Hans Dominik
Befehl aus dem Dunkel
Hans Dominik

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Helene stand auf dem Bahnhof in Neustadt. Der Zug, der Alfred aus Paris zurückbringen sollte, mußte bald einlaufen. Vor ein paar Tagen war ein Schreiben von Raconier gekommen, die Herren Forbin, Godard und Samain sollten sofort nach Paris fahren. Forbin hatte zunächst wenig Lust zu der Reise gehabt. Er ahnte, worum es ging. Nach dem Rat Helenes hätte er diese Affäre gern liquidiert. Während er noch unschlüssig überlegte, ob er fahren sollte oder nicht, kamen Zeitungsnachrichten, die ihn doch zur Reise bestimmten. Das englische Telegraphenbüro verbreitete die folgende Nachricht: Die Verhandlungen zwischen der englischen und der japanischen Regierung haben zu einem günstigen Ergebnis geführt. Die Differenzen, die in erster Linie durch die Maßnahmen der australischen Regierung bezüglich der dort wohnenden Japaner entstanden wären, dürften als beigelegt gelten. Die freundschaftliche Form, in der diese Verhandlungen geführt wurden, läßt auch über die anderen Streitpunkte eine baldige Verständigung erhoffen.

In langen Leitartikeln besprachen die Zeitungen diese günstige Wendung. Man fand vielerlei Gründe dafür. Der wichtigste Grund wurde von vielen Blättern in einer Rede des amerikanischen Bundespräsidenten gesehen, in der er auf die erfreuliche Besserung der englisch-amerikanischen Beziehungen verwies. Von anderen Blättern wiederum wurden die sich immer mehr verschärfenden Differenzen zwischen Rußland und Japan als Grund für die nachgiebige Haltung Japans angegeben.

Zu denen, welche diese Besserung der politischen Lage aufs lebhafteste bedauerten, gehörte Alfred Forbin. Die Aussichten auf Waffengeschäfte waren im Augenblick nur schwach. Er gab Helene ihr Zitat vom Sperling und der Taube mit wenig liebenswürdiger Ironie zurück. –

So waren die Herren Godard und Samain zusammen mit Alfred Forbin und Anne Escheloh nach Paris gefahren. Helene war es rechtzeitig eingefallen, daß es unmöglich wäre, ihre Schwester mit nach München zu nehmen. Denn selbstverständlich würde diese ja von dort aus Georg Nachricht zukommen lassen, und für den würde dann der Verdacht naheliegen, man folge ihm in irgendwelchen Absichten nach. Unter allen Umständen sollte das aber vermieden werden. Um so mehr als Helene durchgesetzt hatte, daß Forbin bei allem, was dort oder am Wilden Rain geschehen würde, sich unbedingt im Hintergrunde halten solle. –

Der Zug lief ein.

»Wie war's in Paris, Alfred? Da tat sich wohl allerhand?«

»Allerdings, Helene. Es zeigte sich, daß die Herrschaften doch verflucht scharf hinter der Sache her sind. Na, ich will dir nur in großen Zügen erzählen, was da geredet wurde. Gehen wir zu Fuß nach Haus.

Zunächst wäre mal zu vermelden, daß die Herren Godard und Samain kaltgestellt worden sind. Ein anderer Herr namens Forestier soll mit mir die Sache weiterverfolgen. Wir werden uns mit ihm in München treffen.«

»Ah! So hast du dich doch wieder fest engagiert? Du weißt doch, Alfred« . . .

»Beruhige dich, liebe Helene«, fiel ihr Forbin ins Wort, »ich habe mich im Hinblick auf unsere Finanzen bemüht, einen möglichst großen Vorschuß herauszuholen. Den habe ich.« Er klopfte dabei mit der Hand an seine Brieftasche, »wie weit ich mich bei dem, was Herr Forestier da alles vorhat, aktiv beteilige, steht noch sehr dahin. Das eine kann ich dir nur versichern, nicht ich, sondern Herr Forestier wird derjenige sein, der die Kastanien aus dem Feuer holt.«

»Was ist das für ein Herr? Was hast du für einen Eindruck von ihm?«

Forbin zuckte die Achseln, »Keinen besonders guten. Ein etwas eingebildeter Herr. Früher mal Offizier gewesen . . . finstere Dinge passiert . . . na, du weißt ja. Er will die Sache jedenfalls etwas energischer anfassen als Godard. Wenn ich ihn recht verstanden habe, wird es ihm nicht darauf ankommen, gegebenenfalls mit . . . sagen wir mal . . . mit Brachialgewalt vorzugehen. Ich glaube, ich werde allen Grund haben, mich recht stark im Hintergrund zu halten. Solche gewaltsamen Affären sind nicht mein Genre.«

»Was soll das heißen, Alfred? Was meinst du damit?«

»Ja, der gute Herr hat das sehr geheimnisvoll ausgedrückt. Was er eigentlich vorhat, weiß ich noch nicht. Jedenfalls, was ich dir sagte, ist so der Eindruck, den ich von dem Menschen bekommen habe.«

Helene zog die Stirn kraus. »Ausgeschlossen, Alfred! Sollte dieser Herr wirklich irgendein gewaltsames Unternehmen ins Auge gefaßt haben, mußt du ihn davon abzubringen versuchen oder . . . für deine Person einfach streiken. – – Was macht Anne?«

»Sie ist mal wieder wütend auf mich. Besuchte mich vorgestern der Capitaine Armand d'Aureville. Nun, du weißt, er liebt einen guten Tropfen. Er trank etwas mehr als nötig. Ich wurde ans Telephon gerufen und hatte eine lange Unterredung mit dem neuen Herrn. Als ich wieder ins Zimmer kam . . . na, schweigen wir.«

»Alfred!«

Forbin wandte sich Helene zu Sie sah ihn mit blitzenden Augen an.

»Bitte, keinen falschen Verdacht, Helene! Es war so, wie ich gesagt habe. Es ist mir gar nicht eingefallen, den gefälligen Kuppler zu spielen. Keine Rede davon! Du vergißt, je mehr d'Aureville trinkt, desto liebenswürdiger und zärtlicher wird er. Außerdem hast du doch auch gemerkt, daß er schon immer ein Auge auf Anne geworfen hat. Na, jedenfalls, als ich zurückkam, war der Kladderadatsch da. Möglich, daß mich Anne im selben Verdacht gehabt hat wie du jetzt. Unser Abschied war jedenfalls sehr kühl. Aber nun genug davon! Wir fahren morgen nach München.«

»Sagen wir lieber übermorgen, Alfred. Morgen ist die Zwangsversteigerung der Fabrik. Das Ergebnis interessiert mich.« –

Als sie am übernächsten Tag im Münchner Zug saßen, sagte Forbin zu Helene:

»Es war doch gut, daß wir den Tag noch in Neustadt blieben. Ist doch ganz interessant zu wissen, daß Georg durch den alten Werkmeister Konze die Laboratoriumseinrichtung gekauft hat. Wenn er sie sich jetzt nach München nachschicken läßt, zeigt das doch deutlich genug, daß er die Absicht hat, seine Arbeiten dort fortzusetzen.«

»Aber wo hat Georg das Geld her?« fragte Helene, »das sind doch alles teure Sachen, die da drin waren.«

»Für den, der sie sich neu kaufen muß, sind sie allerdings teuer. Aber wer interessiert sich in Neustadt für so etwas? Georg hat den ganzen Kram für lächerliche dreihundert Mark gekauft. Na, und das Geld wird er wohl von seiner Tante gekriegt haben.«

*

Die Almhütte der Frau Professor Emilie Potin – der Tante Mila, wie sie von den Verwandten genannt wurde – unterschied sich äußerlich in nichts von den Hunderten anderer, die da allerort in den bayerischen Bergen stehen, wo Almen sind. Das Innere jedoch war mit viel mehr Liebe und Sorgfalt eingerichtet, als es sonst bei Sennhütten üblich ist. Onkel Franz, der verstorbene Mann der Tante Mila, hatte sie mit den umliegenden Almen ihrer schönen Lage wegen gekauft, als er in München seinen Wohnsitz nahm.

