Hans Dominik
Befehl aus dem Dunkel
Hans Dominik

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Gott sei Dank, daß du aus dieser Geschichte 'raus bist, Alfred.«

Das Ehepaar Forbin ging den Seitengang im D-Zug Paris–Brüssel entlang zum Speisewagen. An einem Tisch, an dem nur ein einzelner Herr saß, nahmen sie Platz. Immer gewohnt, vorsichtig zu sein, warteten sie, bis der Herr mit dem Kellner einige Worte gewechselt hatte. Ihr geübtes Ohr las aus dem Tonfall, der Sprechweise mit Sicherheit die Nationalität heraus. Der andere Herr sprach das Französisch, in dem er mit dem Kellner verhandelte, mit so reinem Pariser Akzent, daß ihnen ein Zweifel nicht möglich schien. Sie führten ihre Unterhaltung deshalb in deutscher Sprache.

»Du hast recht, Helene. Es war von vornherein falsch, daß wir uns auf diese Astenryksche Sache eingelassen haben.« Er sah dabei zu dem Kellner hin, der servierte. Sonst hätte er bemerken können, daß die Augen des Dritten sich bei dem Namen »Astenryk« interessiert auf ihn hefteten. »Der gute Forestier . . .« fuhr er fort, da ließ ihn ein warnender Blick Helenes verstummen. Gleichzeitig wandte diese sich an den Fremden und bat ihn in deutscher Sprache um die Speisekarte, die unter seinem Gedeck lag.

Der Herr unterdrückte noch im letzten Augenblick eine Bewegung nach der Karte und gab in französischer Sprache seinem Bedauern Ausdruck, nicht zu verstehen, was die gnädige Frau wünsche. Er spreche nicht Flämisch.

»Verzeihung, mein Herr, ich bat Sie um die Speisekarte«, sagte Helene jetzt auf französisch. »Übrigens«, setzte sie lächelnd hinzu, »sprach ich eben deutsch. Wir sind Deutsche.«

Mit einer Verbeugung reichte ihr Nachbar ihr die Karte und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.

»Forestier«, nahm Forbin seine unterbrochene Rede wieder auf, »hat anscheinend die Zeit seit dem Ruhreinbruch verschlafen. Er denkt, mit den Methoden von damals auch heute noch arbeiten zu können. Wenn er seine verrückte Idee wirklich durchführt, dürfte es einen schönen Krach geben. Ich sehe schon, wie die Pariser Herren – Minister Duroy nicht zu vergessen – beschwörend die Hände emporheben und sagen, sie wüßten von gar nichts, sie verurteilten Herrn Forestier aufs schärfste. Aber das wäre schließlich noch nicht das Schlimmste, wenn Forestier seinen Zweck wirklich erreicht. Was schadet es, wenn das schon immer trübe Verhältnis Berlin-Paris noch um eine Nuance trüber wird.«

»Nun erzähl doch endlich, Alfred! Solange wir bei Anne im Abteil saßen, durften wir über die Sachen nicht reden. Was will denn Forestier eigentlich machen? Will er Georg samt seinem Laboratorium nach Frankreich entführen?«

»Daran denkt er nicht, Helene. Sie werden es geschickter machen. Sie werden ihn einfach in seiner Almhütte überfallen und in der Nacht über die italienische Grenze bringen. Dort wird er an einer passenden Stelle ohne Paß ausgesetzt, während sie zurückfahren. Ein tüchtiger Ätherrausch wird den guten Georg in tiefem Schlaf halten.

Außerdem haben sie noch ein besonderes Stückchen präpariert. Forestier hat sich ein paar Pläne von oberitalienischen Befestigungen zu verschaffen gewußt. Die werden Georg, ehe sie fortfahren, in die Tasche praktiziert. Na, das Weitere kannst du dir ja denken. Jedenfalls gewinnen Forestier und seine Hinterleute Zeit, während Georg in irgendeinem Prison steckt, um in aller Ruhe seine Arbeiten in Augenschein zu nehmen und sich in jeder Weise über den Gang seines Verfahrens – schriftliche Aufzeichnungen werden ja auch da sein – vollständig zu unterrichten. Ist an den Versuchen Georgs wirklich was dran, so wird es nicht lange dauern, dann werden die ersten französischen Patente herauskommen.«

Helene sah mit gerunzelten Brauen durchs Fenster.

