Hans Dominik
Befehl aus dem Dunkel
Hans Dominik

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Der Brief, den Turi Chan ein paar Tage später von einem der Agenten, die Jemitsu nach Australien geschickt hatte, bekam, war für ihn sehr aufschlußreich und wichtig. Für jeden anderen mußte er so gut wie unverständlich sein. Auch der Agent, der ihn geschrieben, mochte sich über die wirkliche Bedeutung seiner Worte nicht klar gewesen sein. Doch er hatte den Befehl, bei seinen Beobachtungen über alles – auch über das, was ihm nicht verständlich erschien – zu berichten.

Insofern jedoch war der Bericht des Agenten falsch, als er darin schrieb, auch ein Herr Arngrim hätte sich während jenes Tages in Paulinenaue aufgehalten. Daß Arngrim erst spät zu Fuß von den Feldern her zu dem Hause gekommen war, hatte er nicht gesehen.

So stand jetzt Turi Chan vor einem doppelten Rätsel. Manche unerklärliche Erscheinung, die der Agent zu berichten wußte, würde er ohne weiteres mit Arngrim in Verbindung gebracht haben . . . er konnte ja nicht wissen, wie weit Arngrim hinter sein, Allgermissens, Geheimnis gekommen war . . . Aber wie waren dann die Vorkommnisse an Bord des »James Cook« zu erklären, wo doch Arngrim nicht zugegen war . . . oder sollte der vielleicht doch auch an Bord des Schiffes gewesen sein und sich, solange Turi Chan auf dem »James Cook« war, verborgen gehalten haben? Möglich war das ohne weiteres. Bei eingehender Nachforschung war es aber schließlich festzustellen . . . doch, wie es auch sein mochte, es wäre gut, sich Arngrims Person zu versichern.

Sobald er wieder in Japan war, würde er einen Plan entwerfen, um sich zweier Menschen zu entledigen, welche weniger Überlegung als Instinkt ihm gefährlich erscheinen ließ. –

Sein Aufenthalt in Wladiwostok ging zu Ende. Seine Aufgabe war erfüllt. Sie war schneller erledigt, als er gedacht hatte.

Die größte Schwierigkeit, zunächst einmal mit den höchsten militärischen Stellen in Berührung zu kommen, hatte ihm ein Zufall glücklich erleichtert. Als er sich auf der alten Karawanenstraße in seinem Auto der Stadt näherte, war er auf die Trümmer eines Kraftwagens gestoßen, der gegen einen Baum gerannt war. Der Chauffeur war tot. Die beiden Insassen, zwei höhere russische Offiziere, lagen bewußtlos unter den Trümmern des Wagens, doch waren sie, wie er feststellte, anscheinend nicht schwer verletzt. Seiner Erfahrung gelang es, die beiden zum Bewußtsein zu bringen und ihnen Verbände anzulegen.

In der Stadt angekommen, hatte er sie zu einem Militärlazarett gefahren, wo er dann hörte, daß es General Tjetnikow und sein Adjutant, Major Chlobujew, wären. Die beiden Offiziere hatten schon nach wenigen Tagen die Folgen des Unfalles überwunden und sprachen dem amerikanischen Kaufmann Mr. Bryan – auf diesen Namen lautete Turi Chans Paß – ihren Dank aus.

Einmal mit ihnen in persönliche Beziehung gekommen, verstand es Turi Chans weltgewandtes Wesen, verstärkt durch Allgermissens Pulver – und Gold, die Beziehungen zu festigen und zu erweitern. Schon nach wenigen Wochen waren viele einflußreiche Militärs so unter seinen Einfluß gekommen, daß es ein Zurück für sie nicht mehr gab.

Man wartete nur, daß die Freiwilligenarmee in der Mandschurei, in fester Hand vereinigt, über die Grenze ging, um die östlichen Garnisonen zum Anschluß an die Bewegung und damit zum Abfall von der russischen Zentralregierung zu bringen. Um sich persönlich von den Zuständen im Sungarigebiet zu überzeugen, nahm Turi Chan den Rückweg über die Mandschurei.

In Sansing stieß er auf Borodajew mit seinem Stab. Überall in Feld- und Waldlagern waren die Freiwilligen in größeren oder kleineren Abteilungen untergebracht. Wo man hinkam, wurde fleißig exerziert. Leider jedoch war die Ausbildung noch nicht gleichmäßig, weil die Bewaffnung und Ausrüstung für manche Truppenteile noch nicht vollständig war.

Immerhin stellte Turi Chan mit Befriedigung fest, daß ein guter Geist in der Truppe herrschte und die Führer mit Eifer und Begeisterung an ihre Aufgabe herangingen. Die großen Lastautos, die ununterbrochen die Straße am Sungari hinunterrollten, brachten Tag und Nacht das fehlende Material herbeigeschleppt. Nach einer längeren Unterredung mit Borodajew und Taratin konnte Turi Chan hoffen, daß in wenigen Wochen zwei kriegsstarke Divisionen fertig ausgerüstet zum Abmarsch bereitstehen würden.

Nach Schluß der Besprechung folgte Turi Chan dem General Borodajew in sein Quartier. Es war das Haus eines reichen Kaufmannes, der für gewinnbringende Heereslieferungen die unfreiwillige Räumung gern in Kauf nahm. Das reichlich geräumige Gebäude war vom Keller bis zum Dach gefüllt mit Militärs aller Grade.

In dem Privatzimmer Borodajews empfing Helene die Eintretenden. Unter Verzicht auf jede frauliche Eitelkeit trug sie einfache, schmucklose Kleidung. Doch die knapp anliegende Bluse, der faltige Reitrock ließen trotz des groben Militärstoffes die schönen Formen ihrer Gestalt erkennen und verliehen der ganzen Erscheinung einen eigenartigen Reiz.

Nach einer freundlichen Begrüßung begann Helene mit flinker Hand den Teetisch zu decken. Der General protestierte: »Eine Ordonnanz kann das ebensogut machen.«

»Nein, Alexei! Warum? In wenigen Wochen, wenn wir einmal in Feindesland sind, werden diese Hände gröbere, schlimmere Arbeit zu machen haben.«

»Nun, aber hoffentlich keine blutige, meine Gnädigste«, setzte Turi Chan hinzu, »oder . . .

»Mit dem ›oder‹ scheint Helene ziemlich sicher zu rechnen«, unterbrach ihn Borodajew. »Sie übt sich jedenfalls fleißig im Gebrauch von Gewehr und Revolver, das Maschinengewehr nicht zu vergessen.«

»Wie sagen Sie, Herr General? Sogar Maschinengewehr? . . . Wollen Sie wirklich, gnädige Frau, als Amazone in vorderster Linie mitkämpfen?«

»Ich möchte das zwar nicht so ganz von der Hand weisen, Turi Chan. Aber selbstverständlich würde ich es niemals gestatten«, erwiderte der General und legte den Arm um Helenes Schulter.

»Der Grund ist sehr einfach«, warf Helene ein, »ich habe mich, seitdem wir hier auf dem Festlande sind, von Major Petschnikoff, dem Chef unseres Flugwesens, als Pilotin ausbilden lassen. Im Flugzeug nutzen Gewehr und Revolver gar nichts. Es blieb mir also, um mich gegebenenfalls vom Flugzeug aus verteidigen zu können, nichts übrig, als auch die Handhabung des Maschinengewehrs zu erlernen . . . was ja nicht schwer ist, Mr. Turi.«

»Wirklich, meine Gnädigste?« sagte Turi Chan, »Wer hätte das gedacht, als ich Sie vor einigen Monaten als verwöhnte Weltdame in der Loge der Pariser Oper sah.«

»Dasselbe hörte ich schon von anderer Seite . . . General Borodajew nicht zu vergessen«, sagte Helene scherzend.

»Aber später, meine gnädigste Frau, wenn es heißt Tag und Nacht im Sattel zu sein, unter freiem Himmel zu kampieren, wird man sich denn nicht sehnsüchtig des schönen Paris erinnern?«

Helene verzog geringschätzig den Mund.