Die Hütte lag geschützt in einer Senke, die sich nach Norden weit öffnete. Ein unvergleichlich schöner Fernblick bot sich von hier. Fast unmittelbar hinter der Hütte stürzte ein starkes Wildwasser in Kaskaden zu Tal.

Als leidenschaftlicher Bergfex verbrachte Onkel Franz zum Leidwesen der Tante Mila jeden Urlaub in der Hütte. Die zugehörigen Almen waren an die benachbarten Almbauern verpachtet, und so war's auch nach des Onkels Tode geblieben. Die Tante wollte sich von dem Besitz nicht trennen, obwohl sie seit Jahren die Almhütte nicht mehr betreten hatte. –

»Marian! Komm doch nur mal her und sieh den wunderbaren Sonnenuntergang da drüben.«

»Laß mich in Ruh mit deinem Sonnenuntergang! Wär doch gelacht, wenn wir heute abend ohne Licht dasäßen . . . der verflixte Riemen ist mal wieder zu lang. Komm lieber her und hilf mir.«

»Unsinn, Marian! Er ist nicht zu lang. Brauchst doch nur die Wellenlager etwas nachzuspannen. Dann stimmt's, muß es stimmen.«

»Meinetwegen! Probieren wir's so!« Wieder wurde der Riemen auf die Scheibe gelegt.

»Na ja, Georg! So könnte es gehen. Hoffentlich schnappt er nicht öfter als nötig ab. Für die Mittelscheibe müssen wir unbedingt mal ein Ersatzstück kaufen.«

»Später! Jetzt mal los, Marian! Auf mit der Schütze!«

Marian würgte mit einer langen Stange ein Brett aus der hölzernen Wasserrinne. Das Wasser stürzte auf ein roh gezimmertes Rad. Das Rad begann sich zu drehen . . . schneller, immer schneller. Jetzt war es auf vollen Touren.

Georg lief ins Haus und schaltete ein. »Hurra! Die Lampen brennen.«

Marian trat in die Hütte. »Ah! Großartig, wunderbar! Aber jetzt mal schleunigst die Akkumulatoren angeschlossen, daß wir die wieder voll kriegen. Die lechzen nach Strom, seitdem sie in Neustadt abgebaut wurden.

Da haben wir doch wirklich Glück gehabt. Wenn ich so denke . . . das ganze Labor einschließlich Dynamo und Verstärker hat der alte Konze für dreihundert Mark ersteigert . . . na, für heute aber Schluß! Wir haben die letzten Wochen geschuftet wie die Wilden. Morgen früh wird es das erste sein, daß wir unseren Verstärker und die Antenne mal ausprobieren.« –

Die Morgensonne war eben über die Almwiesen heraufgekommen. Die beiden standen in der Tür der Hütte und schauten nach der Hohen Alm.

»Da kommt die Katrin!« rief Marian und deutete mit dem Finger nach einer Frau, die, eine Kiepe auf dem Rücken, hinter einem Wäldchen hervortrat. »Gleich werden wir die Probe aufs Exempel machen können.«

Die alte Katrin, eine Sennerin von der Hohen Alm, besorgte den beiden bisweilen Lebensmittel aus dem Dorf. Marian ging in die Hütte zurück, Georg wartete, bis die Frau näher herangekommen war und winkte ihr zu. Als sie noch etwa hundert Meter entfernt war, verlangsamten sich ihre Schritte. Sie blieb stehen. Georg winkte ihr heftig. Die Frau schwenkte wie hilflos die Arme. Dann . . . plötzlich ging sie wieder weiter.

Als sie an die Hütte gekommen war, war sie total verwirrt. Erschöpft ließ sie sich auf die Bank vor der Hütte niederfallen. Georg fragte in teilnehmendem Ton:

»Was war denn, Katrin? Warum bliebt Ihr denn plötzlich stehen?«

»Ja, Herr . . . ja, Herr Astenryk . . . das weiß ich nicht . . . mir war's auf einmal« . . . fuhr sie stotternd fort, »als hätte mir einer gesagt . . . ich dürfe nicht weitergehen . . . als hielte mich was fest . . . ich weiß gar nicht, was das war . . . mir ist der Schreck so in die Glieder gefahren . . . was kann das nur gewesen sein?«

»Ja, Katrin! Das ist ja eine komische Sache. Das verstehe ich beim besten Willen nicht. Vielleicht schlecht geschlafen heut nacht?« meinte Georg lachend. »Wartet mal ein bißchen.« Gleich darauf erschien er mit einer Flasche in der Hand. »Hier, Katrin! Einen kleinen Enzian auf den Schreck!«

Der Enzian tat seine Wirkung. Nach einiger Zeit stand die Alte auf und ging weiter. Lachend sahen Georg und Marian ihr nach, wie sie immer wieder den Kopf schüttelte über das, was ihr da passiert war.

»Es klappt, Marian, 's kommt kein Teufel näher als hundert Meter gegen unseren Willen an die Hütte 'ran. Jetzt werde ich mal gleich zu dem Steinmoser gehen und ihm seinen Hund abkaufen. Der Köter meldet ja schon, wenn er von weitem einen Menschen kommen sieht.«

»Noch besser wäre es allerdings, Georg, wenn es dir glückte, auch hinter das Geheimnis des verlorengegangenen Plattenteils zu kommen. Was du da vermutest, hat manches für sich. Versuche doch mal, wenn du jetzt ins Dorf gehst, ob du nicht Material bekommen kannst, um ein paar solide Platten daraus zu machen. Ich denke, wir könnten dann auch auf noch größere Entfernungen wirken, ohne daß wir unseren eigenen Kopf zu Hilfe nehmen müßten.«

»Da hast du ja wohl recht, Marian. Meiner Meinung nach hat auf dem abgesprungenen Teil von Allgermissens Wachsplatte ein in schnellem Wechsel verschiedener Wellenlängen gegebener Ankündigungsbefehl gestanden, der Menschenhirne verschiedenster Eigenschwingung auf die gewünschte Welle abstimmte. Ich kann mir denken, daß das ganz interessante Versuche für uns werden könnten. Jetzt, wo wir vollkommen eingerichtet sind, habe ich Zeit, mich mal damit zu beschäftigen.«

Schon in der folgenden Nacht mußte ihr Verstärker zum zweiten Male seine Künste zeigen. Sie lagen in festem Schlaf, als der Hund, der vor der Hütte angebunden war, kräftig anschlug. Murrend stand Georg auf, öffnete das Fenster und drohte dem Hund, still zu sein. Doch der ließ sich durch nichts beruhigen. Instinktmäßig ging Georg vom Fenster zurück und schaltete einen Hebel ein.

»Na, Georg, was machst du da?« rief Marian, der jetzt erst munter wurde. »Meinst du, der Nero draußen witterte einen Menschen in der Nähe?«

»So ganz ausgeschlossen ist das nicht«, sagte Georg, »ich will mal nachsehen, bleib du ruhig hier und . . . denk dran!«

Georg warf sich einen Mantel um, zündete eine Laterne an und trat vor die Tür. Draußen nahm er den Hund an die Leine, flüsterte ihm zu: »Such, Nero!«

Sofort warf sich der Hund in den Riemen und zog mit voller Gewalt in die Dunkelheit los. Nur mit Aufwendung aller Kraft konnte Georg den Hund bändigen, der immer wütender wurde.

