Hans Dominik
Befehl aus dem Dunkel
Hans Dominik

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Drei Wochen waren ins Land gegangen. Wochen, in denen die Lampen im Laboratorium nur selten erloschen. Da kam ein Telegramm von Anne: »Wir kommen morgen.« Georg las es mit unbeschreiblicher Freude. Die unausgesetzte Arbeit, die Sorgen, die das Konkursverfahren brachte . . . jetzt wollte er sich frei machen von all dem, an nichts anderes denken als an die glückliche Gegenwart, an ein frohes Zusammensein mit seiner Verlobten.

Und es wurde fast noch schöner, als er gehofft, es wurden Wochen heller Freude. Es war ihnen, als wäre ihrer Liebe ein neuer Frühling geschenkt. So viele Stunden glückseligen Beisammenseins.

Forbin war viel auf Reisen über die nahen Grenzen. Helene hatte in Aachen einen alten Verehrer aufgegabelt, einen belgischen Baron de Castillac, der sich ihr stark attachierte. Er kam häufig mit seinem Hundertpferdigen nach Neustadt und holte Helene zu Ausflügen ab. Durch sein vornehmes Auftreten und seine Eleganz bildete er für die Neustädter Weiblichkeit ein dankbares Gesprächsobjekt. In einem sehr kleinen Kreis Eingeweihter war er bekannt als Spezialist für Waffenschiebungen größten Umfanges.

Hier in der Heimat, in der alten Umgebung, an der Seite ihres Verlobten gelang es auch Anne, sich von allem Drückenden frei zu machen. In vollen Zügen genoß sie die schönen Tage. Ihre Mienen spiegelten das Glück ihres Herzens wider. Der herbe Zug um den Mund war verschwunden. Der sonnige Abglanz inneren Glücks verschönte sie, daß Helene die um acht Jahre jüngere Schwester oft neidvoll betrachtete. –

Als eines Tages Anne Georg zu einem Spaziergang abholen wollte, führte er sie mit geheimnisvollem Lächeln in sein Laboratorium. Anne kannte den Raum schon von früher und wunderte sich nur über eine längliche, an der Wand befestigte Truhe, die früher nicht dagewesen war. Georg führte sie zu der einen Schmalseite der Truhe und gab ihr eine Schachtel Streichhölzer in die Hand. Er selbst trat zurück und begann an einigen Hebeln zu schalten.

»Bitte, Anne, zünde doch ein Streichholz an und halte es unter diese überstehende Metallplatte.«

Mit verwundertem Lächeln sah Anne ihn an und tat dann wie geheißen. Im selben Augenblick schrie sie laut auf, ließ das Holz fallen, schlug wie geblendet die Hände vor die Augen.

Im Moment, da sie das Hölzchen entzündet hatte, war von der Decke des Zimmers eine unendliche Fülle weißgelben Lichts gestürzt, die den Raum mit flutenden Lichtwellen erfüllte, als stünde er in hellstem Brand. Erst als sie die Arme Georgs um sich fühlte, konnte sie sich von dem Schreck frei machen. Dann schaute sie ihn vorwurfsvoll an.

»Aber, Georg! . . . Was war das? . . . Was treibst du da für Zauberkunststücke?«

Georg strich ihr lachend übers Gesicht. »Ach, so hat dich das kleine Experiment erschreckt? Das war doch ganz harmlos, nichts von Zauberkunst. Du siehst hier nichts anderes als einen Verstärker, wie du ihn vom Radioapparat hier wohl kennst. Nur, daß der hier alle Wellen verstärkt. Nicht nur die langen Radiowellen, sondern auch die kurzen und kürzesten hinab bis zu den Lichtwellen. Die Lichtflut, die dich erschreckte, war nichts anderes als die millionenfach verstärkte Flamme des Streichholzes.«

»Aber was soll das, Georg? Wozu ist das?«

»Das war vorläufig nur, um kleine Mädchen zu erschrecken, aber . . .« und hier wurde Georgs Gesicht ernster . . . »das ist vielleicht das Fanal für eine Erfindung folgenschwerster Art . . . folgenschwerster . . .« Das Wort kam noch einmal ganz leise, wie mechanisch, von Georgs Lippen.

»Und das ist dein Werk, Georg?«

»Nein! Nicht ganz mein Werk. Aber das dir alles zu erklären, brauchte ich Stunden, liebe Anne. Wir wollen jetzt 'raus aus dieser Höhle gehen, in den schönen Frühlingssonnenschein und nur an uns denken. Aber, Anne«, er konnte trotz des Ernstes, mit dem er sprechen wollte, den Scherz nicht lassen, »hebe den Finger hoch und schwöre, daß du zu niemand auch nur mit einer Silbe von dem sprechen willst, was du hier sahst.«

Anne hob lachend den Finger. Da sah sie sein Gesicht und wurde ernst. »Ja, ja, Georg, ich schwöre es dir.« Sie schlug die Arme um ihn. »Georg, Liebster! Nie wird ein Wort über meine Lippen kommen.« –

Es war zwei Tage später. Georg hatte sich am Nachmittag vom Boden ein altes Grammophon geholt und hatte allerlei Anschlüsse und Schaltungen zwischen diesem Apparat und der großen Verstärkertruhe gemacht. Jene geheimnisvolle Wachsplatte, die er in Lönholdts Nachlaß gefunden hatte, drehte sich lautlos auf dem Teller des Grammophons.

Stunden vergingen. Immer wieder trat er mit enttäuschtem Gesicht aus der Mitte des Zimmers, wo an der Decke Antennendrähte hingen, zu den Apparaten, schaltete und probierte von neuem. Der fehlende Plattenteil . . . enthielt der wohl die notwendige Abstimmung? . . . Wäre alles umsonst gewesen? . . . Verzweifelt stand er, sann, dachte. Tausend Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf . . . dann war es ihm auf einmal, als ob ein fremder Wille ihn überwältigte. In seinen Füßen zuckte es. Der Körper begann sich zu bewegen, zu drehen. Die Füße folgten. In immer lebhafter werdenden Tanzschritten bewegte sich Georg durch den Raum. Seine Augen leuchteten in freudigem Triumph. Die frohe Erregung ließ seinen Atem schneller gehen. Hemmungslos, willenlos überließ es sich dem Gebot eines fremden Willens. Dabei glitten seine Augen immer wieder zu der Wachsplatte, die sich lautlos auf dem Teller drehte . . . drehte, bis sie abgelaufen war, zur Ruhe kam. –

Eine Weile stand er hoch atmend. Dann brach es aus seinem Munde: »Ich hab's gefunden! Doch jetzt sofort eine neue, stärkere Probe! Jetzt will ich nicht willenlos dem fremden Zwange folgen, will alle meine Kraft daranwenden, ihm zu widerstehen.«

Schnell eilte er zu der Wachsplatte, ließ sie wieder laufen. Er trat in die Mitte des Zimmers zurück. Ein paar Sekunden, dann begann er erneut zu tanzen. Doch jetzt nicht mehr den Glanz des Triumphes in den Mienen. Nein, ein von heftigstem Widerstand verzerrtes Gesicht. Ein Paar Augen, trübe, müde, wie von fremdem, quälendem Zwang gedemütigt . . .

Jetzt verlangsamten sich seine Schritte . . . er blieb taumelnd stehen, tiefste Erschöpfung vergeblichen Widerstandes über Gestalt und Gesicht ausgegossen. Seine Brust arbeitete in heftigen Stößen, wie wenn er eine unerhörte Anstrengung hinter sich hätte. Mit langsamen, schleppenden Schritten ging er zum Schreibtisch, ließ sich wie geschlagen in den Stuhl fallen.

»Alles habe ich versucht! . . . Habe mich mit allen meinen körperlichen und geistigen Kräften gegen den Zwang der Gedankenwellen, die von dieser Wachsplatte herkommen, gewehrt . . . jeder Widerstand umsonst! Ich bin unterlegen«, stieß es rauh aus seiner Kehle.

Er stützte das Gesicht in die Hand, die andere blätterte in nervösem Spiel in Lönholdts Tagebuch. Jetzt legte er es in den Schreibtisch zurück, stand auf und ging nachdenklich hin und her. Vor dem Grammophon im Hintergrund des Zimmers blieb er bisweilen stehen, nickte befriedigt vor sich hin, strich wie liebkosend über die Wachsplatte. »So weit wäre ich also. 's hat Mühe gekostet! Marian, der gute Junge, wird mir ja allerhand abzubitten haben. Wie hat er mir immer widersprochen, seitdem ich mich mit Allgermissens Problem herumschlage . . . Der Anfang wäre gemacht . . . ob ich jemals alles erreichen werde, was der gekonnt hat? . . .«

Er schaute auf die Uhr. Wo Marian nur bleibt? Sein Zug müßte doch schon da sein. Der wird Augen machen!

Während Georg Astenryk so sinnend dastand, fühlte er, wie die Ruhe, zu der er sich gewaltsam gezwungen, wich, wie ein feindlicher, neugieriger Drang aus seinem Unterbewußtsein hervordrängte, kühle Berechnung, klares Denken über den Haufen zu werfen drohte.