»Davon wird nie die Rede sein, Turi Chan. Wenn es nach mir ginge, würden wir schon morgen aufbrechen und die Grenze überschreiten. An der Seite Alexeis will ich gern alle Strapazen auf mich nehmen, allen Gefahren trotzen . . . Gewiß, manchmal kommt mir mein Leben hier wie ein Traum vor. Dann aber erscheint es mir wieder als die Erfüllung eines lange heimlich in mir schlummernden Wunsches, der endlich Wirklichkeit geworden ist.« –

Während sie am Teetisch saßen, versuchte Turi Chan, das Gespräch immer wieder nach Paris und Europa zurückzulenken, obgleich Helene nur Interesse für die Verhältnisse hier und die kommenden Ereignisse zeigte.

»Vermissen Sie wenigstens nicht die fehlende Verbindung mit Ihren Angehörigen, gnädige Frau?«

Helene machte eine gleichgültige Handbewegung. »Außer einer Schwester habe ich keine näheren Verwandten. Wir stehen gegenwärtig natürlich nicht in brieflicher Verbindung. Aber das läßt sich ja später nachholen. Immerhin haben Sie mich auf einen Gedanken gebracht, der sich wohl leicht ausführen läßt. Ich werde nachher einen Brief an meine Schwester schreiben und Ihnen zur Beförderung übergeben. Wie das am passendsten geschieht, werden Sie sicherlich besser wissen als ich. Ich möchte natürlich nicht meinen Aufenthalt hier bekanntgeben. Vielleicht empfiehlt es sich sogar, den Brief erst mit der Luftpost nach Frankreich gehen zu lassen und ihn von dort an meine Schwester zurückzusenden.«

»Zurück? Wie meinen Sie das, meine Gnädigste? Ist etwa Ihre Schwester . . .?«

»Ah, richtig, verzeihen Sie! Sie können ja nicht wissen, daß meine Schwester auch hier im Osten, in Singapore, ist.«

»In Singapore, gnädige Frau? Das setzt mich in Erstaunen. Darf ich wohl fragen, in welcher Eigenschaft die Dame dort ist?«

»Sie ist dort als Gesellschafterin bei der Lady Wegg, der Gattin des Gouverneurs.«

Turi Chan führte die Tasse zum Munde, um seine Überraschung zu verbergen.

»Oh . . . das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen . . . Schicksalsfügung . . . Übrigens . . . Sie haben doch wohl auch von der Explosion im Gouvernementsgebäude gehört, gnädige Frau?« setzte er nach einer Pause hinzu.

»Natürlich, Turi Chan«, warf Borodajew ein. »Wir haben uns zunächst stark beunruhigt. Wir bekamen aber vor einigen Tagen eine englische Zeitung in die Hand, in welcher der Vorfall eingehend geschildert war. Menschenleben sind ja dabei nicht verlorengegangen. Von den Urhebern des Attentats hat man anscheinend noch nichts entdeckt.«

»Vielleicht spielte da ein ähnlicher Zufall mit wie bei der Explosion des Kreuzers ›Brisbane‹«, meinte Helene mit einem bedeutsamen Blick zu Turi Chan.

Der zuckte mit ernstem Gesicht die Achseln. »Wer kann das alles wissen?«

»Hoffentlich wird meine Schwester unter den kommenden Ereignissen nicht direkt zu leiden haben«, meinte Helene nachdenklich.

»Aber, meine Gnädige, wir führen doch nicht mit Frauen Krieg! Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

»Ich möchte fast annehmen, daß meine Schwester Anne gar nicht mehr in Singapore ist. Möglich, daß ihr Verlobter, der in Australien wohnt, sie auf die Nachricht von dem Attentat von Singapore fortgeholt hat.«

»Ah, eine Überraschung! Der Verlobte Ihrer Schwester lebt in Australien? Wie doch das Schicksal die Menschen auseinanderreißt . . . wieder zusammenwürfelt. Ist es ein Deutscher oder ein Australier, gnädige Frau?«

»Es ist ein Deutscher, der vor kurzem erst dorthin gegangen ist. Er stammt auch aus unserer engeren Heimat, heißt Astenryk.«

Diesmal vermochte Turi Chan nicht sofort seine Überraschung zu verbergen. Als er sich wieder gefaßt hatte, fuhr er fort:

»Astenryk? . . . Der Name ist mir bekannt . . . ein Passagier dieses Namens war auf dem ›James Cook‹, auf dem ich vor längerer Zeit von Penang nach Singapore fuhr . . .«

»Das ist er sicherlich gewesen!« sagte Helene in lebhaftem Ton, »sind Sie persönlich mit ihm bekannt geworden?«

»Nein, gnädige Frau. Doch . . .«

Hier wurden sie in ihren Gespräch durch lautes Rufen auf der Straße unterbrochen. Ein Offizier kam in das Zimmer und meldete erregt, ein russischer Flieger kreise über Sansing. Im Nu waren sie aufgesprungen und eilten vor das Haus.

Mit fragenden Gesichtern schaute da alles zu Borodajew. Was würde geschehen? Würde man den Russen herunterschießen, oder . . .?

Turi Chan, der mit einem scharfen Glas den Flieger beobachtet hatte, flüsterte Borodajew ein paar schnelle Worte zu. Der nickte erfreut.

»Das ist eine angenehme Nachricht, Turi Chan. Aber warten wir ab, ob er wirklich die von Ihnen erwartete Botschaft abwirft.«

Der Flieger kreuzte jetzt über dem freien Feld vor der Stadt, das zu einem Exerzierplatz umgewandelt war, kam tiefer und tiefer. Da löste sich von seinem Rumpf ein bunter Ball, der auf den Platz niederfiel. Gleich darauf flog der Pilot nach Norden zurück. –

Borodajew und Turi Chan lasen mit unverhüllter Freude die Nachricht, die der Ball enthalten. So war das kaum Gehoffte wahr geworden. General Nostojew in Nikolajewsk hatte sich der Bewegung angeschlossen.

Mit dem Besitz dieser wichtigen Hafenstadt an der Mündung des Amur war wieder ein wesentliches Stück von Borodajews Plänen verwirklicht.

*

Zwei Wochen waren seit jener Unterredung zwischen Jan und Georg vergangen. Wie oft war Jan in dieser Zeit in das Laboratorium gekommen und hatte mit ängstlich forschenden Augen die Gläser mit den Kohlenstofflösungen betrachtet, aus denen die Steine sich kristallisieren sollten. Doch immer vergeblich.

Georg sah bei Jans häufigen Besuchen ein wenig belustigt, daß der anscheinend seine ganze Hoffnung auf die Gläser gesetzt hatte, in die kleine Steine als Kristallisationskerne eingelegt waren. Den anderen, mit neuen Lösungen beschickten Gläsern schenkte er gar keine Beachtung.

Und doch waren es gerade die, auf die Georg seine größten Hoffnungen gesetzt hatte. Dazu glaubte er allen Grund zu haben, da ein kleines Versuchsglas in verhältnismäßig kurzer Zeit schon gute Kristalle geliefert hatte. Um aber bei Jan keine Hoffnungen aufkommen zu lassen, die vielleicht – er wußte es ja selbst nicht genau – sich doch als trügerisch erweisen konnten, hatte er dem von dem kleinen Erfolg nichts gesagt. War doch trotz sorgfältigster Beachtung aller Momente des Kristallisationsprozesses mit so vielen Zufälligkeiten zu rechnen, daß die Proben der kleinen Versuchsgläser keinen zwingenden Beweis boten. Trotz dieser Unsicherheit waren seine Hoffnungen jedoch hoch gespannt. –

Wie man einen eventuellen Erfolg der Diamantensynthese ausnützen könne, war oft und eingehend besprochen worden. Jan hatte, wie ihm Georg geraten, in der Nähe der verlassenen Schürfstellen auf Alluvialboden erneut Claims belegt.

Um einen wirtschaftlichen Erfolg mit der künstlichen Diamantenherstellung zu erzielen, mußte man die Entdeckung der Synthese natürlich geheimhalten. Denn in demselben Augenblick, wo nach wissenschaftlicher Feststellung eine künstliche Herstellung möglich war, mußte ja zwangsläufig und gleichzeitig der Preis der natürlichen Steine, verglichen mit dem jetzigen Marktpreise, ins Ungemessene fallen.

Man mußte also zur Täuschung schreiten, so tun, als hätte man die Steine in diamanthaltiger Erde gefunden. Für das Gelingen dieser Täuschung war es äußerst günstig, daß auf Jans Grund und Boden schon früher, wenn auch mit geringem Erfolg, nach Diamanten geschürft war. So konnte man, über die Herkunft der Diamanten befragt, ohne weiteres Glauben finden, wenn man sagte, sie seien in der Nähe jener alten Schürfstellen als natürliche Steine aus der Erde gegraben worden.