Da glaubte er etwas Dunkles vor sich zu erblicken. Er hob die Laterne und sah einen Menschen. Noch ein paar Schritte näher und da . . . stand Herr Alfred Forbin.

»Ah, guten Abend, Herr Forbin! Haben Sie sich verirrt . . . oder wollten Sie mich wirklich so spät noch besuchen? Vielleicht gar mir ein neues, günstiges Angebot von den bewußten Pariser Leuten machen . . . Einerlei! Bitte, kommen Sie mit.«

Es wäre zweifellos sehr interessant gewesen, das Gesicht Forbins in diesem Augenblick zu photographieren. Alle Ausdrücke des Schreckens, der Wut, der Scham, des Aergers waren in stärksten Farben darein gemalt. Doch als er in die Hütte kam, hatte er sich wieder völlig in der Gewalt. Gewohnt, aus allen Blüten Honig zu saugen, war er sogar in bester Laune, als er Marian begrüßte und mit guter Schauspielerkunst einen Wortschwall von Ausflug zur Hohen Alm . . . in die Irre gelaufen und so weiter vom Stapel ließ.

Da es bei der starken Dunkelheit ausgeschlossen war, noch den Rückweg nach den Dorf anzutreten, wurde er aufgefordert, in der Hütte zu übernachten. Während Georg und Forbin am Tisch saßen und sich angeregt unterhielten, ging Marian in den Nebenraum. Als er nach einiger Zeit zurückkam, nickte er Georg zu.

»Ja, Herr Forbin, fürstliche Unterkunft können wir Ihnen leider nicht bieten«, sagte Georg. »Ich habe Ihnen drüben in unserem Labor ein notdürftiges Lager zurechtmachen lassen. Kommen sie bitte mit.«

Forbin freute sich innerlich wie ein Schneekönig, als er dies hörte. Ein Griff an seine rechte Hosentasche überzeugte ihn, daß die elektrische Taschenlaterne und der kleine Photoapparat vorhanden waren. »Müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich in dieser Nacht nicht allerhand erhaschte. Ich werde kein Auge zutun.« . . . Daß über seinem Lager ein paar Drähte gespannt waren, beachtete er nicht weiter. – – –

Als Alfred Forbin am nächsten Morgen erwachte, glaubte er in seinem ganzen Leben nie so gut und fest geschlafen zu haben wie in dieser Nacht. Taschenlampe und Photoapparat waren gänzlich unbenutzt geblieben. –

Kaum, daß er außer Hörweite der Hütte war, brachen die beiden in unbändiges Gelächter aus.

»Der Scherz war wirklich hervorragend, Marian. Er entschädigt uns für die nächtliche Ruhestörung und dafür, daß immer einer von uns am Verstärker sitzen mußte, um Forbin in tiefen Schlaf zu wiegen und darin zu halten.« –

Mochten bei jenem rätselhaften Abenteuer Forbins auch anderen die Ohren geklungen haben? . . . Herr Forestier und Frau Helene, die im Restaurant des Hotel Bristol in München saßen, unterbrachen ihr Gespräch über Erinnerungen an Monte Carlo . . . Ob Forbin wohl die Hütte ausfindig gemacht habe, ob er nicht bald käme? dachten und fragten sie gleichzeitig. Forestier machte den Vorschlag, auf jeden Fall zu warten, bis Forbin käme. Er deutete auf die Umgebung.

»Gutes internationales Publikum hier im Hotel Bristol, meine Gnädige. Werden wir später etwas tanzen?«

Er schaute Helene mit verlangenden Blicken an. Die nickte, während ein ironisches Lächeln um ihre Lippen spielte. Dieser gute Forestier schien sich in der Rolle des Don Juan zu gefallen. Sie ließ einen mitleidigen Blick über das verlebte Gesicht, über die trotz aller Eleganz dürftige Gestalt des Südfranzosen gleiten. Ihre Augen gingen zu dem großen Pfeilerspiegel gegenüber.

Was der da im Reflex des tausendkerzigen Lüsters zurückwarf, ließ sie mit Wohlgefallen ihr eigenes Bild betrachten. Jung, schlank, hübsch, mit sehr regelmäßigen Zügen, konstatierte sie befriedigt. Das kastanienbraune Haar mit einem interessanten Schimmer ins Rötliche, die natürliche, liebenswürdige Anmut ihrer Erscheinung . . .

Alles schon hinreichend, sich die Männer zu unterwerfen. Rechnete sie noch dazu, was in ihrem Inneren an geheimen Kräften, Künsten schlummerte, so ersehnte sie sich so manchmal in Gedanken einen Gegner stärksten Wesens, stärksten Widerstandes. Einen Mann, über den zu triumphieren höchste Genugtuung sein würde. – –

Ein Herr, der im Hintergrund des Saales gesessen hatte, trat an ihren Tisch. Nach einer leichten Verbeugung gegen Helene streckte er Forestier die Hand entgegen.

»Ah, Herr Forestier! Sehr erfreut, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihnen?«

Forestier sprang auf, verneigte sich. »Gestatten Sie, meine gnädigste Frau Forbin, Ihnen Herrn Shugun aus Tokio vorzustellen. Würden gnädige Frau erlauben . . .«

Eine Handbewegung Helenes. Mit einer dankenden Verbeugung nahm der Japaner Platz. Während Forestier und der Herr aus Tokio einige Bemerkungen austauschten, ließ Helene ihre Blicke prüfend über dessen Gesicht gehen.

Zunächst drohte ihre große Menschenkenntnis sie im Stich zu lassen. Hinter den gleichmäßig freundlichen Zügen des Japaners zu lesen schien ihr unmöglich. Doch je mehr sie sich in das fremde Gesicht vertiefte, desto mehr begann es sich ihr zu offenbaren. Das war kein Mann alltäglicher Art, bestimmt kein Gelehrter oder Kaufmann, wie sie nach Europa kamen. Vielleicht Militär oder Diplomat . . . wahrscheinlich politischer Agent.

Jetzt wandte der sich zu ihr. Nach ein paar kurzen Worten schmeichelnder Höflichkeit begann er eine Unterhaltung, die Helene schnell fesselte. Sie hatte den wohl richtig taxiert. Ein geistreicher, kluger Kopf, beschlagen auf allen Gebieten gewandter europäischer Konversation. Helene erwies sich als ebenbürtige Gegnerin. In glänzendem, gewandtem Stil flogen die Bälle hinüber und herüber. Herr Forestier wußte selten etwas zu sagen.

Während der Kellner beschäftigt war, die Gedecke abzunehmen, benutzte der Japaner die Gelegenheit, mit einem Seitenblick auf Helene Forestier zuzuraunen: »Spricht die Dame Spanisch?« Der schüttelte den Kopf, antwortete dann auf mehrere Fragen des Japaners in spanischer Sprache.

Mein werter Forestier, das soll Ihnen nicht vergessen bleiben, dachte Helene, die ziemlich gut Spanisch verstand und jedes Wort gehört hatte. Also was sagten Sie zu Herrn Shugun? Die schöne Frau ist die Gattin eines zweifelhaften Subjektes, das sich ausschließlich mit Geschäften zweifelhaften Charakters befaßt . . . gelegentlich gut zu brauchen . . . zur Zeit in unseren Diensten? . . .

Wir werden gelegentlich darauf zurückkommen, mein lieber Forestier, dachte Helene, während sie ihm lächelnd das Glas entgegenhielt.