»Der Plan an sich«, meinte sie leise, »ist nicht übel. Daß er sich aber gegen Georg Astenryk, unseren zukünftigen Schwager, richtet, gefällt mir gar nicht. Das ist scheußlich. Wie gesagt, es war die höchste Zeit, daß du dich aus dieser Sache zurückzogst. Das hätte für uns zu nichts Gutem geführt. Wann soll es denn geschehen?«

Forbin zuckte die Achseln. »In den nächsten Tagen wahrscheinlich. Sobald ich Forestier gesagt hatte, daß ich mich an dieser Affäre auf keinen Fall beteiligen würde, wurde er sehr zugeknöpft. Er nahm mir die Sache höllisch übel. Aber ich gab ihm einige Beruhigungspillen und sorgte dafür, daß das Band zwischen mir und Paris nicht ganz zerschnitten wurde. Man kann nie wissen, ob man diese Verbindung nicht noch mal braucht.«

»Hoffentlich treffen wir in Brüssel sofort Mr. Shugun. Es ist selbstverständlich, daß er durch uns mit Baron de Castillac bekannt gemacht wird. Du mußt nur darauf achten, dich von Castillac nicht beiseite drängen zu lassen. Was ich tun konnte, habe ich getan. Jetzt ist es deine Sache, dich bei Shugun und Castillac unentbehrlich zu machen.« –

Sie hatten gegessen. Forbin stand auf. »Soll ich dir jetzt Anne schicken oder gehst du mit ins Abteil zurück? Sie wird auch Hunger haben.«

»Ich gehe mit. Anne kann allein hierherkommen und essen.«

Die beiden standen auf und gingen in ihren Wagen zurück. Der einzelne Herr, der neben ihnen gesessen und sich während der Mahlzeit anscheinend sehr stark in seine französische Zeitung vertieft hatte, sah ihnen nach, bis sie durch die Tür verschwunden waren. Nachdenken, Sorge, Abscheu malten sich in seinem Gesicht. Was war das für ein übles Pärchen? Anscheinend Mann und Frau, dachte er, obgleich mir die schöne, elegante Weltdame nicht recht zu diesem Menschen zu passen scheint, der den Eindruck eines zweitklassigen Hochstaplers macht . . . Ob der Astenryk, von dem sie sprachen, wohl mein netter Reisegefährte von damals ist? Dann würde ich ihn gern warnen, wenn ich's könnte. Aber ich kann nicht glauben, daß dieser feine, vornehme Mensch mit der Schwester eines der beiden verlobt ist. Das wäre ja eine nette Verwandtschaft . . .

Major Dale beschloß, den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten und bestellte sich eine Tasse Kaffee. Da trat Anne in den Wagen und setzte sich auf den Platz, den Helene bisher innegehabt hatte. Sie aß ein wenig von den Speisen und zog dann einen Brief aus der Tasche, den sie kurz vor der Abreise von Georg bekommen hatte. Den Umschlag legte sie mit der Rückseite nach oben auf den Tisch.

Immer wieder las sie die lieben, guten Worte Georgs, der mit freudiger Genugtuung von den Fortschritten seiner Arbeiten berichtete und in scherzhafter Weise seine und Marians Wirtschaftsführung da oben am Wilden Rain beschrieb. Sie war so vertieft in die Lektüre des Briefes, daß sie nicht bemerkte, wie ihr Gegenüber forschende Blicke über das Zeitungsblatt hinweg auf sie richtete, wie seine Augen voller Interesse auf der Rückseite des Kuverts hafteten und dort die Adresse des Absenders lasen: Georg Astenryk.

Ah . . . Georg Astenryk . . . ob es wirklich derselbe ist? Nach all dem, was die beiden da vorher erzählten, wäre es denkbar. Jetzt, wo ich das junge Mädchen, anscheinend die Schwester der Dame, vor mir sehe, halte ich es doch für möglich, daß es seine Verlobte ist . . . Diese jugendlich anmutige Gestalt . . . dieses reine, unschuldige Gesicht . . . die schmalen Wangen, auf denen jetzt etwas Rührendes, der Widerschein reiner innerer Freude, liegt . . . diese klaren Augen . . . wie sie strahlten, als sie den Brief des Verlobten in die Hand nahm und las . . . da kann wohl ein Mann die Verwandtschaft vergessen und sein Herz verlieren . . .

Nun einerlei! Ich habe jedenfalls in kurzer Zeit hier allerhand Interessantes gesehen und gehört. Was die da erzählten von einem Mr. Shugun, einem Baron de Castillac, war recht wertvoll. Diese Herrschaften kenne ich ja zur Genüge. Der Herr Baron hat bestimmt nicht die Idee, Trampfahrten mit Waffenladungen zu machen und auf gut Glück damit hausieren zu gehen. Der hat sicherlich feste Bestellungen. Von Brüssel aus werde ich die nötigen Meldungen machen. –

Jetzt ließ das junge Mädchen den Brief sinken und schaute geradeaus. Da trafen ihre Augen die Dales. Eine leichte Röte ging über ihre Züge. Sie fühlte sich wie ertappt, daß ihre Mienen zu deutlich ihr Glücksgefühl beim Lesen des Briefes gezeigt hätten.