Irgendein Betrug war ja rechtlich damit nicht verbunden, da die künstlichen Diamanten sich in nichts von den natürlichen unterschieden. Und doch fühlte Georg sich in seinem innersten Herzen nicht ganz frei von sittlichen Bedenken.

Wurden die Käufer dieser Steine auch zunächst einmal materiell nicht geschädigt, später, wenn die Synthese öffentlich bekanntwurde, mußten sie doch unter dem allgemeinen Preissturz mitleiden. Vielleicht, daß man auch vom ethischen Standpunkt aus eine intellektuelle Täuschung konstruieren konnte.

Doch, wie dem auch war, die Not, die Liebe zu Jan ließen Georg solche Gedanken beiseiteschieben.

Für den Fall, daß die Synthese gelänge, hatten sie verabredet, die gewonnenen Steine unter Beachtung der für die Diamantenfunde geltenden gesetzlichen Bestimmungen in der allgemein üblichen Weise zum Verkauf zu bringen. Über alle diese Dinge war Jan von früher her ja vollkommen orientiert.

Aber auch die Leute der Farm mußten in eine gewisse Täuschung versetzt werden. So waren denn Jan und Marian in der letzten Zeit sehr häufig nach jenem Bachlauf gegangen, wo die Diamanten »gefunden« werden sollten. Selbstverständlich hatten sie auch Handwerkszeug dort, mit dem sie den Boden aufrissen, um die Komödie möglichst natürlich zu spielen. Daß dies nach einiger Zeit den Angestellten der Farm auffallen mußte, war klar. Aber das schadete ja nichts, war im Gegenteil der Täuschungsabsicht günstig. –

Inzwischen wurde die Frist, in der Jan das Geld aufzubringen hatte, immer knapper. Seine Bemühungen, einen Geldgeber zu finden, waren erfolglos geblieben. Die immer größer werdende Nervosität Jans drohte auch auf Georg überzuspringen. Immer wieder stand er vor den Gläsern . . . zaudernd, zögernd. Sollte er vielleicht das eine oder andere entleeren, um nachzuschauen, was da vorgegangen? Von außen war ja in der tiefschwarzen Lösung nicht das geringste zu sehen. Immer wieder mußte er sich mit Gewalt zur Geduld zwingen.

Es würde vollkommen genügen, wenn noch im letzten Augenblick vor Ablauf der Frist die Synthese in einem einzigen Glase gelang. Denn schon allein die Tatsache, daß Jan im Besitz von Diamanten wäre, die er in seinen Claims gefunden, würde ja genügen, um ihm vorläufig Kredit zu geben. Die Versteuerung der Funde und die Verkaufsverhandlungen mit den zuständigen Stellen des Diamantensyndikats mußten natürlich eine längere Zeit in Anspruch nehmen, die aber nicht ins Gewicht fiel, wenn eben Jan seine Gläubiger auf die »gefundenen« Steine hinweisen konnte.

Je näher der Tag heranrückte, an dem Jan den Weg zur Bank nach Brisbane antreten mußte, desto gedrückter und unruhiger wurde bei allen die Stimmung. Um sich zu betäuben, hielt sich Jan fast den ganzen Tag in den Claims auf und arbeitete wie ein Rasender mit Hacke und Schaufel. –

Der letzte Tag war gekommen. Georg, von brennender Unruhe gefaßt, war in den Garten gegangen und lief rastlos durch die Gänge. Nach seinen Berechnungen und bisherigen Erfahrungen war es noch zu früh. Sollte er es doch darauf ankommen lassen und die Gläser entleeren? . . . Es blieb ihm ja nichts weiter übrig, er mußte ja.

Mit schwerem Herzen ging er wieder zum Haus zurück und stieg die Treppen empor. Im Labor war Marian an der Werkbank beschäftigt, einige Stahlstäbe zurechtzumachen, die er für ein Fenstergitter verwenden wollte.

Georg hatte gerade die Türklinke in die Hand genommen, da hörte er drinnen einer klingenden Schlag und gleich darauf ein Bersten und Splittern von Glas. Er riß die Tür auf und sah Marian dastehen, der erschreckt nach den Lösungsgläsern schaute, von denen eines zertrümmert war.

»Scheußliche Geschichte, Georg! Ich hatte eben den Stahlstab angefeilt und wollte ein Stück abhauen. Das flog ausgerechnet zu den Gläsern hinüber und . . . nun, du siehst es ja, da schwimmt die Brühe.«

Im nächsten Augenblick stand Georg neben den Glasscherben, warf sich über die Trümmer. –

»Da! Hier das Bodenstück!« Er hob es auf. Ein Jubelruf hallte durch das Laboratorium.

»Es ist gelungen! Hier sind sie!«

Marian fuhr unwillkürlich zurück, so blendete seine Augen der Glanz der schönen großen Steine, die ihm Georg entgegenstreckte.

Sie waren noch in der ersten Freude des Erfolges, als Jan müde verdrossenen Gesichts von den Claims zurückkam und in das Haus trat. Georg eilte auf den Treppenflur und rief nach unten.

»Mach schnell, alter Bursche! Hier ist etwas, was dich . . .«

In großen Sätzen kam Jan die Treppen hinaufgestürmt ins Laboratorium.

Einen Blick auf Georg. Er stürzte auf ihn zu. Fast riß er ihm die Steine aus der Hand.

»Ah! Endlich!« rang es sich von seinen Lippen. »Endlich! Das sind Dinger! . . . Die können sich sehen lassen! . . . Aber . . . einen Augenblick wich die Freude von seinem Gesicht, »ist das alles, Georg?«

»Nein, Jan! Das ist nur die Ausbeute aus einem Glas, das Marian eben mit glücklicher Hand zerschmettert hat.« Er erzählte ihm mit raschen Worten, wie es gekommen.

»Aber die anderen Gläser?« klang es besorgt aus Jans Mund, »wird es da ebenso sein?«

»Das dürfen wir ruhig annehmen. Die Lösungen sind dieselben.«

»Nun, dann aber los!«

Jan war zu den Gläsern getreten und nahm eins in die Hand. Georg sah lachend zu, wie er das Glas neigte und die Lösung in eine Schüssel goß.

»Ah! Hurra!«

Jans große massige Gestalt tanzte mit dem Glas im Arm jubelnd durch das Laboratorium. »Beinahe ebenso wie die hier. Es sind zwar weniger, aber die hier sind dafür um so schöner.« –

In kurzer Zeit waren alle Gläser geleert, und die Diamanten lagen in einem flachen Körbchen auf dem Tisch.

»Nun, Marian, habe ich nicht gehalten, was ich dir am Wilden Rain versprach? Du solltest einmal deine Hände in Diamanten baden. Jetzt kannst du es.« –

Jans Kraftwagen stand vor der Tür.

»Der große Festtrunk, mit dem wir diesen Tag eigentlich beschließen müßten, soll stattfinden, wenn ich wieder zurück bin. Jetzt heißt's, so schnell wie möglich nach Brisbane, um den Herren der Bank mit diesem Korb Diamanten ins Gesicht zu springen. Auch wenn der Wert der Steine gegen meine Erwartungen die zehntausend Pfund nicht erreichen sollte, so wird man bei ihrem Anblick doch sehr zahm und freundlich werden.«

Er stieg auf den Führersitz. Ein kurzes Winken, und der Wagen sauste fort. –

Drei Tage später war Jan wieder in Paulinenaue.

»Du hättest sie sehen sollen, Georg«, sagte er, während er mit vergnügtem Schmunzeln ein Glas Wein trank. »Diese Augen, als ich mit den Diamanten vor sie trat . . . wie sie da auf einmal so ungemein liebenswürdig, sogar herzlich zu mir wurden. Unaufhörlich lagen sie mir in den Ohren, eine Kompanie zu gründen zur Ausnutzung dieser wunderbaren Claims. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr vor den mit jeder Viertelstunde günstiger werdenden Vorschlägen retten. Mußte Ausflüchte machen, lügen, daß sich die Balken bogen, um wegzukommen.

Aber glaube nur nicht, daß wir damit alle derartigen Angebote für immer los sind. Laß erst mal die »Funde« allgemein bekanntwerden, dann werden sie von allen Seiten ankommen, um uns die Sorge um die schönen Claims möglichst zu erleichtern. Verdient hätten es ja diese Aasgeier, mal ordentlich aufzusitzen. Aber das wäre ja denn doch letzten Endes Betrug.