»Herr Shugun, würden Sie wohl die Liebenswürdigkeit haben, mir ein paar aufklärende Worte zu sagen? In der letzten Zeit sah ich wiederholt Zeitungen mit der schon jahrelang mißbrauchten Schlagzeile ›Wetterleuchten im Fernen Osten‹.«

»Ah, die Gnädige befaßt sich auch mit politischen Fragen?«

»Ich würde es gern, aber leider habe ich bisher kaum Gelegenheit dazu gehabt, mein Herr.«

In den Augen des Japaners blitzte es kurz auf. Vielleicht traf es sich günstig, daß Forestier in diesem Augenblick ans Telephon gerufen wurde und lange Zeit wegblieb. Als er wiederkam, hätte er bei etwas besserer Beobachtungsgabe wohl bemerken können, daß in dem Gespräch zwischen dem Japaner und Helene ein ernsterer Ton mitklang. Woraus er dann gewisse Schlüsse auf die Unterhaltung à deux hätte ziehen können. –

Als sie sich trennten, hörte Helene mit innerlicher Genugtuung, wie der Japaner zu dem Kellner sagte: »Wollen Sie bitte dem Geschäftsführer bestellen, ich bliebe noch einen Tag länger.« –

Frau Helene schlief in dieser Nacht weniger fest und gut als ihr Gatte auf dem Wilden Rain. Das Gespräch mit dem Japaner ging ihr nicht aus dem Kopf. Es waren angenehme Träume, die sie wachend umgaukelten, und sie empfand es als eine brutale Störung, als Alfred Forbin gegen Morgen in ihr Schlafzimmer trat und wütend seine Sachen wegschleuderte.

Nur mit halbem Ohr hörte sie den herausgesprudelten Bericht ihres Mannes über seinen Besuch auf der Alm. Horchte aber interessiert auf, als der von dem rätselhaften Festgebanntsein . . . von der Unmöglichkeit, trotz stärkster Willensanstrengung zu fliehen, sprach. Dann aber lachte sie laut auf:

»Alfred, ich kenne dich ja gar nicht wieder. Was erzählst du da für törichtes Zeug! hätten wir Zeit, würde ich dir einen Aufenthalt bei Freuds Nachfolger empfehlen . . . Verdrängte Komplexe, mein Teurer! Aber ich glaube dir wohl auch allein die Diagnose dieses Herrn für deine seelische Störung geben zu können. Er würde dir etwa sagen . . .« Helene nahm dabei einen ironisch beschwörenden Ton an ». . . die Nacht . . . ganz allein in einem unbekannten romantischen Gelände . . . ein Licht blitzt auf . . . ein Mann mit einem wütenden Hund an der Leine nähert sich . . . das Oberbewußtsein verlangt gebieterisch Flucht. Das Unterbewußtsein sagt: Fliehst du, läßt der Mann den Hund frei. Der holt dich ein, fällt dich an, zerfleischt dich . . . Der Instinkt ist stärker als der Wille . . . Sie bleiben stehen, Herr Forbin. Eine ganz einfache Sache. Überlegen Sie alles noch einmal, Herr Forbin, und Sie werden mir recht geben.«

Alfred quittierte Helenes Scherz mit einem halben Lachen. »Weiß der Teufel, Helene! Du kannst wirklich allerhand . . .«

»Sehr schmeichelhaft, mein lieber Alfred. Setz dich bitte in den Sessel und höre, was ich in deiner Abwesenheit so ›allerhand‹ gekonnt habe.« –

Als sie geendet, wirbelte Forbin der Kopf . . . Geschäfte aller Art für eine gewisse Großmacht im Fernen Osten . . . Pfunde, Dollars, Jens konnten auf der Straße liegen . . . für den, der es verstand, sie aufzuheben.

Er warf Helene einen bewundernden Blick zu. Diese Frau!

Wirklich, sie war wert, in Gold gefaßt zu werden. Ihr kluger, jeder Situation gewachsener Geist, vereint mit allen Reizen einer schönen Frau . . . welch kostbares Instrument! . . . nein, welche Partnerin für ihn! Und wieder, wie schon so oft, ging es ihm durch den Kopf. Wie war es zu erklären, daß diese Frau schon jahrelang sein Leben teilte . . . ein Leben, das durch alle Höhen und Niederungen menschlichen Daseins führte? . . .

Was war eigentlich das Band, das sie mit ihm verknüpfte? . . . Liebe? . . . Nein! Wie oft war sie Männern begegnet, jung, schön, reich, die jederzeit bereit gewesen wären, ihr Schicksal mit dem Helenes zu verknüpfen. Doch nie hatte er auch nur mehr als eine freundliche Regung bei ihr bemerkt. Immer wieder kam er zu dem Schluß: ein Leben in ruhigen, geordneten Verhältnissen als Frau eines Millionärs konnte ihr nicht das bieten, wonach ihr Sinn ging, ihr Blut drängte . . . sich mit Leib und Seele dem reizvollen Leben an der Seite eines Abenteurers hinzugeben.

Millionär? . . . War er's nicht auch schon manchmal gewesen, wenn ihnen ein ganz großer Coup gelungen war? Doch wie lange hatte die Herrlichkeit immer gedauert? Gab es dann eine Fürstin, die fürstlicher auftreten konnte als Helene? Gab es dann eine Milliardärin, die mit so großzügiger Nonchalance mit vollen Händen Geld auszustreuen vermochte wie Helene?

Nie hatte er auch nur versucht, ihr hindernd entgegenzutreten. Hatte nur still zugesehen, wie sie das doch keineswegs leicht Erworbene in kurzer Zeit unter ihren Händen zerrinnen ließ. Mit fast ehrfürchtiger Bewunderung hatte er ihrem Treiben zugesehen, es geduldet . . . Aber, wenn dann alles ausgegeben, Berge von Schulden gemacht waren, die Gläubiger ihnen auf den Fersen saßen, sie nicht wußten, wie sie am nächsten Tage satt werden sollten, niemals war dann ein Wort der Unzufriedenheit, der Klage über ihre Lippen gekommen.

Gleichmütig blieb sie ihrem Wesen getreu im wechselnden Schicksal der Tage. Nur einmal war ein Zerwürfnis zwischen ihnen entstanden, das fast zum Bruch geführt hätte. Als er nämlich zu einer Zeit, da sie gänzlich blank waren, beim Spiel mit ein paar reichen Engländern sich eines Kartenspiels bedient hatte, das fünf Könige enthielt. Er hatte deswegen bei Helene lange um Pardon bitten müssen.

Sein Blick umfaßte sie wie ein kostbares Juwel, wie sie so dalag, die klassisch schönen Arme über den Kopf zurückgeworfen, die Augen zur Decke gerichtet, die Lippen leicht geöffnet, das Bild einer ruhenden Dryade. Er stand auf und trat an ihr Lager heran. Behutsam fuhren seine Hände über die kühle, blendend weiße Haut ihrer Arme, wie wohl der Besitzer einer kostbaren Bronze in der Freude ihres Besitzes liebkosend darüberstreicht. Helene wandte den Kopf zu ihm und sah ihn mit leichtem Staunen an.

»Ah, mein Herr!? Was ist Ihnen?« kam es ironisch von ihren Lippen.

Forbin schüttelte den Kopf. »Nicht das, Helene! Nein, wie würde ich es wagen! Das nicht! Es war nur so ein momentanes Glücksgefühl. Das Glück, dich zu haben. Zusammen mit dir auf neuen Jagdgründen, die neue lohnende und interessante Möglichkeilen bieten, zu pirschen.«

Helene verbarg ihr Gähnen hinter der Hand und nickte gleichgültig. Richtete sich dann auf und wandte sich ihm zu.