Unschlüssig zwischen ungestillter Neugier und kühler Überlegung hin und her geworfen, trat er zögernd näher an den Apparat heran. Ein kurzer Blick auf die Uhr. Vielleicht würde Marian jetzt kommen? Einerlei . . . wenn er's auch sah. Aber jetzt will ich doch einmal die Probe mit dem Stahlhelm machen. Der Ordonnanzoffizier bei General Iwanow blieb doch unbeeinflußt . . .

Georg nahm von der Wand einen Stahlhelm seines Vaters, ein Erinnerungsstück aus dem Weltkrieg, und setzte ihn auf den Kopf. Dann schaltete er an dem Apparat. Sein Blick ging zu der Platte auf dem Grammophonteller, die sich drehte.

»Aha!« murmelte er. »Es stimmt. Der Stahlhelm läßt die Wellen von der Deckenantenne nicht durch.« Noch ein kurzes Zögern. Seine Hände gingen wiederholt zum Helm, glitten wieder herab. Dann warf er den Helm mit plötzlichem Entschluß zur Seite – und dann?

Sekundenlang stand Georg wie angewurzelt. Die Beine gestrafft, die Füße wie sich festsaugend auf den Boden gestemmt, die Fäuste geballt, die Stirn gekraust, die Kiefern fest aufeinandergepreßt. Die ganze Gestalt ein Bild gesammelter, stärkster Widerstandskraft . . . Ich will nicht! Ich will nicht! hämmerte es unausgesetzt in seinem Hirn . . . jetzt . . . ein gequältes Stöhnen aus seinem Mund, die gespannten Sehnen lockern sich, zuerst der eine, dann der andere Fuß lösen sich vom Boden – und dann? – dann war es, als finge eine Marionette an sich im Tanz zu bewegen. Noch ein paar Schritte . . . der letzte Widerstand erloschen . . . in lockeren, freien Tanzfiguren bewegte sich Georg Astenryk durch das Zimmer.

»Georg! Was hast du? Hast du das große Los gewonnen, oder . . .«

In der geöffneten Tür stand Marian und schaute verwundert auf Georg, der sich, anscheinend ohne von ihm Notiz zu nehmen, unaufhörlich im Tanzschritt durch das Zimmer bewegte.

Da trat Marian mit ein paar hastigen Sprüngen in den Raum und griff Georg am Arm, um ihn festzuhalten. Doch der stieß ihn zur Seite – und tanzte weiter. Marian stand in sprachlosem Erschrecken. Was war mit Georg? Waren seine Nerven unter der Tagundnachtarbeit der letzten Wochen zusammengebrochen?

Da hielt der plötzlich inne, warf sich aufatmend auf einen Diwan und deckte die Hände über das Gesicht. Nach einer Weile stand er langsam auf, wischte sich die Stirn und trat lachend an Marian heran.

»Marian!« Georg legte beide Hände auf dessen Schultern, sah ihn mit entspanntem Gesicht an, in den noch fiebrig glänzenden Augen ein Blitzen freudigen Triumphes.

»Marian! Liebster Kerl, ich hab's! Habe das Geheimnis von Allgermissens Platte.«

Marian fuhr zurück und erblaßte. Seine Augen blickten in banger Furcht auf Georg. Nach ein paar hastigen Atemzügen begann er stockend:

»Georg, ist es wahr? Treibst du keinen Scherz mit mir? Hast du wirklich das Geheimnis von Allgermissens Platte gefunden?«

»Aber, Marian, was hast du? Ich dachte, du würdest dich freuen. Gewiß habe ich das Geheimnis Allgermissens ergründet. Es ist kein Scherz.«

Marian wandte sich unwillig zur Seite. »Das ist Sünde . . . Frevel, Georg! Das widerspricht jedem göttlichen Recht und Gesetz . . .«

Georg trat zu ihm und legte den Arm um ihn. »Aber, Marian, wie kannst du eine durchaus natürliche Sache, deren physikalische Erklärung ich dir jetzt leicht zu geben vermag, für Sünde und Frevel halten?«

Marian schüttelte den Kopf. »Das hier«, er deutete auf die Apparatur, »ist ja wohl noch harmlos, wenngleich es auch kaum begreiflich erscheinen muß. Aber denke doch weiter, Georg. Denke an die Folgen, wie sie bei einer Weiterentwicklung dieses kleinen Verstärkers zu einem gewaltigen Sender sich auswirken müssen auf größere Entfernungen, große Menschenmengen . . . auf Städte . . . Völker . . . Länder.«

»Nun, Marian«, erwiderte Georg mit etwas gezwungenem Lachen, »du siehst wohl schon die Zeit kommen, wo ich dem lieben Herrgott ins Handwerk pfusche und . . .«

»Georg, ich bitte dich! Laß das! Mag es auch jetzt für dich ein Triumph sein, hinter das Geheimnis von Allgermissens übernatürlichen Kräften gekommen zu sein, vergiß es nicht . . . denke immer daran, wie Allgermissen geendet hat.«

»Ach was, Marian! Deine Besorgnisse gehen zu weit. Kann ich auch jetzt die Tragweite dieser Entdeckung noch nicht voll überschauen, so glaube ich doch nicht, daß jemals das eintreten wird, was du befürchtest. Komm! Sei kein Narr, setz' dich zu mir! Ich werde dir erklären, daß das, was du für übernatürlich hältst, eine ganz einfache physikalische Erscheinung ist.

Allgermissen ging von der Tatsache aus, daß das denkende menschliche Gehirn Hertzsche Wellen ausstrahlt. Er schuf sich einen Verstärker von besonderer Art, der diese Gedankenwellen ebenso verstärkt wie ein gewöhnlicher Radioverstärker die Rundfunkwellen. Du weißt ja, daß sich jeder Laie mit einem einfachen Radioverstärker Schallplatten herstellen kann. Das gleiche machte Algermissen mit den Gedankenwellen. Er ließ sie durch seinen Verstärker, unter dessen Eingangsantenne er saß, aufnehmen, verstärken und durch den üblichen Plattenstichel in das Wachs eingraben. So entstand diese geheimnisvolle Platte.

Und nun umgekehrt: Die Wachsplatte, auf den Teller eines Grammophons gelegt, betätigt eine elektromagnetische Dose, die das Empfangene durch den Verstärker in die Ausgangsantenne gehen läßt. Mit dem Erfolg, daß die auf der Wachsplatte eingegrabenen gedanklichen Befehle Allgermissens millionenfach verstärkt alle eigenen Gedanken eines Menschen, der unter der Ausgangsantenne steht, überwältigen und sich durchsetzen. Wobei, wie du gesehen hast, jeder Widerstand vergeblich ist.«

»Aber wie kam es, Georg, daß ich, als ich im Bereich der Antenne stand, nicht auch dem Zauber unterlag? Und wie kam es, daß nicht auch jener Offizier, der Algermissen erschoß, dem Zwange der Platte folgen mußte?«

»Diese Fragen will ich dir schnell beantworten. Der Offizier war durch seinen Stahlhelm gegen die Wellen von der Deckenantenne eben noch abgeschirmt. Und du wurdest nicht betroffen, weil du nicht auf die gesendeten Wellen eingestimmt bist. Nenne es Zufall, nenne es Schicksalsfügung, daß ich es war.«

»Gut! . . . Mag sein. Aber immer wieder muß ich dich dann fragen, wie war's bei dem General Iwanow, wo alle der Platte folgen mußten?«

»Dafür habe ich vorläufig keine Erklärung, Marian. Wahrscheinlich stand die Lösung dieses Rätsels auf dem verlorenen Rand der Platte.«

»Nun, einerlei! Wir haben's ja schon hundertmal gegeneinander ausprobiert uns gegenseitig abzustimmen, und uns dann rein gedanklich untereinander zu verständigen. Bitte, Georg, stimm mich auf deine Welle ein. Dann muß ich ja auch der Zauberplatte folgen.«

»Gut!« rief der. »Um ganz sicher zu sein, Marian, daß du auf meine Welle abgestimmt bist, noch dies!« Er war bei diesen Worten ganz nahe an Marian herangetreten und schaute ihn mit festem Blick wortlos an. Der Bruchteil einer Sekunde, dann drehte sich Marian um und stellte sich in die Mitte des Zimmers.

Georg nickte ihm zu. »Richtig verstanden!« Dann ging er zu dem Apparat und setzte die Nadel auf die Platte. Nachdem er sich schnell den Stahlhelm über den Kopf gestülpt hatte, ließ er die Platte laufen. Sie drehte sich stumm. Kein Ton war zu vernehmen, außer dem leichten Nadelgeräusch. Er schaute mit höchster Spannung zu Marian. Der stand, wie vorher er selbst, in der Mitte des Zimmers unter den an der Decke gespannten Drähten. Und dann war es genau so wie eben.

Marians Gesicht in heftigem Abwehrkampf fremden Willens . . . Sein Widerstand schwächer und schwächer. Die Gestalt, eben noch mit dem Boden wie verwachsen, fing an zu wanken . . . zu schwanken . . . zu tanzen.