Doch halt! Sag, Georg, hast du denn nun nicht gleich an deine Anne telegraphiert daß sie herkommen soll? Jetzt hast du es doch endlich geschafft, auf eigenen Füßen zu stehen, um dann ›die Geliebte in das traute Heim zu führen‹, wie es so schön in den alten Romanen hieß.«

»Telegraphiert habe ich zwar nicht, Jan. Ich habe ihr aber einen Brief geschrieben, der mit der Luftpost ging. Von den künstlichen Diamanten sagte ich natürlich nichts. Aber ich ließ Anne nicht im Zweifel, daß ich über die nötigen Mittel verfüge und bat sie zu kommen, sobald sie sich frei machen könne.« –

Als sie sich spät am Abend getrennt hatten, ging Georg, ehe er sein Schlafzimmer aufsuchte, noch einmal wie immer in das Laboratorium. Mit Befriedigung glitt sein Blick über die Batterien und die Belastungslampen, die in hellem Lichte strahlten. Dann flog sein Auge über die Meßinstrumente und Tabellen.

». . . Hier achtundachtzig . . . da neunzig . . . hier sogar zweiundneunzig Prozent Ausnutzung der Kohlenenergie . . . wenn ich heute damit an die Öffentlichkeit träte, würde ich materiell zweifellos alles erreicht haben. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft würden auch zunächst einmal dieselben sein wie bei einer hundertprozentigen Ausnutzung . . . Aber wie lange würde das dauern? . . . Unverzüglich würden sich Tausende von Erfindern, Gelehrten daranmachen, auf meiner Arbeit fußend, höhere Prozente und schließlich vielleicht gar das Maximum, das theoretisch zwischen achtundneunzig und hundert Prozent liegt, zu erreichen.

. . . Ein solcher Erfolg, mit dem nötigen Reklame- und Pressegeschrei aufgemacht, von der betreffenden Regierung tatkräftig propagiert, würde gar mich und meine Arbeiten in den Hintergrund drängen. Es heißt also weiterarbeiten, bis ich das erreiche, was nach menschlichem Ermessen zu erreichen ist.«

*

Die Nachricht von den neuen Diamantenfunden hatte sich mit Blitzesschnelle im Lande verbreitet. Georgetown wurde wieder einmal ein vielgenannter Name. Von allen Seiten strömten Diamantenschürfer, Abenteurer in der Stadt zusammen. Ein reges Leben und Treiben herrschte in Georgetown. Claims wurden belegt, Lebensmittel und Werkzeuge gekauft. Ein neues Schürfen begann.

Nur diejenigen, welche durch die Mißerfolge von früher gewitzigt waren, blieben von dem Diamantenfieber verschont. Und sie sollten recht behalten.

Die gewerbsmäßigen Prospektoren, die mit großen Hoffnungen herbeigeeilt waren, machten bald trübe Gesichter. Nicht lange, dann waren sich die meisten darüber einig, daß Jan Valverde seine reichen Funde nur einem außergewöhnlichen Glückszufall zu verdanken habe. In dem Alluvial des Kingsonbaches mochten hier und da mehr oder weniger reiche Diamantennester zusammengeschwemmt sein. Der Bach floß, soweit er von Alluvialboden umgeben war, durch Jan Valverdes Besitz. Die anschließenden Gebiete kamen für lohnende Funde nicht in Betracht, wie die früheren Schürfungen schon bewiesen hatten.

So verlief sich bald wieder die Masse der Zugewanderten. Nur ein kleiner Rest, der mit dem letzten Pfennig nach Georgetown gekommen war, trieb sich, zum Leidwesen der Bewohner, noch in und um Georgetown herum. Die Eisengitter, die Marian zur Sicherung vor diesem Gesindel schon längst in Arbeit hatte, waren bedauerlicherweise erst zum Teil fertig. Er hatte viel in den »Claims« zu tun, wo mit allerlei Täuschungsmanövern noch eine Zeitlang der Anschein aufrechterhalten werden sollte, daß man weiter grabe und Diamanten finde.

Marian war bewunderungswürdig in der Erfindung von Tricks, um die Farmarbeiter, die man herangezogen hatte, hinters Licht zu führen. Mit Vorliebe bohrte er ungesehen Löcher in die Erde, in die er dann kleine, wenig wertvolle Steine tat. Bei den Abraumarbeiten wurden diese dann von den Leuten gefunden und, soweit sie nicht unter Marians verzeihenden Augen in den Taschen verschwanden, abgeliefert. –

Auch im Hause Mustertons sprach man viel über das Glück von Jan Valverde. Lydia Algermissen dachte mit besonderem Vergnügen daran. Sie hatte von Georg einen schönen Stein als Geschenk erhalten. Man hatte sich im Hause Mustertons darüber einigermaßen gewundert, war doch Lydia nur wenig mit Georg Astenryk in Berührung gekommen. Besonders Arngrim war es, der sich öfters vergeblich fragte, warum wohl Georg Lydia dies ebenso kostbare wie seltsame Geschenk gemacht habe.

Georg selbst dachte jetzt fast ähnlich. Als er Lydia den Stein schenkte, hatte er einem plötzlichen Impuls nachgegeben. Sie war mit Dr. Musterton zu einem Besuch nach Paulinenaue gekommen, als ihm gerade ein schöner Versuch mit dem Verstärker gelungen war. In dem Gedanken, daß er all dies schließlich doch nur Algermissen, Lydias Vater, verdanke, hatte er ihr in einer schnellen Aufwallung den Stein verehrt.

Als Lydia später voller Freude Arngrim den Diamanten zeigte, gab es dem einen Stich ins Herz. Sein erster Gedanke war, daß Georg eine starke Zuneigung zu Lydia empfände . . . Doch konnte das sein? . . . Georg war doch mit Anne Escheloh verlobt . . . aber trotzdem! Sooft er den Stein sah, immer wieder die leise eifersüchtige Regung, zwischen Georg und Lydia bestände ein geheimes Einverständnis . . .

In peinigenden Zweifeln zergrübelte er sein Herz. Durfte er überhaupt daran denken, um die an Jahren viel jüngere Lydia zu werben? Und dann . . . die andere, noch schwerere Frage . . . konnte er auf Lydias Gegenliebe rechnen?

In allem, was er tat und sprach, verhehlte er nie, daß sie ihm teurer war als alles andere. Lydia bewahrte ihm gegenüber immer die gleiche Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit, aber niemals glaubte er bemerkt zu haben, daß sie eine wärmere Zuneigung zu ihm empfände.

In rastloser Tätigkeit suchte er sich von den quälenden Gedanken zu befreien. Arbeit gab es Gott sei Dank genug. Während Dr. Musterton es in der Hauptsache übernommen hatte, die Versuchsfelder unter steter Aufsicht zu halten, war ihm die Errichtung und Betreuung des großen Pflanzengartens, der sich an das Haus anschloß, übertragen worden. Diesen Arbeiten widmete er sich mit einem solchen Eifer, daß Musterton Lydia gegenüber nicht genug Worte des Lobes für ihn fand.

Dem war die Neigung Arngrims zu Lydia nicht verborgen geblieben, und er hätte es gern gesehen, wenn er auch bei Lydia Anzeichen von einer Liebe zu Arngrim gefunden hätte. Doch vergeblich suchte er in seinen Gesprächen mit ihr irgendwelche Zeichen einer Gegenliebe zu entdecken. –

Man saß heute etwas länger am Teetisch, Dr. Musterton hatte die neuen beunruhigenden Nachrichten von der russisch-mandschurischen Grenze vorgelesen. Die ewigen Plänkeleien dort nahmen in der letzten Zeit einen immer schärferen Charakter an. Sie beschränkten sich nicht mehr auf kleine Schießereien zwischen den Grenzwachen, sondern nahmen durch das Eingreifen regulärer Truppen allmählich einen bedrohlichen Umfang an. Auch die internationale Presse, stark beunruhigt, sprach bereits von einem latenten Kriegszustand an der Grenze. –

Lydia hörte dem Gespräch Mustertons und Arngrims interessiert zu. Jetzt, als die Dämmerung ins Zimmer fiel, erinnerte sie sich, daß sie noch in die Stadt müsse, um eine Besorgung zu machen. Musterton, der Lydia nicht gern den Weg bei Dunkelheit allein machen ließ, bat Arngrim, sie zu begleiten. Der nahm, wie immer, gern die Gelegenheit wahr, mit Lydia in die Stadt zu gehen. –

Sie hatten ihren Einkauf erledigt und schlugen den Rückweg zu dem Institut ein. Der Weg war außerhalb der Stadt in einem sehr mangelhaften Zustand. Nachdem Lydia auf der holprigen, schlecht erleuchteten Straße ein paarmal ausgeglitten war, schob sie ihren Arm unter den Arngrims und sagte scherzend: »Wozu hat denn ein schwaches Wesen wie ich einen Ritter ohne Furcht und Tadel neben sich, wenn sie sich nicht in solchen Gefahren seiner als Stütze und Stab bedienen sollte?«

Arngrim durchzitterte es glühend, als sie sich so vertrauensvoll an ihn lehnte. Unwillkürlich drückte er ihren Arm fester an sich. In seinem Herzen wallte es heiß auf . . . sollte er jetzt sprechen? . . . Durfte er vielleicht ihr Wort und Tun so auffassen, wie es sein tiefster Wunsch war? . . .