»Du bist doch hoffentlich von deinen Halluzinationen endgültig geheilt, Alfred? Ich habe mir die Sache eben noch mal genau durch den Kopf gehen lassen und finde beim besten Willen keine andere Erklärung, als ich sie dir vorher gegeben habe. Denn an etwas anderes Übersinnliches . . . Übernatürliches zu denken, wäre doch wirklich verrückt. Aber es ist Zeit, sich fertigzumachen. Herr Shugun wird pünktlich sein.« –

Es war eine angeregte, inhaltreiche, interessante Unterhaltung zwischen dem Japaner und dem Ehepaar Forbin. Während nach Schluß der Mahlzeit Herr Shugun und Frau Helene noch am Tisch sitzenblieben, entfernte sich Alfred Forbin, um nach kurzer Zeit im Reiseanzug und mit einigem Gepäck wieder zu erscheinen. Nach kurzer Verabschiedung fuhr er zum Bahnhof, um einen Zug nach Norddeutschland zu besteigen. In Kiel gedachte er einige Käufe in Altmetall aus früheren deutschen Marinebeständen zu tätigen.

Herr Shugun setzte seine Unterredung mit Frau Helene noch lange fort. Als er sich empfahl, tat er es mit gemischten Gefühlen . . . Bedauern . . . Bewunderung. Bedauernd hatte er einsehen müssen, daß alle seine lockendsten Versuche einer persönlichen Annäherung mit einem leichten Schatten, den Frau Helene über ihr Gesicht gleiten ließ, erledigt wurden, bewundernd hatte er immer wieder ihren Geist, den Geist eines brillanten Diplomaten, feststellen müssen.

Helene nahm aus dieser Unterredung eine Fülle prickelnder Gedanken und vielversprechender Ideen mit. Am nächsten Tag fuhr sie in Begleitung des Herrn Shugun nach Paris.

*

Es war die Nacht »Buddhas Erleuchtung«. Sinnend ging der Abt von Gartok in seinem Gemach hin und her. In seiner Hand knitterte ein Zeitungsblatt. Es war eine indische Zeitung, die der Postreiter mitgebracht hatte. Die Nachricht darin, welche den Abt so nachdenklich gemacht hatte, bestand nur aus wenigen Worten. Sie lautete: »Sir Reginald Wegg ist zum Gouverneur von Singapore ernannt worden.«

Turi Chan kannte Reginald Wegg von Eton und Oxford her sehr gut. Jahrelang hatten sie dieselben Colleges besucht. Schon als Schüler durch hervorragende Leistungen ausgezeichnet, hatte Reginald Wegg später viele wichtige Posten im englischen Kolonialreich bekleidet. Er galt als Mann von rücksichtsloser Entschlossenheit und Tatkraft. Wenn man ihn in Downing Street für Singapore bestimmt hatte, so mochte man wohl seine besonderen Gründe dafür haben. Singapore, der beherrschende Punkt der ostwestlichen Verbindung Australiens mit dem Mutterland, war im Lauf der Jahre zu einer Seefestung ersten Ranges ausgebaut worden. Es war der Schlüsselpunkt der englischen Vormachtstellung im Osten. Wenn jetzt Reginald Wegg . . .

Die Gedanken des Abtes wanderten zurück in seine Jugendzeit . . . nach England, dem Lande seiner Mutter, in dem er die erste Hälfte seines Lebens verbracht hatte. Zurück in die Zeit, da er als Weißer unter Weißen westliche Erziehung und Bildung genoß, als Weißer unter Weißen fühlte . . . Das Zukunftsbild, das er sich damals erträumte, unterschied sich in nichts von dem, was seine Kameraden erdachten, erstrebten. Alle seine Gefühle gingen zur westlichen Kultur, zu westlichen Menschen . . . Alle . . . auch sein Herz neigte einer Westländerin zu . . . der schönen blonden Evelyne . . . Auf dem Ball des Königs . . . geblendet, hingerissen von ihren verführerischen Reizen, offenbarte er ihr sein Herz . . . und dann – daß er nicht in Qual und Scham verging! – ihre spöttische Antwort: »Ich, die Tochter Sir Harrods und . . . ein gentleman of no good blood? . . . wohl ein Irrtum . . . ein unverständlicher Scherz . . .«

Das ihm! . . . Ihm, aus dem Geschlechte Batu Chans, des großen Feldherrn Dschingis Chans! . . . Noch immer klang ihm im Ohr das Gelächter der Gäste . . . Reginald Weggs . . . der hatte später Evelyne Harrod heimgeführt.

Der Abt ging zum Fenster, riß es auf, sog gierig die frische Luft in die hoch gehende Brust. Da fiel sein Blick auf die spiegelnden Scheiben. Was er da sah . . . sein Gesicht, verzerrt von Haß und Wut . . . er erschrak vor sich selbst. Vor dem Buddhabild in seinem Gemach warf er sich nieder, rang mit sich in langem Gebet. –

Als er sich wieder erhob war sein Gesicht wie aus Stein gehauen, die Augen wie früher kalt und hart. Er griff nach dem Zeitungsblatt. Die politischen Nachrichten bestätigten, wenn auch stark verklausuliert, was er schon wußte. Die Lage im Osten war und blieb gespannt trotz aller offiziösen Erklärungen. Alle Beteiligten setzten insgeheim ihre Rüstungen fort.

Ein Mann! . . . Ein Führer, der es verstand, sein Volk zu entflammen, alle Kräfte der gelben Rasse zusammenzuraffen, und der Krieg war da.

Der Mann! Der Führer! Hatte die gelbe Rasse wirklich keinen Kopf, der die Gunst der Lage richtig erkannte, der energisch genug war, die Beantwortung auf sich zu nehmen? . . . Mit vielen bedeutenden Männern Japans, Chinas, stand Turi Chan in regem Meinungsaustausch. Immer wieder hatte er diese Frage gestellt, nie die Antwort bekommen, die er suchte. –

Die Strahlen der Morgensonne mischten sich mit dem Licht, das aus des Abtes Zelle drang. Ein Dröhnen des Klopfers am Tor der Klostermauer riß ihn aus seinem Sinnen. Er trat an das Fenster und schaute hinunter.

Von Sifan geleitet kam ein Pilger über den Hof und wurde zum Gästehaus geführt. Der Abt öffnete das Fenster und hieß den Mönch zu ihm kommen.

»Wer schickt dich? Wen brachtest du?«

Sifan verneigte sich. »Der Abt von Tschaidam, Ehrwürdiger, gab mir den Befehl, den Pilger hierherzugeleiten.«

Turi Chan fragte erstaunt: »Wer ist der Pilger? Woher kommt er?«

»Aus dem Lande des Sonnenaufganges kommt er.«

In den Augen des Abtes zuckte es. Ein Pilger aus Japan? . . . Selten, daß sich einer auf so weite Fahrt begab. Wer war's? . . . Kein gewöhnlicher Mann konnte es sein, wenn der Abt Tschu Tschi ihm einen Mönch als Führer mitgab.

»Du kannst gehen. Sorge für den fremden Gast. Wenn er sich erfrischt hat, führe ihn zu mir.«

Sifan war gegangen. Der Abt schritt unruhig auf und ab. Seine Ungeduld wuchs immer mehr. –

Die Tür des Gästehauses öffnete sich. Sifan kam mit dem Fremden über den Hof und führte ihn in das Gemach des Abtes. Der Pilger warf sich vor dem Bilde Buddhas nieder, verharrte in kurzem Gebet. Neigte dann segenheischend das Knie vor dem Abt. In dessen Geist kreuzten sich blitzschnell tausend Gedanken, Erinnerungen. Dieser Kopf, diese Züge, wo hatte er sie schon gesehen?