Georg frohlockte innerlich. Da sah er Marians Gesicht, das totenblaß war, in dessen Augen ein Ausdruck verzweifelter Bitte lag. Er sprang zum Apparat und stellte ihn ab. Marian wankte zu einem Sessel. Seine Augen gingen wie irr zu der Antenne, zu der Wachsplatte. Georg trat zu ihm und strich ihm beruhigend über den Kopf.

»Aber, Marian! Hat es dich so mitgenommen? Du siehst ja aus, als ob du etwas Unheimliches, Entsetzliches erlebt hättest. Und dabei ist es doch ein ganz natürliches Phänomen. Ich gab dir doch schon die physikalische Erklärung.«

Marian schüttelte den Kopf. »Trotzdem, Georg . . . das Gefühl, unter fremdem Zwang etwas tun zu müssen, wogegen sich jede Faser sträubt, ist fürchterlich.«

»Es mag sein, Marian, daß deine sensiblen Nerven besonders stark auf den gewaltsamen Zwang reagierten. Wir werden das Experiment zu einer besseren Stunde in anderer Weise wiederholen.«

Lange noch sprachen sie über das unerhörte Erlebnis . . . über weitere Versuche und Möglichkeiten. – –

Die freudige Stimmung, in der Georg am nächsten Morgen erwachte, erhielt einen starken Dämpfer, als ihm in einer Sitzung mit dem alten Prokuristen Stennefeld und dem Konkursverwalter der Stand der Konkursmasse klargemacht wurde. Es ging auf die fünfte Nachmittagsstunde, als der Konkursverwalter sich verabschiedete.

Georg Astenryk und der Prokurist saßen niedergeschlagen, gedrückt da.

»Das war ja wenig erfreulich«, meinte Georg, »was der Konkursverwalter da sagte. Wenn wirklich nicht mehr bei einer Versteigerung der Fabrikanlagen und der Lagerbestände herauskommt als die von ihm genannte Summe, so hätten wir ja gegen die Buchwerte einen Ausfall von achtzig Prozent.«

Der alte Stennefeld zuckte die Achseln. »Ein Jammer, wenn man denkt, daß alles so verschleudert werden soll. Aber wer kann das heute schon wissen! Vielleicht findet sich doch ein Bieter, der mehr zahlt.«

»Der Gedanke, daß auch mein Privatlabor mit zum Teufel gehen soll, ist mir besonders schmerzlich. Alles, was da drin ist, jedes Werkzeug, jeden Apparat, habe ich mir von Jugend an zusammengespart. Aber das nicht allein; das wäre ja nur ein Gefühlswert. Ich habe in der letzten Zeit so gute Fortschritte in meinen Arbeiten gemacht, daß der Verlust des Labors mir in vieler Beziehung schweren Schaden bringen würde.«

»Nun, Herr Georg«, warf der alte Stennefeld schüchtern ein, »der Konkursverwalter hat doch ausdrücklich gesagt, daß Sie unbedingt bis zu der Zeit, wo alles versteigert wird, das Laboratorium noch benutzen dürfen. Bis zum Versteigerungstermin sind immerhin noch einige Wochen. Bis dahin können Sie ungestört da drüben weiterarbeiten.«

»Gewiß, ich werde die Gelegenheit nach Möglichkeit ausnutzen. Aber das ändert ja schließlich nichts daran, daß mir in ein paar Wochen doch alles verlorengeht. Schade um die schönen Apparate! Auf welchem Althändlerhof werden sie verrosten und verkommen?«

»Hm!« fiel Stennefeld ein. »Da kommt mir eben ein Gedanke. Sicherlich wird Ihr Laboratorium im Wohnhaus nicht zusammen mit den Fabrikanlagen versteigert werden. Es wird mit den Zimmereinrichtungen des Wohnhauses unter den Hammer kommen.«

»Und weiter?« fragte Georg.

»Nun«, meinte der Prokurist zögernd, »derartige Dinge bringen auf Auktionen so gut wie gar nichts. Vielleicht . . .« er sah Georg von der Seite an, ». . . können Sie irgendwo Geld auftreiben, um das Laboratorium in der Versteigerung billig durch einen anderen zu erstehen.«

»Da haben Sie recht, Herr Stennefeld«, sagte Georg, »ich will mir das mal überlegen. Vielleicht beauftrage ich den alten Werkmeister Konze damit.« –

*

»Ich habe sehr wohl verstanden, mein lieber Herr Godard. Ihr neuer Kriegsplan gegen Astenryk findet meinen vollen Beifall. Ich bin neugierig, was Herr Forbin dazu sagen wird. Hoffentlich funktioniert die Regie diesmal besser.«

»Das wäre sehr erwünscht, Herr Samain. Bei dieser verdammten Geschichte haben wir bis jetzt wenig Lorbeeren geerntet. Die Herren in Paris werden enttäuscht sein. Zu dumm, daß Ihre Sache neulich nicht klappte, als Astenryk nach Paris verreist war. In dem Haus war damals nur der Diener Heidens anwesend. Es wäre doch kein großes Kunststück gewesen, den irgendwie unschädlich zu machen und dann . . . dann hätte ja Herr Doktor François Zeit genug gehabt, sich in dem Laboratorium gründlich umzusehen.

Sie haben sich da einen schlechten Helfer gesucht. Mit einer Alarmanlage war doch unbedingt zu rechnen. Ein geschickter Mann hätte das berücksichtigt und Gelegenheit gefunden, die Leitungen durchzuschneiden . . . oder falls es eine Ruhestromanlage war, sie mit den Kenntnissen, die ich bei einem tüchtigen Helfer unbedingt voraussetze, anderswie unschädlich gemacht. Auch Ihnen, mein lieber Herr Samain, kann ich nur empfehlen, sich solche Kenntnisse anzueignen. Man kann so etwas immer mal brauchen.«

»Übrigens, Herr Godard, Herr Forbin, an dem wir eine so kräftige Hilfe haben sollten, kümmert sich eigentlich nicht viel um unsere Angelegenheit. Er behandelt sie mit einer Nonchalance, als ob ihm das alles nicht recht paßte.«

»Leider muß ich Ihnen da recht geben, mein lieber Samain, und das ist sehr schade, denn Forbin ist ein schlauer Fuchs. Ich kann nichts anderes vermuten, als daß er bessere, lohnendere Beute wittert. Ah, da kommt er ja endlich!«

Godard deutete auf Forbin, der eben in das Restaurant, in dem sie saßen, eintrat.

»Guten Abend, meine Herren. Bitte tausendmal um Entschuldigung. Ich konnte nicht früher kommen, kann auch gar nicht länger bleiben. Ich erwarte um elf Uhr in meinem Hotel einen wichtigen Telephonanruf.«

»Das ist ja sehr bedauerlich, Herr Forbin. Wir hätten doch einiges mit Ihnen zu besprechen gehabt, was auch nicht unwichtig ist.«

»Es ist mir sehr peinlich, Herr Godard. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, und mich auf dem Wege zu meinem Hotel am Marktplatz begleiten? Vielleicht könnten wir die Angelegenheit unterwegs besprechen.«

»Gewiß, das könnten wir machen«, meinte Samain und sah Godard fragend an.

Der nickte. »Meinethalben! Das Wetter ist ja sehr schön. Gehen wir ein Stück spazieren. Aber sagen Sie zunächst einmal, Herr Forbin, wie ist denn Ihre Unterredung mit Georg Astenryk ausgefallen?«

»Natürlich alles vergeblich! Wußte ich ja gleich. Er läßt sich auf nichts ein. Aber . . . man hatte es in Paris so gewollt . . . nun, ich hab's gemacht.«

Sie traten aus dem Restaurant und schlenderten in lebhafter Unterhaltung die Straße hinunter. Nachdem sie ein Stück gegangen waren, bogen sie in die Kölner Straße ein, die an einigen industriellen Anlagen vorbei zum Marktplatz führte. Sie war völlig menschenleer.

»Da liegt der locus delicti, Herr Samain, wenn ich ›delicti‹ mit ›Dämlichkeit‹ übersetzen darf.« Godard blieb stehen und deutete auf das Astenryksche Wohnhaus.

Forbin lachte. »Allerdings, da haben Sie sich eine gute Gelegenheit aus der Nase gehen lassen. Jetzt heißt es andere Wege einschlagen.«

»In der Voraussicht Ihres Mißerfolges, mein Herr, haben wir die schon eingeschlagen. Es ist uns gelungen, uns der Hilfe des Gerichts zu versichern. Wir sind von glaubwürdiger Seite benachrichtigt worden, daß Georg Astenryk, nachdem sein pekuniärer Untergang unabwendbar, angefangen hat, allerhand Dinge beiseitezuschaffen, die eigentlich zur Konkursmasse gehören.«

Forbin pfiff leicht durch die Zähne, nickte verständnisvoll.

»Ah, Sie verstehen schon«, warf Samain anerkennend dazwischen.