Seine Gedanken überstürzten sich . . . dann . . . war's ihm, als fiele ein kalter Reif auf seine Seele, als lege sich ein Panzer aus Eis um sein Herz . . . nichts dachte, fühlte er mehr von Lydias Nähe. Ein anderer, stärkerer, furchtbarer Geist war über ihn gekommen, der ihn zwang, alles um sich herum zu vergessen . . . sich sklavisch zu beugen einem fremden Willen.

Auch Lydia . . . wie hätte Arngrim gejubelt, wenn er noch eben in ihr Herz hätte sehen können . . . auch Lydia war es, als versänke ein schöner, seliger Traum plötzlich in Bangen und Angst. Willenlos machte sie mechanisch ihre Schritt neben denen Arngrims . . . fühlte es kaum, wie der jetzt stehenblieb, sich von ihrem Arm frei machte . . . sich umwandte, zur Stadt zurückging . . .

In ihrer hilflosen Verwirrung, in ihrer geistigen Betäubtheit hatte sie kaum des Mannes geachtet, der ihnen bisher unbemerkt gefolgt war und jetzt neben Arngrim ging . . .

Sie kam nach Hause, kam in Mustertons Zimmer. Der erschrak, als er sie ansah.

»Was ist dir, Lydia, was ist geschehen? Wo ist Arngrim?«

Bei dem Worte Arngrim zuckte sie zusammen, schaute ihn einen Augenblick starr an, brach in lautes Weinen aus. Musterton wollte beruhigend den Arm um sie legen, da brach sie zusammen und fiel in eine tiefe Ohnmacht. –

Kurze Zeit später stand der Arzt an Lydias Lager. Was Musterton dem berichtete, konnte ihm natürlich nicht den geringsten Anhaltspunkt darüber geben, was mit dem jungen Mädchen vorgegangen war. Daß eine schwere Nervenerschütterung vorlag, war klar erkennbar. Da aber Lydia bisher kein Wort gesprochen hatte – Arngrim war immer noch nicht zurückgekehrt – standen beide Männer vor einem Rätsel.

Die einzige Erklärung, die Musterton schließlich fand, war die, daß vielleicht Arngrim ihr seine Liebe erklärt und sie ihn abgewiesen hätte. Möglich, daß sich dann ein etwas stürmischer Auftritt angeschlossen hatte. Aber mochte vorgefallen sein, was wollte, niemals würde Arngrim so unritterlich gehandelt haben, Lydia nicht nach Hause zu geleiten. Wo blieb er?

Für alle Fälle rief Musterton die Polizeiverwaltung an und bat um eventuelle Nachforschung. –

Die Nacht war vergangen. Musterton, der sie am Bett Lydias verbracht hatte, ließ sich von der Haushälterin ablösen. Auf einen erneuten Anruf bei der Polizei erhielt er die Antwort, daß man bisher keine Spur von Rochus Arngrim gefunden hätte. –

Mehrere Tage und Nächte lag Lydia in wirren Fieberträumen. Nur das eine konnte Musterton immer wieder zu seinem Erstaunen feststellen, daß sie eine heiße Liebe zu Arngrim im Herzen trug. Was sie im Fieber sprach, entzog sich jedem Verständnis. Bald schien es, als habe Arngrim sie von sich gestoßen, bald wieder, als habe ein fremder, finsterer Mann ihn mit Gewalt von ihr gerissen . . .

Dieser Mann . . . wer konnte das sein? Daß er nicht nur in den Fieberträumen Lydias existierte, hatte sich am nächsten Tage herausgestellt. Zwei Personen hatten auf der Polizei ausgesagt, daß sie Rochus Arngrim in Begleitung eines Fremden zu einem Kraftwagen hätten gehen sehen. Das Auto sei dann nach Süden fortgefahren.

Auch nach Paulinenaue kam die Nachricht von Lydias Krankheit und Arngrims rätselhaftem Verschwinden. Georg begab sich nach Georgetown, um Musterton aufzusuchen. Lydia selbst konnte er noch nicht sprechen. Sie war zwar wieder zum Bewußtsein gekommen, aber noch so schwach, daß nicht einmal Musterton es wagen konnte, mit ihr über die geheimnisvollen Vorgänge an jenem Abend zu sprechen.

Mit großer Teilnahme und Spannung hörte Georg Mustertons Erzählung. Der wunderte sich, daß Georg soviel Interesse für die doch ganz unverständlichen Fieberreden Lydias bekundete, fragte aber nicht nach dem Grunde. –

Nachdem Georg sich von Musterton verabschiedet, begab er sich zur Polizeiverwaltung und ließ sich dort die Aussage der beiden Zeugen vorlegen, welche Arngrim zusammen mit dem Fremden gesehen hatten. Wie erwartet, hatten die Zeugen eine ungefähre Beschreibung dieses Mannes zu Protokoll gegeben. Das las er mehrmals sehr genau durch. Als er fortging, war es für ihn ziemlich gewiß, daß jener Mann Turi Chan gewesen sein müsse.

Wohin hatte der Arngrim gebracht? Was hatte er mit ihm vor? Tausend Gedanken gingen Georg durch den Kopf. Die Erinnerung an das Schicksal von Robert Roux tauchte immer wieder in ihm auf. Er beschloß, um sich mehr Gewißheit darüber zu verschaffen, daß er keinen falschen Verdacht hege, alles, was er von Musterton gehört hatte, mit Marian zu besprechen . . . wie der darüber denke.

Zu Hause angekommen, berichtete er Marian alles so, wie es Dr. Musterton ihm gesagt hatte. Kaum, daß er geendet, sagte Marian: »Das war Turi Chans Werk.«

Georg nickte nur. Eine Zeitlang saßen sie in grübelndem Nachdenken, was man wohl tun könne. Doch nirgends zeigte sich ein Weg, wie man Turi Chans und Arngrims Spur folgen könne.

»Ich sehe eine Möglichkeit!« Georg sprang auf, griff den Telephonhörer und bat um eine Verbindung mit Major Dale in Canberra. –

Es war eine sehr erregte Unterredung zwischen Georg und Dale. Dann, nachdem Dale so gut wie möglich informiert war, schloß er das Gespräch, er werde alles tun, um von Regierungsseite aus den Aufenthalt Turi Chans und Arngrims festzustellen. –

Aber immer wieder blieb die Frage: Was hatte Arngrim mit Turi Chan zu tun? Welches Interesse hatte Turi Chan, Arngrim mit sich zu nehmen? Zweifellos mußten sie doch früher in Beziehungen gestanden haben. Wahrscheinlich mußten sie sich irgendwie in Asien kennengelernt haben.

In seinem Sinnen wurde Georg von Marian unterbrochen.

»Mir ist es, Georg, als wenn Arngrim in seinen Erzählungen aus seiner Klosterzeit auch einmal den Namen des Klosterabtes genannt hätte. Ich meine jetzt bestimmt, daß es der Name Turi Chan gewesen ist.«

Georg horchte auf.

»Ich selbst kann mich nicht daran erinnern, Marian. Aber wenn es so ist, wie du sagst, dann sind wir, glaube ich, diesen rätselhaften Zusammenhängen ein großes Stück nähergekommen. Auf jeden Fall werde ich einmal Musterton beiläufig danach fragen.«

*

Eine Woche vor diesen Ereignissen war in Numea auf Neukaledonien bei der Verwaltung der Strafkolonie ein Herr erschienen, der den Chefdirektor zu sprechen wünschte. Vor Direktor Rabaud geführt, stellte sich der Fremde als ein Herr Crouzard aus Paris vor.