»Jemitsu?« kam es leise zweifelnd aus seinem Munde. »Bist du es?«

Der hob den Kopf. »Ich bin es, Ehrwürdiger.«

»Du bist mir willkommen, Jemitsu. Was treibt dich zu solcher weiten Fahrt?« fragte Turi Chan stockend.

»Mein Geist ist krank in schwärenden Zweifeln, ehrwürdiger Vater. Man schied mich aus, bannte mich, weil ich zu Taten rief, nach denen mein Herz schreit. Ich will hier mich kasteien und ringen um Erleuchtung, und du, ehrwürdiger Vater, magst mir deinen erleuchteten Geist leihen, daß es mir gelingen möchte, die Probe vor den Göttern zu bestehen.« –

Lange blieben sie zusammen. Immer wieder warfen sie sich vor dem Buddhabild nieder, rangen in heißen Gebeten – und die Himmlischen schienen ihrem Flehen Gehör zu geben. Immer heller, stärker wurde ihr Geist. Immer mehr festigte sich in ihnen die Erkenntnis: es ist der Wille der Götter, die große Tat muß gewagt werden, sie wird gelingen. –

Stumm, erhobenen Hauptes, standen sie sich gegenüber, die Augen leuchtend in der Gewißheit des göttlichen Beistandes. Die Sonne ging unter, da begaben sie sich zur Ruhe. –

Der nächste Morgen sah sie im Gemach des Abtes in eifrigem Gespräch.

»Da ich die Erleuchtung gefunden habe, Turi Chan, will ich den schweren Weg gehen. Ich will zurückkehren in die Heimat, will kämpfen und leiden, daß ich sie aufrüttele, die Trägen, daß ich sie zwinge, die Blinden, die Widerstrebenden, eins zu werden mit mir, zu handeln, wie es die Götter wollen.«

»Nun, da ich sehe, daß du noch immer fest in deinem Glauben bist und entschlossen, nach dem Willen der himmlischen Mächte zu handeln, will ich dir mein großes Geheimnis enthüllen. Ich verschwieg es dir bisher, denn niemals solltest du später glauben, erst seine Kenntnis hätte dich zur Tat getrieben.«

Der Abt ging zu einem Schrank, nahm ein Buch heraus und legte es neben sich. Begann dann zu sprechen.

»In Irkutsk lebte ein deutschbaltischer Gelehrter, Algermissen. Er war überzeugt, daß das denkende menschliche Gehirn nichts anderes sei als ein elektrischer Sender, das mitfühlende Gehirn nichts anderes als ein elektrischer Empfänger. Viele Jahre arbeitete er daran, die natürliche Gedankenübertragung, wie sie wohl die meisten Menschen gelegentlich erleben, mit chemischen und physikalischen Mitteln zu verbessern.«

»Ich weiß, Turi Chan, daß die heiligen Lamas in deinem Lande die Kunst der natürlichen Gedankenübertragung üben und sogar weithin ihre Botschaften und Befehle senden. Auf dem Winde, wie ihr es nennt. Was du da sagst von diesem Gelehrten, der es verstanden haben soll, künstlich die Fähigkeiten zu erzeugen, setzt mich in Erstaunen.«

»Und doch ist es so, Jemitsu. Jene Gabe der heiligen Lamas ist nur wenigen gegeben und die Übertragung der Gedanken untereinander ist nur Eingeweihten möglich. Allgermissen aber hat viel Größeres erstrebt und erreicht. Und nicht genug damit. Größtes, höchstes Ziel hatte er vor Augen. Die ganze Menschheit wollte er sich untertänig machen durch seinen Willen. Da traten die Himmlischen schützend vor ihre Geschöpfe, straften den allzu Kühnen mit Wahnsinn, mit Tod.

Noch lange bin ich nicht in die letzten Tiefen seiner Erkenntnis eingedrungen. Aber selbst das Wenige, was ich jetzt schon habe, ist groß und gewaltig. Allgermissen fand seltene Gifte der Natur, welche die wunderbare Eigenschaft besitzen, die Wellenstrahlung des denkenden Gehirns zu vertausendfachen und ebenso seine Empfänglichkeit für fremde Wellen zu verstärken. Er muß Ähnliches auch auf anderem Wege gekonnt haben. Doch darüber läßt sich aus seinen Aufzeichnungen kaum noch Genaueres ersehen. Die Schrift ist durch eingedrungenes Wasser fast völlig zerstört. Nach langen Mühen habe ich es erreicht, mir einiges von der Kunst des Toten anzueignen. Ich habe diese zauberischen Pflanzengifte nach seinen Anweisungen dargestellt . . .«

Er stand auf, brachte aus dem Schrank zwei Kristallbüchsen, die weißes Pulver enthielten, und stellte sie auf den Tisch.

»Hier sind sie, Jemitsu. Ein Geringes davon in ein Getränk getan, hat die wunderbare Wirkung.«

»Was du da sprichst, Turi Chan . . . spräche es ein anderer, ich würde ihn für sinnverwirrt halten. Doch ehe du fortfährst, eine Frage . . . Wie kommst du zu diesen Aufzeichnungen?«

Der Abt berichtete, wie das Vermächtnis Allgermissens durch dessen Tochter in das Kloster gebracht wurde . . . Wie er die Aufzeichnungen fand und vor der Vernichtung rettete. Wie damals Sifan-Arngrim viele Tage mit dem Tode rang.

»Lange kämpfte ich mit mir, was ich tun solle. Bat die Himmlischen um Erleuchtung. Immer wieder sagte ich mir: ›Göttliche Fügung hat dir diese Aufzeichnungen in die Hand gegeben. Dein sollen sie sein!‹ Nun sage du, Jemitsu, war es recht, daß ich sie für mich . . . für uns behielt?«

»Du sagtest es, Turi Chan. Göttliche Fügung gab sie dir. Dein sollen sie bleiben . . . für uns sollen sie wirken.«

»Doch daß nie dich der geringste Zweifel befällt, Jemitsu, will ich dir die Kraft des Zaubermittels beweisen.«

Der Abt trug die Kristallbüchsen und das Buch zum Schrank zurück und klatschte in die Hände. Ein Mönch erschien.

»Bruder Sifan möge kommen!« –

Der trat ein. Der Abt lud ihn zum Sitzen ein.

»Höre, Sifan! Ich weiß, du bist der russischen Sprache mächtig. Fühlst du dich stark genug, weithin eine Reise zu machen nach Norden, nach Irkutsk?«

Der Mönch verneigte sich.

»Es gärt dort unter unseren Stammes- und Glaubensbrüdern, die von den Russen bedrückt werden. Mato Chan, der Befehlshaber der mongolischen Reiter, gehört zum Stabe des Gouverneurs. Er berichtet nach Lhasa über die russischen Pläne. Du wirst im Kloster Dazan beim Chambo Lama Aufnahme finden. Von dort wirst du die Berichte Mato Chans weitergeben . . . auch zu mir«, setzte er nach einer Pause hinzu.

Während der Abt sprach, war ein dienender Bruder eingetreten, der eine Kanne mit Tee und drei Becher auf einen Tisch neben der Tür stellte und die Becher füllte. Turi Chan hatte geendet. Jemitsu sprach mit Sifan über den Weg nach Norden. Der Abt ging zum Schrank, barg eine der beiden Kristallbüchsen in seiner Hand und verschloß ihn wieder. Hinter dem Rücken Sifans und Jemitsus tat er etwas aus der Büchse in einen der Becher und stellte die Becher dann so auf den Tisch, daß vor Sifan der zu stehen kam, in den er das Pulver getan hatte.