»O ja. Auf solche Scherze verstehe ich mich auch. Damit Sie sehen, daß ich im Bilde bin, will ich Ihnen sagen, wie's weitergeht. Morgen oder an einem der nächsten Tage wird jemand als Vertreter des größten Konkursgläubigers mit dem Konkursverwalter und einem Gerichtsvollzieher oder so etwas Ähnlichem in dem Laboratorium Astenryks erscheinen und einen Gerichtsbeschluß vorlegen, wonach er sofort mit Stock und Hut das Haus zu verlassen hat, weil es dem Gericht glaubwürdig gemacht worden ist, daß er Teile der Konkursmasse beiseiteschafft.«

»Ah! Bravo!« Die beiden anderen Herren klatschten in die Hände. »Gut gemacht! Genau so wird es kommen . . .«

»Halt, meine Herren! Ich war noch nicht fertig«, sagte Forbin, »gleich darauf werden einige tüchtige Spezialisten von Pariser Provenienz kommen, die in vollem Gang befindlichen Arbeiten studieren und versuchen, sich die Früchte Astenryks zu Gemüte zu führen.«

»Auch das war durchaus richtig!«

»Das kann, wenn alles klappt, allerdings sehr erfolgreich sein, meine Herrschaften.« Forbin sah auf die Uhr. »Ich darf mich wohl hier verabschieden. Ich muß eilen, es ist gleich elf. Auf Wiedersehen für morgen!«

*

Die kleine elektrische Uhr im Labor Georg Astenryks schlug die elfte Stunde.

»Nun, ausgeschlafen?« rief Marian Georg zu, der sich auf dem alten Lederkanapee ausgestreckt hatte. »Du geruhtest fast eine Stunde auf der Bärenhaut zu liegen.«

Georg richtete sich auf. »Wenn ich je in meinem Leben munter gewesen bin, Marian, so war ich's jetzt eben. Ich hatte mich hingelegt, wollte über die Formel des letzten Versuchs nachdenken. Plötzlich stockte ich. Es wurde mir unmöglich, mich zu konzentrieren. Immer wieder kamen mir andere Gedanken in den Kopf, und zwar merkwürdigerweise immer Gedanken bestimmter fremder Personen, die sich mit mir beschäftigten.

›Deine Nerven sind nicht ganz auf der Höhe‹, sagte ich zu mir selber. ›Du fängst an, Geisterstimmen zu hören.‹ Dann kam mir plötzlich zu Bewußtsein, daß ich ja unter dem Verstärker lag, dessen Lampen brannten und dessen Antennen von dem Versuch vorher noch vertauscht waren.

Ich war sofort im Bilde. Schwächste Ausstrahlungen von den Gedankenwellen irgendwelcher Menschen draußen trafen die Eingangsantenne. Millionenfach verstärkt fluteten sie aus der Ausgangsantenne in meinen Kopf. Du kannst dir ja denken, wie ich da hellhörig wurde und mich ganz der Wirkung der Wellen hingab. Zunächst fiel es mir schwer, die verschiedenen Stimmen zu trennen. Erst nachdem es mir gelungen war, die gedanklichen Äußerungen einer gewissen Person festzustellen, glückte es mir, Sinn in diese Wahrnehmungen zu bringen.«

»Eine solche Leistung wäre doch über die Maßen erstaunlich, Georg. Bist du auch sicher, daß du nicht doch geträumt hast?«

»Unsinn, Marian! Ich war frisch und munter wie am frühen Morgen.«

»Da bin ich aber sehr gespannt«, sagte Marian, immer noch etwas ungläubig, »was du da vernommen hast?«

»Das sollst du sofort hören. Aber ich will es dir nicht direkt sagen, du sollst es auch durch den Verstärker erfahren. Du brauchst dich da weniger anzustrengen als ich, da der Apparat dabei ja meine Wellen nicht so schwach empfängt wie die der Leute da draußen. Zunächst will ich die Schaltung wieder umdrehen. So! Setze dich da unter die Deckenantenne.«

Wortlos saßen sie geraume Zeit da. Das wechselnde Mienenspiel Marians verriet, daß er alles mitempfand, was Georg dachte. Es war ungefähr alles das, was die Herren Forbin, Samain und Godard auf ihrem Spaziergang in der Kölner Straße vor kurzem zusammen besprochen hatten. – –

Georg hatte geendet . . . Eine kurze Zeit der Überlegung. Dann standen beide auf und – ja, was sie da nun taten, das schien merkwürdig, unbegreiflich.

Marian schaltete sämtliche Beleuchtungskörper ein und ging von einem Apparat zum anderen. Dabei machte er allerlei Handgriffe. Mit kalter Überlegung begann er, Schrauben zu lösen, Schaltungen zu zerstören und Meßinstrumente abzunehmen. Georg saß währenddessen am Schreibtisch und begann sorgsam die Papiere in zwei Stöße zu ordnen. Den größeren gab er Marian.

»Rein in den Ofen mit allem, was wir nicht unbedingt brauchen!«

Den anderen Teil der Papiere schnürte er zu kleineren handlichen Paketen zusammen, die er in eine Ledermappe steckte. »Unser geistiges Eigentum kann uns niemand nehmen.« Er drehte sich zu Marian um. »Nun, auch bald fertig?«

Marian schüttelte den Kopf. »Es fällt mir gar nicht ein, alle Meßinstrumente abzunehmen und alle Säuren auszuschütten. Ich lege denen hier ein Ei, worauf sie lange brüten sollen und wobei schließlich doch nur blanker Unsinn herauskommen wird.«

Während er es sprach, schüttete er wahllos die verschiedensten Chemikalien in die Versuchsbatterien. Georg lachte laut auf.

»Vorzüglich, Marian! Tu das, aber ohne zu übertreiben! Den Verstärker werde ich zu einer Mottenkiste umwandeln. Allgermissens Kristalle nehme ich natürlich mit. Über den Rest mögen sie sich die Köpfe zerbrechen.«

»Was mögen das für Leute gewesen sein, Georg, die du so schön belauscht hast?«

»Ja, wer das wüßte! Ich vermute, irgendwelche Kreaturen jener französischen Gruppe, die bereits durch einen Mittelsmann die Hypothek an sich gebracht hat, um mich durch die Kündigung willfährig zu machen. Das Manöver war ja zu durchsichtig.« –

Der Morgen graute bereits, als sie sich zur Ruhe begeben wollten . . . Beim Verlassen des Laboratoriums nahm Marian die Tasche unter den Arm, wollte in sein Schlafzimmer.

»Halt, Marian! Das geht nicht!«

»Was meinst du?«

»Die Ledertasche mit unseren Papieren muß sofort aus dem Haus. Wir begehen damit ja gar nichts Unrechtes, denn ihr Inhalt ist mein geistiges Eigentum. Der Teufel kann's aber wollen, daß man uns verhindert sie mitzunehmen. Was würde es uns nutzen, sie vielleicht auf Protest nach einiger Zeit wiederzubekommen, wenn die Papiere sämtlich photographiert sind.«

»Da hast du recht, Georg. Aber wohin damit?«

»Oh, sehr einfach! Ich bringe sie sofort zum Bahnhof, gebe sie in die Aufbewahrung für Handgepäck und telegraphiere gleich an Tante Mila, daß wir kommen.«

Mit diesen Worten war Georg schon an der Tür und verließ das Haus. – – –

Die Uhr schlug die Mittagsstunde, da ging Georg Astenryk in Begleitung Marians für immer aus seinem Heim. Soeben hatte sich im Labor die Tragikomödie – von Herrn Godard inszeniert – genau so abgespielt, wie Herr Forbin sie am Abend zuvor mit innigem Behagen schilderte, ohne zu ahnen, daß eine Verkettung außergewöhnlicher Umstände ihm einen fernen Zuhörer verschaffte. Ein Umstand, der den Effekt des so schlau ausgetüftelten Planes verpuffen ließ.

Während Georg den Weg zu Forbins Hotel einschlug, ging Marian zu dem Kontorgebäude gegenüber und trat in den Hauseingang. Nicht lange, dann hielt ein Auto vor dem Fabrikhof. Zwei Herren stiegen aus und gingen schnellen Schrittes zu dem Wohnhaus. An der Tür erwartete sie ein Herr, der ihnen schon von weitem in französischer Sprache zurief: »Es ist alles in Ordnung. Diesmal hat alles aufs beste geklappt.«

Marian lachte laut auf. »Was gäbe ich drum, wenn ich die Gesichter dieser drei Herren nach einiger Zeit da oben sehen könnte. Nun, ich will wenigstens hier unten warten, bis sie wieder 'rauskommen. Sie mögen dann immer noch nette Gesichter machen.« –

Es war allerdings ein Bild, das Marian ganz besondere Freude machte, als nach einer guten halben Stunde jene drei Herren mit hochroten Köpfen und sehr heftig gestikulierend aus dem Astenrykschen Wohnhaus kamen. Mit einem triumphierenden Lachen trat Marian aus dem Toreingang und folgte ihnen, bis sie in das Auto stiegen.

Schade, daß ich nicht genug Französisch verstehe! dachte er. Sie sprachen ja laut genug. Fehlte nur noch, daß sie sich gegenseitig in die Haare kriegten.

Während Marian die Kölner Straße entlangging, sah er in einer Seitengasse Georg mit dem alten Stennefeld stehen und sich eben von dem verabschieden. Er eilte auf ihn zu und erzählte ihm mit großem Behagen, was sich da eben abgespielt hatte. Georg schlug ihm lachend auf die Schulter.