Schon nach den ersten Sätzen, die aus dem Munde Crouzards kamen, glaubte Rabaud, einen Verrückten vor sich zu haben. Dieser Fremde wollte einen der Deportierten, der zwei Eigenschaften besitzen mußte – nämlich Chemiker und gewandter Einbrecher zu sein – geliehen haben – geliehen!

Rabaud änderte jedoch seine Meinung, je länger der merkwürdige Fremde sprach. Als der schließlich geendet hatte, schüttelte der Direktor immer wieder lachend den Kopf.

»Das ist allerdings ein tolles Stückchen, was Sie da vorhaben, Herr Crouzard. Indes . . . wir leben jetzt gerade in der heißen Jahreszeit . . . Ihr Kopf könnte ein wenig unter der tropischen Hitze gelitten haben . . . Sie werden mir wohl gestatten, daß ich mich vorher genau in Paris über alles das informiere, was Sie mir da erzählten.«

»Aber gewiß, Herr Direktor. Ich werde Ihnen die Namen und Adressen, an die Sie sich zu wenden hätten, sofort aufschreiben. Die Adresse des Herrn Ministers Duroy ist Ihnen ja bekannt. Es dürfte sich aber vielleicht empfehlen, während Sie mit Paris verhandeln, immer schon nach einem geeigneten Subjekt unter den Sträflingen suchen zu lassen.«

»Das will ich gern tun«, sagte Rabaud. »Ich nehme an, daß Sie sich hier in Numea einlogiert haben. Sobald ich die nötigen Auskünfte eingezogen habe, werde ich Sie wieder zu mir bitten. Ich habe da gegebenenfalls eine Nummer sechstausendvierhundertneunzig, die für Ihre Zwecke passen würde. Also warten wir ab!« –

Zwei Tage später erhob sich vom Flugplatz in Numea ein Privatflugzeug, in dem außer dem Piloten zwei Herren saßen. Der eine war Herr Crouzard, der andere Nummer 6490, jetzt wieder Herr Dr. Anatole Dufferand. Beide befanden sich in einer interessanten, angeregten Unterhaltung. Ein besonderer Unterschied zwischen ihnen bestand auch nicht. Die Taten des Herrn Crouzard gaben denen des Herrn Dr. Dufferand an Gesetzwidrigkeit nicht viel nach. Der Unterschied war nur der, daß Herrn Crouzards ungesetzliches Tun sozusagen konzessioniert war, während Herr Dufferand, ohne solche glückliche Protektion, für sein Tun mit aller Schärfe des Gesetzes bestraft worden war.

Dr. Dufferand war Angestellter in einer großen chemischen Fabrik gewesen. Ein paar gestohlene Platintiegel gaben den Grund zu seiner Entlassung und gleichzeitig zur ersten Bekanntschaft mit dem Gefängnis. Einmal auf die schiefe Ebene geraten, hatte er sich im Laufe der Jahre in allen möglichen Branchen des Pariser Verbrechertums betätigt. Er war also für Crouzard ein durchaus geeignetes Subjekt. Hinzu kam noch, daß er von den zehn Jahren Deportation bereits neun verbüßt hatte, so daß man das fehlende Jahr unter diesen Umständen leicht nachsehen konnte. –

In Brisbane ließ Crouzard sein Flugzeug zurück und fuhr nach Erledigung einiger Einkäufe in einem selbstgesteuerten Mietwagen mit Dufferand nach Westen weiter.

Ohne Georgetown zu berühren, kamen sie kurz vor Einbruch der Dunkelheit in der Gegend von Paulinenaue an. Crouzard fuhr den Wagen in ein Gehölz, in der Nähe der Straße und ging, von Dufferand begleitet, im Schutz des großen, parkartigen Gartens bis in die Nähe des Hauses. Mit Hilfe eines guten Nachtglases konnte er Dufferand das Wohngebäude und die Lage der Zimmer genau zeigen.

Der Raum, auf den es allein ankam, das Laboratorium Georgs, war ein Eckzimmer im Obergeschoß an der Ostseite des Hauses. Vor Jahren war es nur eine große Veranda, von der man auf einer Eisentreppe direkt zum Garten hinuntergehen konnte. Später wurde der Raum zu einem geschlossenen Zimmer ausgebaut. Die Treppe zum Garten blieb stehen, obgleich sie nur sehr selten benutzt wurde. Seitdem Georg hier sein Laboratorium eingerichtet hatte, war die Treppentür von innen mit Schloß und Riegel ständig gut verwahrt. –

Nach stundenlangem Warten sahen sie endlich das letzte Licht im Haus erlöschen. Eine Weile verhielten sie sich noch ruhig, bis wohl alles in tiefem Schlaf lag. Dann traf Dufferand seine letzten Vorbereitungen. Mit vergnügter Kennermiene betrachtete er das neue schimmernde Werkzeug, das Crouzard in Brisbane für ihn gekauft hatte. Erst als er die gewohnten Instrumente wieder in seinen Händen fühlte, schien ihm endlich Wirklichkeit zu werden, was er bisher immer noch für einen Traum gehalten hatte. Der Einbruch hier . . . gewiß eine ganz einfache Sache. Das Stehlen von Proben der Elektrolyte . . . eine Kleinigkeit . . . und dafür eine hohe Belohnung . . . Erlaß des letzten Jahres seiner Deportation . . . ein besseres Geschäft glaubte Dufferand nie gemacht zu haben.

Ehe sie sich trennten, wies Crouzard noch in die Richtung des Gehölzes, wo der Wagen stand. »Daß Sie mir nur nicht in der Dunkelheit den Weg verlieren und nachher, mit dem Zeug in der Tasche, auf den Feldern umherirren. Ich gehe jetzt zu dem Wagen, mache ihn startbereit und warte auf Sie.«

Noch nie in seinem Leben hatte sich Herr Dufferand mit soviel Vergnügen an einen Einbruch gemacht wie hier. Das Bewußtsein, eine Probe von seinen Kenntnissen als Einbrecher sowohl wie als Chemiker geben zu können, versetzte ihn in eine sehr gehobene Stimmung. –

Schloß und Riegel an der Treppentür waren bald aufgebrochen. Im Laboratorium betrachtete er mit großem Interesse die dort aufgestellten Kohlenbatterien. Nach einigem Suchen hatte er diejenige, welche den höchsten Wirkungsgrad aufwies, gefunden. Rasch zog er aus einer Handtasche mehrere Fläschchen und füllte sie aus den Batteriegläsern mittels einer Pipette. Dann verschloß er die mit den Elektrolytproben gefüllten Fläschchen sorgfältig und tat sie wieder in die Ledertasche.

Vorsichtig stieg er die eiserne Treppe hinunter und schritt in der Richtung auf das Gehölz zu, das ungefähr dreihundert Meter vom Hause entfernt lag.

Er näherte sich gerade dem Zaun, der den Garten von den Feldern trennte, da fühlte er sich plötzlich gepackt. Drei Männer warfen sich über ihn. Im Nu war er geknebelt und gefesselt. Eine Binde wurde ihm über die Augen gelegt. Die Überraschung war für ihn so groß, daß er zunächst kaum merkte, was mit ihm weiter geschah. Er fühlte nur, daß man ihn aus dem Garten trug.

Ein Kraftwagen, der auf der großen Landstraße mit abgeblendeten Lichtern stand, kam herbeigerollt, Dufferand wurde hineingehoben. Die drei anderen stiegen zu ihm. Dann fuhr der Wagen mit großer Geschwindigkeit auf der Straße in der Richtung nach Osten fort. –

Sie waren wohl eine Stunde gefahren, da hielt das Auto plötzlich an. Neben ihm auf der Straße stand ein großer, schwerer Wagen, dessen Inneres hell erleuchtet war. Der einzige Insasse, ein elegant gekleideter Herr, stieg aus und trat auf den Wagen Dufferands zu.

»Habt ihr ihn?« fragte er mit gespannt verhaltener Stimme.

Gleichzeitig ließ er eine Taschenlampe aufflammen und leuchtete Dufferand ins Gesicht.