Während sie noch weiter über Sifans Reise sprachen, tranken sie den Tee. Dann sagte der Abt: »Übermorgen, Sifan, wirst du deine Reise antreten. Mögen die Götter dir zur Seite stehen! Du kannst dich schon heut zur Reise rüsten.«

Sifan war gegangen. Der Abt und Jemitsu überlegten, wie sie die Wirkung des Pulvers erproben könnten.

»Der Mönch, den ich wählte, der Bruder Sifan, ist ein Mensch von besonderer Art. Die Kraft seines Willens ist groß. Er vermag es, andere, schwächere, dem Zwange seines Willens zu beugen, sie sich untertänig, gehorsam zu machen bis zur Selbstvernichtung. Wenn ich ihn jetzt zwinge zu tun, was du willst, so beachte, daß du ihm nicht Aufgaben ungewöhnlicher Art stellst. Sonst würde er, wenn er sich später an das erinnert, was er durch unseren Willen getan hat, mißtrauisch werden.«

Der Abt tat von dem Pulver der anderen Kristallbüchse in seinen Becher und trank ihn aus. Nach einer kurzen Weile sagte er: »Jetzt sprich, was du von ihm zu sehen wünschest.«

Jemitsu überlegte kurz und sprach dann zum Abt: »Der Bruder Sifan soll auf den Hof kommen.«

Turi Chan schloß kurz die Augen, dachte angestrengt den Befehl. –

Bald darauf trat Sifan aus dem Klostergebäude und ging über den weiten Hof.

Wieder sprach Jemitsu zum Abt: »Er soll jenen Karren in den Schuppen schieben.« Im selben Augenblick griff Sifan den Karren und schob ihn unter ein Dach. Turi Chan schaute Jemitsu lächelnd an. Der nickte, seine Augen strahlten in sinnendem Glanz. Noch einige Male sprach er zu Turi Chan, worauf dann Sifan des Abtes Befehle ausführte. Es betraf immer gewöhnliche, einfache Dinge, wie sie das Leben der Mönche in Kloster mit sich bringt. –

Jemitsu schloß den Abt in die Arme.

»Das alles grenzt an das Wunderbare, Turi Chan! Daß du bereit bist, mir deine Zauberkraft zu leihen, mir im Kampf um die Seele der gelben Rasse zur Seite zu stehen, dafür will ich dir ewig danken. Diese Kunst, von den Himmlischen in unsere Hände gegeben, soll uns helfen, den Sieg über die Weißen zu erringen, neues Siedlungsland für unsere Völker zu bereiten. Schon während du mich eben die Proben deiner Kraft sehen ließest, dachte ich an die vielen Möglichkeiten, sie anzuwenden . . . bei Freund und bei Feind.

Wenn ich je Zweifel hatte ob ich recht täte, ob uns der Sieg sicher sein würde, jetzt sind sie verschwunden.« –

Turi Chan und Jemitsu wollten das Kloster verlassen. Mit gedämpfter Stimme sprachen sie davon, sich draußen an einsamem Platz über alle die Möglichkeiten zu unterhalten, die sich ihnen zur Ausführung ihrer Pläne boten, damit kein unberufenes Ohr auch nur ein Wort davon vernähme. Als sie sich dem Tor näherten, hatte der Pförtner es eben weit geöffnet. Eine große Schar von Pilgern drängte hindurch. Müde und hungrig strömten sie über den Hof.

Der Abt runzelte die Stirn und wandte sich zu Jemitsu:

»Du siehst, ich muß hierbleiben. Sie kommen von weit her, suchen Genesung von Krankheiten, Trost in ihren Zweifeln und Leiden . . . und es sind auch häufig wohlhabende Leute dabei, die dem Kloster reiche Spenden geben. Ich muß dich allein lassen. Du wirst in dieser Zeit überdenken, was von uns . . . von dir in nächster Zeit getan werden muß. Morgen früh werden wir uns wiedersehen, zusammen Rats pflegen und unsere letzten Entschlüsse fassen.« –

Der nächste Morgen kam, Jemitsu und Turi Chan hatten das Kloster verlassen. – Schlaflos, in grübelndem Nachdenken hatte Sifan die Nacht verbracht. So manches, was er gestern tun wollte, war ungetan geblieben . . . Sein Karren war wieder unter das Schuppendach geschoben . . . und er selbst hatte das getan . . . Warum? . . . Er hatte ihn doch kurz vorher auf den Hof geschafft, um dem Einsiedler da oben in den Bergen neue Lebensmittel zu bringen. Wie war er dazu gekommen, das zu unterlassen? . . . Was hatte er statt dessen getan? . . .

Immer wieder, wenn er an das alles zurückdachte, verwirrten sich seine Gedanken . . . Was war das gestern in dem Gemach des Abtes? Im Spiegel der Scheibe hatte er doch gesehen, wie der in einen der drei Becher aus einer Kristallflasche ein Pulver schüttete . . . ihm dann den Becher vorsetzte. Was sollte das bedeuten? Was war das für ein Pulver gewesen? Ein Rauschmittel? . . . Ein Betäubungsmittel? . . .

Ein Hirte kam und brachte Botschaft des Abtes an den Pförtner. Man solle ihm die bunte Karte, die auf seinem Tischchen läge, hinausbringen zu dem Felsen der Einsamkeit. Der Pförtner wandte sich an Sifan, der in Betrachtungen versunken neben dem Tore saß und hieß ihn des Abtes Befehl zu erfüllen.

Der ging in das Abtzimmer, griff die Karte und reichte sie dem Hirten durchs Fenster. Wandte sich dann zurück. Sein Blick hing an dem Schrank, aus dem der Abt die Kristallflasche genommen hatte, wanderte von da zu dem Buddhabild über dem Altar. Dorthin hatte Turi Chan den Schlüssel gelegt. Er trat näher an das Bild heran und sah den Schlüssel liegen.

Sollte, durfte er es wagen, den Schlüssel, der Buddhas Schutz anvertraut war, zu nehmen? Wider Recht und Gehorsam den Schrank zu öffnen? Seine Blicke gingen unruhig zwischen dem Schlüssel und dem Schrank hin und her. Es war ihm, als ob Stimmen ihm aus dem Schrank entgegentönten . . . verführerisch lockend, gebieterisch . . .

Langsam streckte sich seine Hand aus und faßte den Schlüssel. Einen Augenblick war's ihm, als griffe er glühendes Eisen. Dann ging er schnell zu dem Schrank und schloß ihn auf.

Das erste, was ihm ins Auge fiel, waren zwei Kristallbüchsen von verschiedener Form, in beiden weißes Pulver. Die breite, kantige war's gewesen, die der Abt herausgenommen hatte. Sifan öffnete sie nahm etwas von dem Pulver und steckte es zu sich. Ebenso tat er mit der anderen Büchse. Er wollte den Schrank schließen, da fiel sein Blick auf ein Blechkästchen.

Wie kam dieses einfache, dürftige Stück in das Gemach des Abtes, wo – sein Blick ging über das Zimmer – alle Gegenstände in schwerem, kostbarem Metall ausgeführt waren? . . . Da schrie es in ihm: Allgermissens Vermächtnis! Seine Hand ging danach . . . Was tust du? rief es in seinem Inneren. Unwillkürlich zuckte die Hand zurück . . . griff wieder zu. Er hatte das Kästchen, schlug den Deckel zurück.

Ein Zittern ging durch die Gestalt des Mönches. Seine Augen starrten auf das Papier, das da lag: »An Rochus Arngrim.«

In rasender Geschwindigkeit überflog er die Zeilen des Briefes. Seine Finger tasteten weiter, ergriffen das Bändchen, blätterten darin. Wo er hinblickte, die vertrauten Schriftzüge Allgermissens. Sein Hirn arbeitete mit äußerster Anstrengung, in kürzester Zeit zu erfassen, was da drin stand. –

Da dröhnte der Schlag des großen Gongs über den Hof. Er schreckte zusammen, wie einer, der beim Diebstahl ertappt wird, warf alles schnell in das Kästchen zurück und verschloß den Schrank. Wie trunken eilte er hinaus.