»Gut gemacht, Marian! Ich bin durch Stennefeld aufgehalten werden. Geh du statt meiner zu Meister Konze. Ich muß jetzt schleunigst fort zu meinem Schwager Forbin.« – – –

Forbin und Helene saßen plaudernd im Vorgarten ihres Hotel.

»Weißt du auch, Alfred, daß mir die ganze Sache wenig sympathisch ist? Ich glaube, du steckst da deine Hände in eine Angelegenheit, die recht töricht ist.«

»Aber wieso, Helene? Ich habe dir doch gesagt, was die Erfindung wirtschaftlich bedeuten würde, wenn sie einmal gemacht ist. Daraus kannst du leicht ersehen, wie groß das Interesse der Herren in Paris ist, und die Folgerung, was für uns bei einem guten Erfolg herausspringt, kannst du daraus ebenso leicht selber ziehen.«

»Mag alles sein, Alfred! Ich werde das Gefühl nicht los, wir handeln falsch. Zunächst einmal möchte ich doch daran erinnern, daß Anne meine Schwester ist und Georg Astenryk eines Tages mein Schwager werden dürfte.«

»Ah! Helene! Moralische Anwandlungen?«

Helene warf Forbin einen schiefen Blick zu.

»Du weißt, Alfred, diesen Ton liebe ich nicht. Aber ganz abgesehen davon, überlege dir doch mal bitte folgendes: Du rechnest damit, daß früher oder später Georg diese wichtige fruchtbringende Erfindung macht.«

»Gewiß! Davon bin ich fest überzeugt, und die Früchte werden vieltausendfältig sein.«

»Gut, Alfred! Ich nehme dich beim Wort. Nun stelle dir bitte mal vor, es kommt alles so, wie du denkst. Glaubst du nicht, daß das Ehepaar Forbin, Schwäger dieses Milliardärs Astenryk, mit an der Tafel sitzen und mühelos schwelgen könnte?«

Forbin machte ein zweifelndes Gesicht.

»Ich weiß nicht, Helene, ob du da so unbedingt richtig rechnest: Ich verfüge doch auch über eine gewisse Menschenkenntnis und kann nur sagen, daß wir beide . . . besonders ich . . . Georg Astenryk reichlich unsympathisch sind. Daß er nach seiner Verheiratung mit Anne mit uns noch irgendwelche Beziehungen unterhalten würde, glaube ich nicht.«

Helene zog ärgerlich die Brauen zusammen.

»Das käme doch sehr darauf an, mein lieber Alfred. Ich müßte mich in mir denn doch sehr täuschen, wenn ich es nicht fertigbrächte, mit Georg auf gutem Fuß zu bleiben.«

»Tja! . . . Tja . . . Helene, mag vielleicht alles sein . . . Aber . . .«

»Aber«, vollendete Helene, »dir ist ein Spatz in der Hand lieber als eine Taube auf dem Dach. Das weiß ich längst und leider muß ich dir immer wieder sagen, das ist falsch. Du bist zu kleinlich. Dein Horizont ist zu eng. Um ein Trinkgeld heute verscherzt du dir spätere Millionen. Denn glaube nur nicht, daß es Georg auf die Dauer verborgen bleiben könnte, daß du mit in diesem französischen Spiel steckst. Also . . .« Helene sah Forbin mit zwingendem Blick an.

»Helene, du sollst recht haben. Ich muß offen gestehen, so ganz geheuer ist mir die Sache auch nicht. Ich bin ja nicht umsonst die ganzen Tage unterwegs gewesen, um nach anderen, lohnenderen Dingen Umschau zu halten. Als ich mich auf diese Sache einließ, war Not am Mann. Wir saßen scheußlich in der Tinte. Fände ich etwas anderes Gutes, würde ich sofort abschwenken.«

»Da habe ich etwas vorgesorgt, Alfred. Nicht ohne Grund habe ich mir alle Mühe gegeben, Castillac aufzustöbern, und fahre nicht zu meinem Vergnügen mit diesem mir im Grunde höchst gleichgültigen Menschen andauernd in der Landschaft herum. Wenn sich dahinten im Fernen Osten die Dinge weiter so zuspitzen, dürfte Castillacs Weizen blühen, und dabei müßten sich auch für dich lohnende Geschäfte entwickeln.«

»Sehr gut, Helene! Das wäre allerdings eine feine Sache. Waffengeschäfte sind immer sehr lohnend . . .«

»Ah! Da kommt ja Georg«, unterbrach ihn Helene, »komm, Alfred, ich bin gespannt, wie er sich zu eurem Streich stellt. Eine Gemeinheit bleibt's auf jeden Fall. Gut, daß du nicht direkt damit zu tun hast.«

Georg war inzwischen herangekommen und begrüßte die beiden. »Anne ist wohl oben? Da möchte ich . . .«

»Bleiben Sie nur hier, Herr Astenryk«, sagte Forbin. »Sie wird gleich herunterkommen. Wir speisen ja jetzt. Aber was sehe ich? Wollen Sie verreisen?«

»Ja! Verreisen, und zwar auf lange . . . wahrscheinlich sehr lange Zeit, Herr Forbin.«

»Wie? Was?« Anne war aus dem Hotel getreten und nahm Georgs Arm. »Du willst verreisen? Wie meinst du das?«

»Das ist mit vier Worten kurz erklärt. Man hat mich 'rausgeschmissen!«

»Wer? . . . Wie? . . . Wie ist das möglich? Du sagtest doch noch gestern, du würdest noch vier Wochen bleiben können?«

»So sah es auch gestern noch aus. Inzwischen ist man meinem Verbrechen auf die Spur gekommen . . . daß ich nämlich Standuhren, Büfetts, silberne Löffel und dergleichen mehr heimlich beiseiteschaffe.«

»Ach! Du scherzt!« rief Anne ungeduldig.

»Liebe Anne, mir ist wirklich nicht zum Scherzen zumute«, sagte Georg und erzählte, wie er tatsächlich vor einer Stunde exmittiert worden wäre, weil gewisse Interessenten dem Gericht diesen unglaublichen Verdacht glaubhaft gemacht hätten.«

Anne stand entsetzt. »Lieber Georg! Das ist doch unmöglich!«

Der zog ihren Arm fester an sich heran. »Du glaubst gar nicht, Anne, was alles möglich ist, wenn vor Gericht Leute erscheinen, die statt eines Gewissens einen Ballonreifen haben. Wenn ich mich auf einen Prozeß einlassen wollte, würde der Schwindel, der da getrieben wurde, natürlich zutage kommen. Aber wozu? Um der paar Wochen willen? Nein! Da habe ich denn doch etwas Besseres zu tun. Abgesehen davon, daß mir niemand derartige Dinge zutraut, der mich kennt.«

Ein Kellner kam und rief zum Mittagsmahl.

Die Suppe war gegessen. Ein knuspriges Rippespeer wurde auf den Tisch gebracht.

»Seht mal Alfred an! Wie der schmunzelt«, lachte Helene. »Sein Leibgericht! Komm, Alfred, laß dir auftun.«

Schon hatte Forbin Messer und Gabel ergriffen und wollte eben den ersten Bissen genießerisch in den Mund schieben, da kam der Kellner: »Herr Forbin wird am Telephon gewünscht.«

Aus Forbins vollem Munde kam ein halberstickter Fluch. »Der Kerl kann sich aber auf was gefaßt machen, der mich jetzt hier vom Tisch wegholt.« Wütend stand er auf. – –

Die Teller der anderen wurden leerer und leerer. Die Soße auf dem Teller Forbins begann zu gerinnen. Endlich kam er wieder. Jeder konnte ihm ansehen, daß er eine sehr unangenehme Nachricht bekommen haben mußte. Stumm setzte er sich an seinen Platz und stocherte eine Zeitlang mechanisch mit der Gabel auf dem Teller. Schließlich schob er ihn zurück, stand auf.

»Manche Menschen treiben eben die Rücksichtslosigkeit zu weit! Ich habe Kopfschmerzen, will nach oben gehen.« Helene erhob sich gleichfalls und folgte ihm. Kaum waren sie allein, da brach der Sturm los.