»Was ist das?« rief er in wütender Enttäuschung. Mit schnellem Griff riß er Dufferand die Binde von den Augen. »Schafsköpfe ihr! Ihr habt einen Falschen gegriffen. Werft ihn hinaus! Fort mit euch!«

Dufferand fühlte sich in die Höhe gehoben und in großem Schwung im Straßengraben landen. Der Sturz war so heftig, daß er die Besinnung verlor und erst wieder zu sich kam, als die Sonne am Himmel stand. –

Das einzige handgreifliche Ergebnis dieser Crouzardschen Expedition war, daß man eine geraume Zeit später in Paris wußte, wie nahe Georg Astenryk dem Ziel seiner Arbeiten gekommen war.

Wie das zunächst so glücklich verlaufene Unternehmen ein so unerwartet schlechtes Ende gefunden hatte, war und blieb für alle, die von der Sache wußten, ein großes Rätsel. Daß von anderer Seite zu gleicher Zeit das gleiche Unternehmen geplant worden sei, widersprach jeder Wahrscheinlichkeit. Wer waren aber die Leute, die Dufferand irrtümlich überfallen hatten? Wem hatte in Wirklichkeit der Überfall gegolten? –

Auch Georg und die übrigen Bewohner von Paulinenaue suchten sich vergeblich von dem, was hier in der Nacht vorgegangen war, ein klares Bild zu machen. Fest stand, daß die Treppentür zum Laboratorium erbrochen war. Ebenso war es außer Zweifel, daß der Einbruch geschehen war, um sich in den Besitz von Proben der Batterielösungen zu setzen. Die im Garten gefundene Handtasche Dufferands mit den Probefläschchen gab ja den untrüglichen Beweis. Was aber dann weiter geschehen, das war trotz scharfsinnigster Überlegung nicht zu ergründen.

Die Lösung des Rätsels sollte aber doch eines Tages erfolgen, und zwar von einer Seite, von der man sie nicht erwartet hatte. –

Dale und Clennan kamen in ihrem Kraftwagen nach Paulinenaue.

»Ah, endlich sehe ich Sie einmal wieder«, empfing Georg die Gäste, »ich habe Sie schon längst erwartet.«

»Den Grund, warum wir so lange nicht kamen«, sagte Clennan, »sollen Sie vorweg hören, um uns zu entschuldigen. Wir hatten beide festgestellt, daß wir unter Beobachtung standen, und wollten deshalb nicht hierherkommen, um unsere Verfolger nicht auf Sie zu hetzen. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, daß unsere Vorsicht überflüssig war. Es ist sicher, daß man es auf Sie noch mehr abgesehen hat als auf uns.«

Mit einem Blick auf Georgs ungläubiges Gesicht fiel Dale Clennan ins Wort: »Das ist eine Tatsache, die leider nur allzu wahr ist. Doch darüber später! Zunächst einmal möchte ich die Grüße von General Scott und Oberst Trenchham an Sie ausrichten.«

»Danke, lieber Dale! Wie haben sich denn die beiden Herren Ihnen gegenüber im einzelnen über unsere Versuche geäußert? In unserem Telephongespräch drückten Sie sich etwas sehr gewunden aus.«

»Na, darüber kann doch kein Zweifel bestehen! Sieg auf der ganzen Linie, Herr Astenryk. Besonders gefreut hat's mich, wie Oberst Trenchham pater, peccavi sagte. Daß dieser große Skeptiker, der, wie mir Scott erzählte, alles als faulen Zauber, zum mindesten als Aufschneidereien hinstellte, so gründlich bekehrt wurde, ist mir ein besonderes Vergnügen.

Wenn Sie Trenchham näher kennten, würden Sie sich denken können, wie er seitdem Tag und Nacht an allen möglichen Operationsplänen für Sie und Ihren Verstärker arbeitet. Auch ich habe ihn völlig auf meiner Seite, wenn ich gegen Scott opponiere. Der General will ja absolut, daß Sie sich mit Ihrem Apparat von hier fort nach einem militärisch gesicherten Ort begeben. Wir haben ihm deshalb auch keine Silbe von Turi Chans Absichten gegen Sie erzählt. Doch davon mag Ihnen Clennan berichten.«

Was der jetzt Georg mitzuteilen hatte, war ebenso interessant wie aufschlußreich . . . Den Bemühungen der Geheimpolizei sei gelungen, nachträglich festzustellen, daß zwei Männer, auf welche die Beschreibung von Turi Chan und Arngrim genau paßte, am Tage nach Arngrims Verschwinden im Kraftwagen nach Canberra gekommen wären und nach einigem Aufenthalt in dem dortigen japanischen Konsulat in einem Privatflugzeug weitergereist seien. Wenige Tage später sei Turi Chan wieder nach Canberra zurückgekehrt. Die Polizei habe sofort von seiner Ankunft Kenntnis erlangt und ihn auf Schritt und Tritt bewachen lassen.

». . . Hier . . .« Dale verzog das Gesicht, »muß ich leider sagen, daß sich die Polizei auffällig schlecht bewährt hat. Die Beamten, die mit seiner Überwachung betraut waren, verloren ihn immer wieder aus den Augen. Sie erklärten später, sie seien wie verhext gewesen. Obwohl sie sich stets dicht hinter ihm halten wollten, sei er ihnen immer wieder aus den Augen gekommen. Ein Beamter wußte zu berichten, daß ihm das sogar mehrmals in stillen, wenig belebten Straßen passiert sei. Ein gesetzlicher Grund, Turi Chan zu verhaften, lag ja leider nicht vor. So ist es ihm gelungen, unangefochten und ohne daß wir vollständig in Erfahrung bringen konnten, was er dort eigentlich vorhatte, Canberra im Flugzeug zu verlassen.«

»Über die Gründe für das rätselhafte Versagen der Polizei dürften wir wohl Bescheid wissen«, sagte Georg, »aber . . . was er in Canberra wollte, darüber . . .«

»Darüber haben wir wenigstens etwas durch die Reste eines Briefes erfahren, welche der Polizei in die Hände fielen. Bei einer passenden Gelegenheit ließ ich einen Mann, von dem ich wußte, daß er mich ständig beobachtete, kurzerhand verhaften. Auf der Polizeiwache wurde er von einem anderen Beamten als einer der Leute festgestellt, mit denen Turi Chan Verbindung gehabt hatte. Als man den Inhalt seiner Taschen prüfen wollte, gelang es ihm, einen Brief zu zerreißen und in den Mund zu stecken. Nur wenige Fetzen des Schriftstückes konnten gerettet werden. Was aber auf diesen stand, betrifft zweifellos Ihre Person, Herr Astenryk. Aus den Briefresten und mit Schriftvergleichung konnte man ungefähr feststellen, daß der Verhaftete von Turi Chan den Auftrag bekommen hatte, sich gewaltsam eines gewissen G. A. in P. im Bezirk von Georgetown zu bemächtigen.«

Kopfschüttelnd, ungläubig lächelnd, hatte Georg zugehört. »Das klingt ja wie ein Märchen, mein lieber Herr Dale. Was weiß Turi Chan vor mir?«

Dale sah achselzuckend vor sich hin. Clennan sagte nach einer Weile: »Es wäre natürlich nicht ausgeschlossen, daß Sie, Herr Astenryk, ohne es zu wissen, ebenso unter Beobachtung gestanden haben wie wir, und daß man irgend etwas von unseren Versuchen bemerkt hat. Andererseits wäre es auch möglich, daß Turi Chan schon auf dem ›James Cook‹ irgendwelchen Verdacht gegen Sie gefaßt hat. Das hat schon deshalb viel für sich, weil wir beide, Major Dale und ich, damals ständig in Ihrer Gesellschaft waren, und wir sind ihm gewiß irgendwie verdächtig. Unsere Überwachung ist ja der beste Beweis dafür. Leider war aus dem Verhafteten in Canberra nicht das geringste über seine Beziehungen zu Turi Chan herauszubringen.«

