärker? Wo waren Jan und Marian?

Gewaltsam zwang er sich in der Flut der tausend sich kreuzenden Fragen und Befürchtungen zur Ruhe . . . Ach was! Unsinn . . . wozu sich unnütz sorgen? Valverde und Marian werden ja gleich alles sagen können.

Er ging aus dem Laboratorium und klopfte an alle Türen des Obergeschosses, rief dabei laut: »Herr Valverde, wo sind Sie?«

Vergeblich . . . Kopfschüttelnd ging er die Treppe hinunter und traf dort auf das Mädchen, das verwirrt dastand, stotternd sagte: »Hier unten sind sie auch nicht. Ich bin in allen Zimmern gewesen. Ich weiß gar nicht, wo sie sein können? Im Hause müssen sie doch sein.«

Bei den Worten des Mädchens legte es sich Dale wie ein schwerer Alp auf die Seele . . . die beiden im Hause . . . und antworteten nicht? . . . Der rätselhafte Besucher? . . . Der Verstärker fort? . . . War er geraubt? . . . Jan und Marian ermordet? . . .

Da kam der Chauffeur Jans hinzu. »Nun«, sagte der lachend, »die Herren können doch nicht verschwunden sein. Wenn sie nicht hier oder oben sind, sind sie vielleicht im Keller. Herr Valverde . . .«, ein breites Grinsen ging über das Gesicht des Chauffeurs, »bekam doch in der letzten Woche mehrere Sendungen Wein. Die Herren werden vielleicht im Keller sein und eine Probe machen.«

Etwas beruhigt durch das gelassene Wesen des Chauffeurs nickte Dale dem zu und sagte: »Nun denn mal los! Führen Sie mich nach unten. Vielleicht«, er versuchte sich zu einem Scherz zu zwingen, »finde ich sie gerade bei einer ausgiebigen Weinprobe.«

»Sehen Sie, Herr Major Ich habe recht gehabt, hier brennt ja die Kellerlampe.«

Der Chauffeur ging zu der Tür des Weinkellers. Sie war verschlossen. Er klopfte daran, nichts war zu hören. Enttäuscht drehte er sich um und schaute Dale verdutzt an. Er wollte sprechen, da zuckte er plötzlich zusammen. Hastig schlich er zu einem anderen Kellerraum und legte lauschend das Ohr an die Tür.

»Was ist? . . . Was haben Sie?« raunte Dale. Der Chauffeur machte ein paar Schritte auf ihn zu und flüsterte: »Jetzt habe ich's deutlich gehört. Da drin stöhnt jemand.«

»Schlüssel! Wo ist der Schlüssel zu der Tür?«

Der Chauffeur schien sich besinnen zu wollen, da fiel Dales Blick auf ein Stück Eisenrohr. Er griff es und bog damit das Türschloß auseinander. Die Tür sprang auf, sie traten hinein. Ein Streichholz flammte in Dales Hand auf.

»Hier sind sie!« rief der Chauffeur und deutete auf einen wirren Haufen von Packmaterial und Kisten. –

Wenige Augenblicke später waren Jan und Marian von ihren Fesseln und Knebeln befreit.

Der Chauffeur, noch ganz erfüllt von dem Entsetzen über das hier verübte Verbrechen, wurde völlig verwirrt, als die anderen aus dem Keller gingen, ohne etwas zu dem Geschehenen zu äußern. Daß Marian sofort Dale das Wort »Turi Chan« zugeflüstert hatte, war ihm entgangen. Er fühlte eine gewisse Erleichterung, als Jan ihm befahl, ein paar Flaschen Burgunder aus dem Weinkeller zu holen. Aber sein richtiges Gleichgewicht fand er erst wieder, als er im Keller von der Treppe herab endlich die erwartete Flut von Verwünschungen und Flüchen vernahm, mit denen Jan Valverde jetzt seinem Herzen Luft machte. –

Kaum hatte Dale Aufklärung über die Vorkommnisse erhalten, als er ans Telephon eilte und Clennans Wohnung anrief.

Das wenige, was er von dessen Wirtschafterin hörte, genügte, um ihn ins Bild zu bringen, was mit Clennan und Georg geschehen sein mußte. Er ließ sich danach mit dem Landesverteidigungs-Ministerium verbinden und führte ein langes Gespräch.

»So!« sagte er aufatmend, »sämtliche Polizeistellen sind alarmiert. Es wird Turi Chan nicht leicht fallen, mit seinem Raube aus dem Land zu kommen.«

Und dann saßen die drei lange zusammen. Immer wieder gingen ihre Blicke zu der leeren Stelle, wo der Verstärker gestanden hatte, während sie sich die Köpfe zermarterten, wie sie von sich aus Turi Chan irgendwie auf die Spur kommen könnten. Vergeblich all ihr Sinnen und Überlegen. Sie sahen keine Möglichkeit.

*


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