»So eine bodenlose Schweinerei! Mir kam ja das Benehmen Astenryks gleich von Anfang an nicht ganz geheuer vor. Diese unnatürliche Gelassenheit nach der Exmission . . . die Ironie, die in allen seinen Bemerkungen lag, machte mich stutzig.«

»Brauchst du mir alles nicht zu erzählen, drängte Helene. »Hab' ich auch gemerkt. Nun schnell! Sag, was ist denn los?«

»Ja, denk' dir nur an, Helene, dieser verfluchte Kerl hat, noch ehe der Konkursverwalter ihm den Gerichtsbeschluß verkündete, das ganze Labor zerstört.«

»Wie? Was? Er hat alles entzweigeschlagen?«

»Ach was! So meine ich's nicht. Er hat die Anlage vollkommen in Unordnung gebracht, Meßinstrumente falsch eingestellt . . . die Säuren irgendwie versaut . . . na, kurz und gut, alles in einen Zustand gebracht, daß selbst der gelehrteste Teufel nichts mit dem Kram anfangen kann. Kurz, der so schlau erklügelte Trick der Herren Godard und Genossen ist ins Wasser gefallen.«

Helene sah ihn ironisch lachend an. »Und darum regst du dich so auf? Vergißt alle Selbstbeherrschung? Machst dich lächerlich?«

»Ach, Unsinn! Hältst du mich für so kindisch? Das Schönste kommt erst noch. Ich . . . ja, ich soll das Karnickel sein, das schuld daran ist.«

»Du? . . . Verrückt! Wer sagt denn das? Wer wagt das zu behaupten?«

»Herr Godard! Der war selbst am Telephon. Er sagte mir klipp und klar, Astenryk müßte doch vorher irgendwie Wind von unserem Vorhaben gekriegt haben. Er und Samain kämen dabei natürlich gar nicht in Betracht. Also bei mir blieb's hängen. Er wagte nicht, mich direkt zu beschuldigen, aber er behauptete, ich wäre sicherlich in irgendeiner Weise unvorsichtig gewesen.«

Seine Frau legte sich nachdenklich in einen Sessel. »Hm! Unangenehme Sache . . . Höchst rätselhaft . . . wenn du dich heute abend mit Godard und Samain im Hotel triffst, gehe ich mit. Bis dahin Schluß mit der Angelegenheit.« –

Anne kam in das Zimmer. »Georg ist in die Stadt gegangen. Er hat noch allerlei Geschäfte zu erledigen, Rechtsanwalt, Konkursverwalter und so weiter. Er fährt um sechs Uhr nach München. Ich soll um halb sechs am Bahnhof sein.«

Helene sah forschend in das Gesicht Annes. Hatte Georg vielleicht schon gegen Alfred Verdacht geschöpft und Anne etwas davon gesagt? Nein! Sicher nicht. Sie verstand ja so gut in Annes Gesicht zu lesen. Die war ganz arglos.

»Übrigens, Anne, was hat denn Georg für Zukunftspläne? Ich fand vorher gar keine Zeit, danach zu fragen.«

»Er fährt direkt nach München zu seiner Tante Mila. Du weißt, der verwitweten Frau Professor Potin.«

»Und dann weiter? Er wird doch nicht immer dort bleiben wollen?«

»O ja! Vorläufig will er dort bleiben. Das heißt nicht in München selbst, sondern im Almhaus der Tante Mila. Es liegt in den Bergen am Wilden Rain.«

»Ah, so! Er will Sommerfrische am Wilden Rain halten . . . Oder will er etwa dort auch arbeiten?«

»Wahrscheinlich beides«, sagte Anne lächelnd. »Georg ohne Arbeit kann ich mir gar nicht vorstellen.« – – –

Georg und Marian trafen sich, wie verabredet, bei Stennefeld, der vor den Toren der Stadt ein kleines Landhäuschen bewohnte. Sie nahmen von dem alten Mann, der so viele Jahrzehnte im Dienst der Firma gestanden hatte, herzlichen Abschied. Dann gingen sie um die Stadt herum durch die Parkanlagen dem Bahnhof zu. Als sie an einem großen Teich vorbeikamen, blieb Georg stehen und deutete auf die dunkle Wasserfläche.

»Heute sind es gerade sechs Jahre, daß mein Bruder Jan an der Stelle hier die unselige Tat beging. Ich vergesse nie den Anblick, als man ihn für tot ins Haus brachte. Sein Selbstmordversuch damals, unter so unerklärlichen Umständen . . . sonderbar, daß man nie so recht dahintergekommen ist, was dem blühenden, frohsinnigen Menschen die Waffe in die Hand drückte.

Gerüchte wollten wissen, daß Jan und sein Freund Rochus Arngrim in heftiger Leidenschaft zu Helene Escheloh entbrannt waren, und Jan als der Verschmähte zur Pistole griff. Helene hat sich nie dazu geäußert. Das Auffällige bei der Sache war nur, daß zur selben Stunde Rochus Arngrim spurlos verschwand. Reisende wollen ihn noch am selben Tage an der belgischen Grenzstation gesehen haben. Daraus entstand jedenfalls bei manchem der Verdacht, daß die Kugel von Arngrim abgefeuert worden sei. Aber Jan hat das stets bestritten . . .«

Georg fühlte plötzlich, wie Marian seinen Arm umklammerte. Der starrte, wie wenn er ein Gespenst sähe, nach einer Eiche in der Nähe des Teiches.

». . . Du, Georg! . . . Da steht er ja! . . . Arngrim . . . da steht er . . . unter der großen Eiche . . . und da ist die Bank . . . und auf der Bank liegt eine Waffe . . . und jetzt kommt Jan und sie sprechen miteinander und Jan setzt sich hin . . . Arngrim geht fort . . . jetzt bleibt er hinter den Büschen stehen, sieht zu Jan hinüber . . . Jans Hand geht zu der Waffe . . . er nimmt sie in die Hand, legt sie wieder hin . . . nimmt sie wieder. Jetzt steht er auf, geht zum See, steigt in das Boot, rudert weit hinaus . . . Arngrim sieht ihm nach mit Augen . . . fürchterlich . . . entsetzlich. Und jetzt . . . Jan richtet die Waffe gegen seinen Kopf . . . schießt . . . fällt zurück ins Boot. Arngrim läuft fort . . . jetzt ist er verschwunden . . . Jan? . . .«

Wie aus einer Vision erwacht sahen sie sich in die blassen, verzerrten Gesichter.

»Marian!« kam es heiser aus Georgs Munde, »was war das? Ein Traum . . . ein Gesicht? . . .«

Der schüttelte den Kopf. Begann dann stockend wie mechanisch zu sprechen:

»All das Schreckliche, das dein geistiges Auge sah, dein Hirn empfand, drang von fern her in mein Bewußtsein . . . Wer hat es gedacht? . . . Nur Arngrim selbst kann es gewesen sein. Nicht Jan. Was Jan tat, dessen war er sich ja selbst nicht bewußt . . .

Er folgte dem mächtigen Willen eines Stärkeren, der ihn in Gedanken zwang, sich selbst den Tod zu geben . . . Heute, am Tage der Tat, mochte wohl Arngrim stärker als je an sein ruchloses Handeln erinnert sein. Noch einmal erlebte er, wie wahrscheinlich schon früher, heute sein Verbrechen . . . seine Gedanken daran so stark, daß ich sie hier mitempfand . . . Und du, durch die gleichzeitige Erinnerung an jenen Tag und unsere Berührung mit mir eingestimmt, empfandest alles das, was zu mir drang, mit . . . Jetzt wissen wir, wie das alles damals geschah . . .«

Georg blickte sinnend vor sich hin.

»Du magst recht haben, Marian«, sagte er dann, »das wäre eine Erklärung. Gehört hat man ja schon mehr als einmal vor der weitspannenden Wunderkraft fremden starken Geistes. Wer's nicht selbst erlebte, kann es nicht glauben, lacht darüber. Und doch . . . wer weiß, was wir wissen, muß daran glauben.

Rochus Arngrim . . . Wo mag er sein?«

*

Und noch ein anderer sah und hörte zur gleichen Stunde das Grausige in der gleichen Weise, wie es Georg und Marian vernahmen. Der Abt Turi Chan in seinem Gemach im Lamakloster Gartok am Himalaja. Und der, der mit stummen Lippen diesen Bericht gab, dessen Hirn jene Bilder in Erscheinung treten ließ, der Mönch Sifan, saß ein paar Türen weiter in seiner Klosterzelle; den Kopf in die Hände vergraben, durchlebte er noch einmal im Bann eines fremden Willens sein weltliches Leben und jenen Tag als dessen Abschluß. Durchlebte weiter alles, was danach kam. Die Flucht über die Grenze, von bitterer Reue gequält, die Fahrt über das weite Meer zu Indiens Küste. Die monatelange Wanderung mit einem Lamapilger nach Norden, bis sich hinter dem Weltflüchtling das Tor von Gartoks Mauern schloß.

Sinnend saß der Abt. Das also war's, was diesen Westländer hierhergebracht hatte. Die Flucht vor Gewissensqualen wegen jener Untat; der Wunsch, in läuterndem Leben die schwere Sünde zu sühnen. Damals, als der an die Pforte von Gartok pochte, hatte er ihn gefragt, was ihn, den Westländer, zu Buddhas Lehre und Glauben treibe. Der hatte ihm sein früheres Leben erzählt, von einer schweren Tat gesprochen, ohne Näheres darüber zu sagen. Jetzt hatte er mit Allgermissens Kunst erzwungen, daß der Mönch dunkelste Herzenskammern öffnete und seine Gedanken ausströmen ließ . . . zu des Abtes Gemach . . . in das Weltall . . . ob es noch andere Menschen gab, die das vernommen hatten? . . .

Der Abt legte den Kopf zurück. Die Augen in dem starren Gesicht schimmerten kalt und grau unter den buschigen Brauen. Über den hohen Backenknochen lagen sie in tiefen Höhlen. Kinn und Untergesicht deuteten auf stärkstes Zielbewußtsein, schonungslose Energie. Die ganze Erscheinung die Gestalt eines Mannes, der zum Herrschen geboren und nicht gewöhnt, sich bei seinen Entschlüssen um die Meinung anderer zu kümmern.