Das Kästchen! . . . Der hat es! . . . Mein Eigentum! Betäubt von der Überraschung, von der Flut der tausend Gedanken, die sein Hirn kreuzten, erreichte er seine Zelle und warf sich auf sein Lager nieder. Doch kaum, daß er sich hingelegt, sprang er wieder auf. Seine Hand glitt in die Tasche.

Dies Pulver war es, was der Abt ihm in den Tee geschüttet hatte. Er roch daran, kostete es mit der Zunge. In der kurzen Zeit, in der er in Allgermissens Aufzeichnungen geblättert hatte, war ihm einiges im Gedächtnis haften geblieben . . . Empfangsverstärkung durch das Pulver . . . bei Nahentfernung Verstärkung des Senders nicht nötig . . . Sender- und Empfängerverstärkung zur Fernübertragung . . .

Er hatte beide Pulver. Wozu lange überlegen? Eine Probe war ja leicht zu machen. Er schüttete von jenem Pulver, das der Abt ihm am Tage vorher in den Tee gemischt hatte, etwas in einen Becher Wasser und trank ihn aus. Dann legte er sich auf sein Lager zurück und wartete gespannt.

Nach einer Weile, in der er sich bemühte, eigene Gedanken gänzlich auszuschalten, begann es in seinem Kopf zu klingen und zu hallen. Viele Stimmen drangen zu ihm . . . jetzt unterschied er deutlich die Stimme des stummen Mönchs, der in der Zelle neben ihm auf dem Krankenbett lag . . . Da plötzlich . . . fast dröhnte es ihm im Hirn . . . die Stimme des Abtes . . .

Er wußte, der war mit seinem Gast aus dem Kloster gegangen, saß in diesem Augenblick mit dem am Felsen der Einsamkeit weit weg vom Kloster . . . Was dachte dessen Hirn, was strahlte es ins Weite . . . hierher bis zu ihm? Ganz unverständlich, unerklärlich schien es ihm zunächst. Endlich hatte er den Sinn erfaßt. Der Abt erprobte mit Jemitsu die Wirkung des Pulvers, das die Sendeenergie verstärkte. Mit Gewalt mußte Sifan sich zurückhalten, um nicht auch den Befehlen des Abtes an Jemitsu zu folgen, die zu ihm drangen.

Jetzt hörte er nichts mehr. Dann leise, kaum verständlich vernahm er die Stimme des Abtes. Was sprach der mit Jemitsu? Die Worte waren schwer zu deuten, denn nur des Abtes Stimme, nicht die Jemitsus hörte er. Lange lag Sifan in zermürbendem Mühen, den Inhalt dieser Unterredung zu verstehen.

Nun eine lange Pause, Jemitsu mochte wohl sprechen. Jetzt wieder die Stimme des Abtes. Und jetzt, wo der allein sprach, verstand Sifan auch den Sinn dessen, was die da draußen verhandelten . . . zurück nach Tokio fahren . . . die Regierung, die Minister . . . deine geistigen Sklaven . . . alles werden sie tun, was du willst. Der große Plan ausgeführt nach göttlichem Willen durch Jemitsu, den Diener der Götter . . . die Herrschaft der Angelsachsen gestürzt . . . Länder und Meere frei für die Söhne der aufgehenden Sonne . . . Australien das letzte Ziel. Die weiten menschenarmen, menschenleeren Gebiete Neuland für Millionen fleißiger Menschen gelber Rasse . . . die tausend Inseln mit den überalterten, aussterbenden farbigen Völkern bieten weitere Niederlassungen für viele Hunderttausende der Söhne des großen Nippon . . .

Wieder nach einer Pause klang Turi Chans Stimme. »Wir werden nach Peking fliegen, wo viele große, einflußreiche Männer schon längst unseren Plänen geneigt sind. Die anderen, die widerstreben, sich für Geld den Weißen verkauft haben, werde ich zwingen. Und dann nach Japan, deiner Heimat! Wir haben die Mittel, die Lauen und Feigen zu ermutigen, zu begeistern, das ganze Volk mit uns zu reißen, Männer zu schaffen, die Taten vollbringen. Dann werde ich zu den Ländern der sinkenden Sonne reisen und dort das Meinige tun.« –

Turi Chan und Jemitsu waren ins Kloster zurückgekommen. Der Abt ging in sein Gemach und zog die Karte hervor. Sie zeigte Japan und die umliegenden Meere und Länder. An verschiedenen Stellen waren farbige Punkte eingezeichnet. Er nahm den Schlüssel zum Wandschrank, schloß ihn auf und legte die Karte hinein. Da fiel sein Blick auf das Blechkästchen. Am Rande sah ein Stück Papier heraus. Unruhig, argwöhnisch öffnete er das Kästchen. Der Brief Allgermissens lag wie immer obenauf, doch war er so unordentlich gelegt, daß er sich im Rand des Deckels eingeklemmt hatte. Ein weiterer Blick auf die Kristallbüchsen, und Turi Chan war sofort überzeugt, daß fremde Hand sich an deren Inhalt zu schaffen gemacht hatte.

Er öffnete das Fenster, rief den Pförtner, sprach mit ihm. Dann gab er einem vorübergehenden Mönch den Auftrag, sofort den Pilger aus Japan zu ihm zu bitten.

Als Jemitsu eintrat, fand er Turi Chan in höchster Erregung. Das Gesicht erblaßt, in den dunklen Augen glommen rötlich-gelbe Flecke wie Feuerfunken. Er vergaß, Jemitsu zum Sitzen einzuladen, sprach hastig auf ihn ein:

»Wir sind verraten, Jemitsu! Der Mönch aus dem Lande des Sonnenunterganges, Sifan, ist, während wir fort waren, in diesem Raum gewesen. Er gab, wie der Pförtner sagte, dem Boten die Karte. Er hat es gewagt, was keiner unseres Blutes wagen würde, den Schlüssel aus dem heiligen Schoß Buddhas zu nehmen und diesen Schrank aufzuschließen.«

Jemitsu fuhr zurück. »Bist du sicher, ganz sicher, Turi Chan?«

»Ich bin es. Er hat das Blechkästchen geöffnet und weiß, was darin ist. Er hat auch von dem Inhalt dieser Büchsen genommen.«

»Du meinst? . . . Du fürchtest? . . .«

»Ich fürchte es. Zu kurze Zeit ist, an den Jahren gemessen, Sifan hier, um eins zu werden mit uns und unserem Fühlen und Denken, um zu vergessen, wes Blutes und Stammes er ist.«

»Was wirst du tun, Turi Chan? Unmöglich, daß . . .«

»Du sagst es Jemitsu. Unmöglich, daß der Mann noch länger lebt.«

»Wo ist Sifan?« drängte Jemitsu, »ist er geflohen?«

»Nein, Jemitsu. Er hat vor einer Stunde, wie ihm geheißen, den Weg nach Norden angetreten, nach Irkutsk. Wie lange er beabsichtigt ihn zu verfolgen, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er am Ende seiner Straße angekommen ist. In dieser Nacht noch soll es geschehen . . .«

Der Abt ging hinaus, trat aus der Klosterpforte und schlug den Weg zum Dorfe ein, das ein Stück weiter flußabwärts lag. Nach einer Weile kam er zurück.

»Wir können beruhigt abreisen, Jemitsu . . . morgen früh wird außer uns beiden niemand mehr um das Vermächtnis Allgermissens wissen.«

*


 << zurück weiter >>