Georg, der Clennans letzten Worten nur mit halbem Ohr zugehört hatte, schlug sich vor die Stirn. »Aber, meine Herren . . . wozu das Hin- und Herraten? Die Sache scheint mir durchaus klar. Ebenso wie mein Verstärker arbeitet das Gehirn Turi Chans in zweierlei Weise. Es empfängt die Gedankenwellen anderer und sendet eigene Wellen aus. Daß dabei gewisse Toxine, eben jene Allgermissenschen Präparate, die Hauptrolle spielen, wissen wir. Nach all dem, was uns Arngrim berichten konnte, handelt es sich dabei um zwei verschiedene pflanzliche Extrakte. Durch das eine wird die Strahlungsfähigkeit des denkenden Gehirns verstärkt, es arbeitet als ein Gedankensender. Durch das andere wird die Empfänglichkeit für fremde Gedankenwellen erhöht. Je nachdem Turi Chan also das eine oder das andere Mittel anwendet, ist er imstande, entweder anderen seine Gedanken und seinen Willen aufzuzwingen, oder umgekehrt, die Gedanken anderer mitzuempfinden. Da liegt nun aber doch die Vermutung nahe, daß er auf dem ›James Cook‹ mancherlei von unsern Gedankengängen aufgeschnappt hat, und das würde sein unerwünschtes Interesse für uns wohl zwangslos erklären.«

Clennan nickte zustimmend. »Gewiß, Herr Astenryk. So kann, muß es sein . . . Übrigens, ein gewisses Beispiel haben wir ja bei Ihrem Marian. Nur daß es bei dem eine natürliche Begabung ist und sich in schwächeren Ausmaßen hält.«

»Ist mir alles ein ganz unverständlicher, verrückter Zauber«, brummte Dale vor sich hin. »Das sind meiner Meinung nach alles Dinge für den Irrenarzt. Das müssen doch krankhafte Hirne sein, die so abnorm reagieren.«

»Sagen Sie das nicht, Major Dale«, erwiderte Clennan. »Unter den lamaistischen Priestern oder Heiligen . . . wie man sie dort in Hochasien auch nennt . . . gibt es zweifellos solche, die durch langjährige Übung, durch häufiges Aufeinandereinspielen . . . wir können das wissenschaftlich als gegenseitiges Abstimmen bezeichnen . . . die Fähigkeit erworben haben, sich durch Gedankenwellen zu verständigen. Ob das auf kleinere oder größere Entfernungen möglich ist, tut nichts zur Sache. Ich möchte aber hierzu noch bemerken, daß man doch auch bei uns oft genug von Fällen gehört hat, wo Personen von Vorgängen und Ereignissen, die ihnen nahestehende oder blutsverwandte Personen betrafen, über weiteste Entfernungen im Augenblick des Geschehens gedankliche Kenntnis erhielten.«

Dale machte eine zweifelnde Handbewegung. »Gewiß! Gehört hat man wohl von solchen Dingen. Aber . . .«

»›. . . so ihr nicht sehet, glaubet ihr nicht‹! – wenn ich die Bibel zitieren darf, mein lieber Herr Major«, fiel ihm Clennan ins Wort.

»Fehlt nur noch, Herr Clennan, daß Sie auch noch das von überspannten Köpfen geprägte Wort ›geistige Seuchen‹ heranziehen«, scherzte Dale.

»Sie lachen, Herr Dale! Wer weiß, ob in diesem Wort nicht doch ein Körnchen Wahrheit steckt. Ob nicht so manche Vorkommnisse im Leben der Menschen . . . der Völker, auf solch eine geistige Verseuchung zurückzuführen sind . . . in der Weise vielleicht, daß Gedankenstrahlungen eines großen Geistes, verstärkt durch eine mit der Zahl der Anhänger wachsende Menge menschlicher Hirne, größere . . . immer größere Kraft und Weite gewannen . . .«

»Nun, Herr Astenryk, Sie sagen ja gar nichts dazu. Was meinen Sie denn zu dieser doch sehr problematischen Theorie unseres verehrten Freundes Clennan?«

»Darüber ein Urteil abzugeben«, sagte Georg zögernd, »ist eine mißliche Sache. Die Wissenschaft ist oft genötigt gewesen, über feststehende Tatsachen erst nachträglich ihre Theorien zu bilden. So wird es auch hier sein, wenn erst einmal alle diese Erscheinungen, die uns vorläufig noch sehr geheimnisvoll vorkommen, von wissenschaftlicher Seite nachgeprüft sind. Über die verschiedenen Theorien, die dann wohl aufgestellt werden, wollen wir uns heute nicht den Kopf zerbrechen. Wir wollen uns vorläufig nur an die gegebenen Tatsachen halten . . . und damit rechnen«, vollendete er mit ernster Stimme.

»Man muß sich auch leider immer wieder vor Augen führen«, sagte Clennan nach einer Pause, »daß Turi Chan eine gewisse Überlegenheit besitzt. Er ist mit seinen psychischen Kräften nicht an eine Apparatur und, was noch wichtiger ist, nicht an eine Energiequelle gebunden.«

»Diese letztere Schwierigkeit hoffe ich in absehbarer Zeit beheben zu können«, meinte Georg mit einer Miene, die ganz unbefangen sein sollte. Doch Clennan, der ihn scharf beobachtete, bemerkte, wie dabei über sein Gesicht ein Zug stolzer Befriedigung ging. Er hütete sich aber, eine Frage darüber an Georg zu richten. Ahnte er doch längst, daß hinter diesem geheimnisumwitterten Gesicht noch manches andere verborgen lag, was wohl einst die Welt in Erstaunen setzen würde. So hatte es ihn schon sehr gewundert, daß Georg über den rätselhaften Einbruch im Laboratorium mit wenigen gleichgültigen Worten hinweggegangen war. Er hatte gehofft, daß Dale, der mit Georg stets sehr offen sprach, nähere Fragen stellen würde, doch der hatte anscheinend der Sache kein besonderes Gewicht beigelegt. –

»Ich glaube, Herr Dale, daß Paulinenaue auch einst zu den Orten gezählt werden wird, aus denen der Welt Gutes gekommen ist«, sagte Clennan, als er eine Stunde später mit Dale auf dem Heimweg war. –

»Schade, daß die beiden schon fort sind!« sagte Georg zu Jan, der den Radioapparat zum Empfang der Tagesnachrichten eingestellt hatte. »Was da von Moskau gemeldet wird, klingt ja, als wenn sich heute oder morgen ein Krieg entwickeln wolle. Diese Zusammenstöße von russischen und mandschurischen Fliegern sind auf jeden Fall ein bedrohliches Symptom . . . von den üblichen Grenzverletzungen der mandschurischen Truppen gar nicht zu reden. Ich vergaß leider, Dale zu fragen, wie man in Canberra zur Zeit über die politische Lage denkt. Dale weiß doch immer gut Bescheid.«

»Was soll man aber von den Vorgängen in Singapore halten?« fragte Jan. »Die Radionachricht von der Explosion des großen Munitionsdepots, – wie die Meldung besagt, ist sie unzweifelhaft auf einen verbrecherischen Anschlag zurückzuführen – muß doch nachdenklich stimmen. Daß der englische Kreuzer ›Suffolk‹ vor ein paar Tagen bei Penang nur mit knapper Not einer Treibmine entging, ist auch nicht gerade ein beruhigendes Moment. Es ist natürlich denkbar, daß diese Mine deutschen Fabrikats sich ebenso wie jene andere bei Talufuata seit dem Weltkriege unbemerkt bis heute im Meer herumgetrieben hat. Aber schon bei einem geringen Grade von Mißtrauen muß man diese Duplizität der Ereignisse sehr skeptisch betrachten.

Vielleicht wird dir Anne in ihrem nächsten Brief etwas Näheres darüber mitteilen können. Noch besser wäre es, sie käme selber. Was sie da zuletzt schrieb, sie sei jetzt nicht abkömmlich, dürfe die kranke Lady Wegg nicht verlassen, ist ja aller Achtung wert. Man sollte aber denken, in einer großen Stadt wie Singapore müsse es auch noch andere Leute geben, welche die kranke Lady pflegen könnten.«

»So ist sie nun einmal, Jan. Immer hilfsbereit, immer bereit, sich für andere aufzuopfern . . . meine liebe Anne. Ich bin überzeugt, ihre Schwester Helene wird sie stark vermissen. Anne hat sich in ihrer Gutmütigkeit von den Forbins in einer Weise ausnutzen lassen, die nicht gerade schön war.«

»Daß sich dieses ehrenwerte Paar nun doch einmal verkracht hat und auseinandergegangen ist, ist auch nicht übel«, warf Jan ein. »Anne macht sich da sicherlich unnötige Sorgen um ihre Schwester. Helene wird auch ohne Herrn Alfred Forbin ihren Weg finden.«

*


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