Von seinen Gedanken stark bewegt, stand er auf, und wie er den Kopf zur Seite wandte und in großen Schritten durch das Gemach ging . . . ein anderes Gesicht . . . fast ein anderer Mensch, ein Westländer schien er da zu sein.

Seine Lippen bewegten sich, formten Worte.

»Da kommen sie zu uns vom Abendlande her . . . in Seelennot . . . im Streben nach letzter, tiefster Erkenntnis des Lebens. Aber immer bildet die Verschiedenheit von Blut und Rasse die kaum überschreitbare Schranke, ganz eins zu werden mit unserem Fühlen und Denken . . . je stärker der Charakter, desto stärker die Hemmungen . . . Sisan . . . einst Rochus Arngrim . . . erst wenige Jahre ist er bei uns . . . er ist ein starker Charakter . . .«

Vor einem Schrank blieb Turi Chan stehen, entnahm ihm ein Buch und kehrte zu seinem Sessel zurück. Er öffnete es, nahm einen Brief heraus. Die Schriftzüge waren kaum noch zu entziffern. Wasser mußte den Brief beschädigt haben. Doch der Abt las sie leicht, hatte er doch den Brief und das Buch gar viele Male gelesen.

Es waren die Schriftzüge Allgermissens. Der hatte den Brief geschrieben an seinen Freund Rochus Arngrim. Der Brief begann mit Erinnerungen an die Zeit, wo Allgermissen und Arngrim einander kennengelernt hatten . . . Der Weltkrieg . . . die Kämpfe im Baltikum . . . Arngrim unter den Truppen, welche die rote Schreckensherrschaft brachen. Bei der Erstürmung Rigas verwundet . . . in das Haus Allgermissens gebracht. Freundschaftliche Beziehungen . . . gemeinsames Interesse an okkultphysikalischen Dingen . . . Studien über die Raumstrahlungen des denkenden Hirns . . . Arngrim . . . Erbe der in dem Buch aufgezeichneten Entdeckungen . . . Tochter Lydia . . . ganz allein in der Welt . . . Ihrer Fürsorge . . .

Der Abt faltete das Papier zusammen und legte es wieder in das Buch zurück. Er wog das Buch in der Hand:

»Leicht bist du, und doch birgst du vielleicht Weltenschicksale!«

Wie würde sich vieler Menschen Los . . . das Geschick der Welt gestaltet haben, wenn Allgermissens Vermächtnis in die Hände gekommen wäre, für die es bestimmt war, in die Hände des Rochus Arngrim? . . . War er im Recht, wenn er dem das Erbe Allgermissens vorenthielt?

Eine leichte Handbewegung, als wenn er eine Fliege verscheuche.

»Ich war im Recht! Die Götter haben es so gewollt, haben mir Sifans Haupt und Allgermissens Vermächtnis in die Hand gelegt. Wie sichtlich die Fügung der Himmlischen!« –

Als wäre es heute gewesen, stand der Tag vor ihm, an dem Allgermissens Hinterlassenschaft in das Kloster kam. Eine burätische Karawane stand drüben am Ufer des angeschwollenen Flusses und konnte den Übergang nicht finden. Der Mönch Sifan kam hinzu, wies ihnen die Furt, ritt voran. Da, in der Mitte des Flusses, strauchelte das Pferd eines Mädchens, geriet ins tiefe Wasser. Sifan sprang aus dem Sattel, wollte sie retten, wurde mit ihr in die todbringenden Wirbel gezogen.

Der Führer der Karawane schwang sich auf einen vorübertreibenden Baumstamm, lenkte ihn auf die mit dem Tode Kämpfenden zu, warf denen einen Strick hinüber. Auf einer Sandbank weit unten gelang es ihm, mit den Geretteten ans Ufer zu kommen. Von Mönchen, die herbeigeeilt, wurden das Mädchen und Sifan, die bewußtlos geworden, ins Kloster gebracht. Viele Tage kämpfte Sifan, von Fieberschauern geschüttelt, mit dem Tode.

Das Mädchen hatte man auf ein Lager gebettet. Als sie ihr den nassen Khalat, das Burätenkleid, abtaten, staunten sie, daß es ein westländisches Mädchen war. Eine Blechbüchse, die an einem Riemen um ihre Schulter hing, nahm Turi Chan an sich, Flußwasser war in sie eingedrungen. Er öffnete sie und sah, daß Papiere darin waren, die schon stark durch die Nässe gelitten hatten. In der Annahme, daß es wichtige Familienpapiere sein könnten, breitete der Abt sie zum Trocknen aus.

Es war ein Buch, von Hand geschrieben, alle Seiten gefüllt mit Zahlen, Skizzen und Erklärungen, und ein Brief, der in schon verschwommenen Zügen die Aufschrift trug: An Rochus Arngrim in Deutschland . . . Das mußte einer geschrieben haben, der noch nicht wußte, daß aus Rochus Arngrim schon seit Jahren der Mönch Sifan geworden war . . .

Überrascht, aufs höchste erstaunt, überflog Turi Chan den halbgetrockneten Brief. Der Name Algermissen machte ihn neugierig. War doch vor Monaten eine dunkle Kunde zu ihm gedrungen von sonderbaren Vorgängen in Irkutsk bei General Iwanow. Er brachte die Papiere in sein Zimmer, las . . . las wieder. Zuerst ungläubig . . . zweifelnd. War das, was auf diesen Blättern stand, ernst zu nehmen . . . oder waren es Phantasien eines kranken Geistes?

Und dieses Mädchen sollte Lydia Algermissen sein? Er schickte nach dem burätischen Führer, wollte ihn fragen, wie er zu dem Mädchen gekommen sei. Der war längst weitergezogen. Er sprach mit ihr selbst, erfuhr, daß sie tatsächlich Allgermissens Tochter sei. Von den Vorgängen in Irkutsk bei Iwanow wußte sie nichts. Ihre übrigen Angaben waren unklar, der Zusammenhang schwer verständlich.

Er hatte damals lange überlegt, was er mit ihr anfangen solle. Da erinnerte er sich, daß in der Nähe des Klosters ein englischer Botaniker, ein Dr. Musterton, lagerte. Der kam hin und wieder zu botanischen Exkursionen über die Grenze. Er kannte Musterton, war der doch manchmal ins Kloster gekommen, um seine Vorräte zu ergänzen.

Damals hatte er ihn holen lassen und um Rat gefragt. Musterton hatte keinen Moment gezögert, sich Lydia Allgermissens anzunehmen. Drüben, jenseits der Grenze, auf englischem Gebiet, hatte der Doktor in einem Dorf sein Standlager, wo auch seine Familie sich aufhielt. Lydia Algermissen würde eine willkommene Hausgenossin sein. – – –

Das Erbe Allgermissens . . . der Abt ließ die Blätter des Buches durch die Finger gleiten . . . nie hatte Sifan etwas davon erfahren. Sein Eigentum, sein kostbarer Besitz war es geblieben. In monatelanger mühseliger Arbeit hatte er versucht, in den Geist dieser Aufzeichnungen einzudringen, ihren Kern und Sinn zu erfassen. Es war ihm gelungen, den Schleier ein wenig zu lüften. Die Probe, die er vor einer Stunde mit dem Mönch Sifan gemacht hatte, war der Beweis dafür.

Turi Chan stand auf, ging langsamen Schrittes zu dem Schrank, verschloß das Buch sorgfältig und überlegte.

Dieser Sifan – kein gewöhnlicher Mensch. Um der Liebe eines Mädchens willen mißbrauchte er die Schicksalsgabe und lenkte des Freundes, des Nebenbuhlers Gedanken, daß der die bereitgelegte Waffe ergriff und sich damit den Tod gab. Welch starker Wille strahlte aus dieses Westländers Hirn, daß er sich einen anderen unterwarf bis zur Selbstvernichtung . . . und das alles aus eigener, natürlicher Kraft. Ob selbst Allgermissen das vermocht hätte? . . . Er wußte, im Volke gingen Sagen, daß es heilige Lamas gegeben habe und noch gebe, die solche Kräfte besäßen.

Die Stirn des Abtes krauste sich. Der Gedanke, einen Mann mit solchen übernatürlichen Fähigkeiten im Kloster zu haben, verursachte ihm Unbehagen. War es nicht möglich, daß dessen Kräfte noch weiter gingen, daß er eines Tages irgendwie erfuhr von der Erbschaft Allgermissens hier in diesem Schränkchen? Er beschloß, ihn für einige Zeit aus dem Kloster zu entfernen. Ein Grund war leicht zu finden. Er brauchte ihn nur als Boten mit einem Brief an den Abt eines anderen Klosters zu schicken. Der würde ihn dann so lange dort behalten, wie es Turi Chan paßte. – – –

Am nächsten Morgen wanderte Sifan durch das Tal des Rogu dem Kloster Tschaidam zu mit einer Botschaft an dessen Abt. Am Abend des zweiten Tages schritt er einem kleinen Dorf zu. Als er näher kam, sah er unter einer Tamariskengruppe einige Zelte aufgeschlagen, vor denen ein Feuer brannte.

Er wollte daran vorbeigehen, da erblickte er den englischen Botaniker Dr. Musterton. Der rief ihn an. Sie kannten sich, weil Sifan manchmal den Dolmetscher gemacht hatte, wenn Musterton ins Kloster kam.

Sie unterhielten sich eine Weile über Zweck und Ziel ihrer Reise. Dann lud Musterton den Mönch ein, die Nacht in seinem Lagerort zu verbringen. Sie hatten sich eben am Feuer niedergelassen, da kam ein junges Mädchen mit einem Topf Tee aus einem der Zelte. Als sie in den Schein des Feuers kam, blieb sie unvermittelt stehen und blickte den Mönch betroffen an. Musterton fragte lächelnd: »Kennst du den Mönch Sifan vielleicht noch von Gartok her?« Dann wandte er sich an Sifan: »Vielleicht erinnern Sie sich, daß vor ein paar Jahren ein Mädchen, das mit einer Karawane ritt, beim Durchschreiten der Furt bei Gartok mit ihrem Pferd in eine Tiefe geriet. Ein Mönch Ihres Klosters wollte sie retten, kam dabei selbst in Lebensgefahr . . .«

Musterton hielt inne. Das Mädchen war auf Sifan zugegangen und reichte ihm die Hand. »Sie sind's, der mich damals rettete. Oh, wie freue ich mich, Sie wiederzusehen, um Ihnen von ganzem Herzen für Ihre mutige Tat zu danken.«

»Ah, Sie waren es!« rief Dr. Musterton und schüttelte dem Mönch die Hand. Der dachte im stillen: Warum hat man mir niemals gesagt, daß die Gerettete eine Europäerin war? Wie um den Dank abzuwehren, sagte er: »Ich meinte doch, es wäre ein Burätenmädchen gewesen.«

»Sie wurden wohl durch die burätischen Kleider getäuscht, die ich trug. Unter dem Kopftuch mochten Sie wohl mein Gesicht gar nicht erkannt haben.« Sie deutete auf ihr dunkelblondes Haar.

»Das nenne ich aber einen glücklichen Zufall, daß wir uns hier, zwei Tagereisen von Gartok, treffen müssen«, rief Musterton, »der Tee ist heiß, setzen wir uns! Aber nein.« Über Mustertons langes, schmales Gesicht ging ein vergnügtes Lächeln. »Da wir uns in rein europäischer Gesellschaft befinden, muß ich, dortigen Gepflogenheiten entsprechend, die Herrschaften miteinander bekannt machen. Hier, liebe Lydia, stehst du den Mönch Sifan aus Deutschland, und diese junge Dame, Mister Sifan, ist Fräulein Allgermissen aus Riga.«

Der Mönch warf mit einem Ruck den Kopf zurück. »Allgermissen?! . . . Fräulein Allgermissen . . . Sie sind aus Riga?« Er deutete mit der Hand auf Lydia. Der Ton, in dem er sprach, war so erstaunt . . . so erregt, daß die beiden anderen ihn überrascht ansahen. Musterton fragte verwundert:

»Sie sprechen den Namen aus, als wäre er Ihnen bekannt, Sifan?«

»Ich kannte einst einen Professor Allgermissen in Riga . . .«

»Mein Vater!« schrie Lydia auf. »Sie kannten ihn?«

»Als Verwundeter lag ich während des großen Krieges lange in seinem Haus. Wir wurden gute Freunde. Später . . . die Revolution in Rußland, in Deutschland . . . habe ich nie wieder von ihm gehört.«

»Wie wunderbar!« sagte Lydia und sah den Mönch mit strahlenden Augen an. »Treffe ich hier einen Freund meines guten Vaters . . . wie . . . wie hießen . . . Sie denn früher? Ich war ja damals noch ein kleines Kind. Aber vielleicht wurde der Name später in unserer Familie genannt?«

Der Mönch senkte den Kopf. »Früher . . . hieß ich . . . Rochus Arngrim.«

Ein Schrei aus dem Munde des Mädchens. Lydia wich einen Schritt zurück, sah ihn mit Augen an halb ungläubig, halb entsetzt.

»Sie sind Rochus Arngrim?!« Die widerstreitenden Gefühle, Überraschung . . . Freude . . . Schreck jagten sich in ihren Mienen.

»Lydia, was ist mit dir? Wie kann dich dieser Name so erschüttern?« rief Dr. Musterton. Die trat an den Mönch heran, schaute ihn an, als wenn sie ihn zum erstenmal sähe.

»Arngrim sind Sie? Der Arngrim, zu dem ich mich begeben sollte, wenn ich in Deutschland wäre? Mein Vater . . . gab mir wichtige Papiere mit, die ich Ihnen bringen sollte.«

»Ah, Lydia, da hast du nie davon gesprochen«, fiel Dr. Musterton ein. »Papiere solltest du nach Deutschland bringen, zu Arngrim? Und Sie«, er deutete auf Sifan, »sind der Arngrim, für den die Papiere bestimmt waren?«

»Ja! Es waren wissenschaftliche Aufzeichnungen. Mein Vater nannte sie in seinem Abschiedsbrief sein Vermächtnis.«

»Und wo sind diese Papiere?« drängte Sifan.

»Ich habe sie nicht mehr«, antwortete Lydia mit leiser Stimme, »ich trug sie in einem Blechkästchen an einem Riemen um die Schulter. Sie müssen damals bei dem Unfall im Fluß verlorengegangen sein. In Gartok wurde mir gesagt, man wisse nichts davon.«

»Setzen wir uns«, sagte Dr. Musterton nach einer Pause, »da wird es noch viel zu erzählen geben.«

Sifan stand noch eine Weile und blickte sinnend in das Feuer. Waren die Papiere, das Vermächtnis Allgermissens, wirklich im Fluß versunken? –

»Nun mußt du erst noch einmal erzählen, Lydia, wie du aus Irkutsk entkamst«, sagte Dr. Musterton.

Lydia begann: »Eines Tages wurde ich zum Inspektor des Gefängnisses gerufen. Der sagte mir, ich wäre frei und könnte das Gefängnis sofort verlassen. Mit bangem Gefühl nahm ich den Entlassungsschein an mich und fragte nach dem Vater. Ein gleichmütiges Achselzucken des Beamten, ein Wink zur Tür war die Antwort.

Ich eilte so rasch ich konnte nach Hause, hoffte im stillen, den Vater dort zu finden. Er war nicht da. Wo war er? Halbtot vor Angst und Furcht dachte ich, ob sie ihn hingerichtet hätten oder ob er später entlassen würde. Da fiel mein Blick auf den Tisch, wo an einer Ecke der Staub stark verwischt war. Es mußte vor kurzem jemand hier gewesen sein. Vielleicht der Vater, sagte ich mir. Dann würde er doch irgendeine Botschaft hinterlassen haben. Ich eilte zu dem großen Ofen, wo mein Vater hinter einer losen Kachel Papiere, die er vor der ewig schnüffelnden Spionage sichern wollte, zu verstecken pflegte. Ich entfernte die Kachel und griff in die dunkle Öffnung. Da fand ich ein flaches Blechkästchen. Als ich den Deckel aufklappte, lag zu oberst ein offener Brief des Vaters an mich. Der gebot mir, sofort zu dem Schrank in der Küche zu gehen, wo burätische Kleider verborgen seien. Die sollte ich anziehen, die Blechbüchse darunter um die Schulter hängen und sofort das Haus durch die Hintertür verlassen. Dann sollte ich den Pfad einschlagen, der um die Stadt herum zur großen Karawanenstraße führt. An der Brücke würde ich ein kleines Mongolenlager finden. Der burätische Führer sei unterrichtet. Er habe ein gutes Geldgeschenk bekommen, ich dürfe ihm trauen. Er würde mich in seiner Karawane nach Süden bringen, bis ich in Sicherheit wäre. Noch einmal befahl der Brief mir höchste Eile. Meine Freiheit wäre nur von kurzer Dauer, jede Minute sei kostbar.

Ich tat, wie mir der Vater geschrieben hatte, fand die Karawane an der Brücke, und dann wanderten wir nach Süden . . . viele Monate lang . . . der indischen Grenze zu, wohin mich der Buräte bringen sollte. Das andere ist ja bekannt.«

Lange saßen sie noch am Lagerfeuer. Dr. Musterton erzählte, wie Lydia zu ihm gekommen sei und schon mehrere Jahre in seinem Hause weile. Sie habe ihn hin und wieder auf seinen Exkursionen begleitet. Vor einigen Tagen wären sie im Kloster Tschaidam gewesen, um das Fest der Wasserweihe mitanzusehen. Jetzt wollten sie nach Mustertons Standquartier zurück. Gesprächsweise erwähnte der Doktor auch, er werde bald Asien verlassen und nach Australien gehen, um dort im Auftrage der australischen Regierung seine Forschungsergebnisse praktisch anzuwenden.

Am anderen Morgen trennten sie sich. Dr. Musterton mit seiner Expedition ritt nach Süden, seinem Standlager zu. Sifan wanderte nach Norden zum Kloster Tschaidam hin.

*


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