»Verzeihung, mein gnädigstes Fräulein, wenn ich Sie anspreche. Ich las da zufällig die Absenderadresse auf dem Umschlag Ihres Briefes.« Er zog eine Karte aus seiner Brieftasche. »Dieser Herr hier, ist es vielleicht derselbe?«

Erstaunt nahm Anne die Karte. Ein leichter Freudenruf. »Ach, mein Herr, Sie kennen Georg . . . Astenryk?«

»Gewiß, gnädiges Fräulein. Vor einigen Wochen fuhren wir zusammen ein Stück in der Richtung Paris. Wir unterhielten uns sehr gut. Es war mir ein Vergnügen, die Bekanntschaft . . . ich darf wohl annehmen, Ihres Verlobten . . . gemacht zu haben.«

Anne nickte ihm mit glücklichem Lächeln zu. Eine Weile plauderten sie lebhaft über Georg. Dann wurde das Gesicht des Majors ernster. Vorsichtig, jedes Wort wägend, sprach er von dem, was er aus der Unterredung von Helene und Alfred Forbin stückweise entnommen hatte. Je weiter Dale sprach, desto unruhiger wurde Anne. Obwohl der Major sich mit größter Zurückhaltung ausdrückte, war aus seinen Worten zu entnehmen, daß Georg Feinde habe, die Böses gegen ihn im Schilde führten. Annes Unruhe war zu höchstem Schrecken, stärkster Angst gestiegen, als Dale geendet.

»Das ist ja entsetzlich, fürchterlich! Wenn nur ein Teil von dem zuträfe, was Sie sagten . . . was kann ich tun? Ich bitte Sie, Herr Dale, raten Sie mir, was ich tun soll?«

Dale nahm einen Block aus seiner Tasche und begann zu schreiben. Es war ein Telegramm an Georg Astenryk. »So, gnädiges Fräulein, würde ich handeln, wenn mir die Adresse Ihres Verlobten bekannt wäre. Wollen Sie unterschreiben, so werde ich das Telegramm dem Schaffner sofort zur Expedition übergeben.«

Annes Augen überflogen die Worte, die da geschrieben waren. Sie griff zum Bleistift, schrieb die Adresse darüber, ihren Namen als Unterschrift. Der Major nahm das Blatt und ging hinaus.

»Sie können beruhigt sein, gnädiges Fräulein«, sagte er, als er sich wieder zu ihr setzte. »Das Telegramm ist schon unterwegs.« Er wollte noch weiter sprechen, da fiel sein Blick durch die Glastür in das Raucherabteil des Speisewagens.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein. Ich glaube, es ist ratsam, wenn wir unser Gespräch unterbrechen und uns fremd stellen. Gleich wird der Herr, der Gatte Ihrer Schwester, hier eintreten.« Bei den letzten Worten hatte er schon die Zeitung ergriffen und sich darin vertieft.

»Fassung, Fassung, mein Fräulein!« flüsterte er Anne zu, die mit zitternder Hand ihr Glas zum Munde führte.

»Na, Anne, wo bleibst du? Komm! Helene verlangt nach dir.« Forbin warf einen mißtrauischen Blick auf Major Dale, wandte sich dann kurz um und ging vor Anne her aus dem Wagen.

*

Die Sonne stand schon hoch über dem Wilden Rain, als die Fensterläden der Almhütte zurückgestoßen und die Fenster geöffnet wurden. Der erste Teil der Nacht war sehr unruhig verlaufen. Noch bis zum Morgengrauen hatten Georg und Marian zusammengesessen und über die Ereignisse gesprochen.

Georg legte sich ins Fenster und schaute hinaus. Der Hund sprang wedelnd am Fenster hoch, Georg kraute ihm den Kopf: »Das hast du brav gemacht, alter Nero!« Der Hund machte ein paar vergnügte Sprünge, lief dann über die Almwiese und kam mit etwas Glänzendem im Maul zurück.

»Na, Nero, was hast du denn da?« sagte Georg erstaunt, als der Hund sich am Fenster hochrichtete und ihm den Kopf entgegenstreckte. Er nahm ihm den Gegenstand aus dem Fang und betrachtete ihn verwundert. Es war ein silbernes Zigarettenetui. Georg öffnete es. Da stand eingraviert: »Camille Forestier«.

»Ah, Marian! Komm doch mal her! Hier dieses Beutestück ist auf der Strecke geblieben. Dieser Herr Hänli aus Straßburg heißt wohl besser Camille Forestier.«

Marian nahm das Etui in die Hand. »Wir werden es aufheben, Georg. Möglich, daß uns der Herr einmal wieder begegnet . . . dann können wir es ihm ja zurückgeben.«

»Das wünsch' dir lieber nicht! Er könnte dir bei dieser Gelegenheit die Watschen direkt zurückgeben, die du ihm durch den Münchner Rowdy indirekt verpaßtest. Übrigens war der Abschluß ihrer langen ›Habt-Acht-Stellung‹ da draußen nicht der schlechteste. Denn nach diesem knallenden Intermezzo dürfte die Heimkehr der fünf ungebetenen Gäste ganz bestimmt nicht in bester Eintracht vonstatten gegangen sein. Herrn Forestier dürften jedenfalls die Ohren heute noch unangenehm klingen.«

Georg hob schützend die Hand vor die Augen und sah den Weg zum Tal hinab. Da kam ein Bote gegangen und winkte von weitem. Georg eilte ihm ein Stück entgegen. Der brachte ein Telegramm. Georg riß es auf, las . . . las wieder.

Der Inhalt . . . die Unterschrift Annes . . . der Bote war längst verschwunden, da stand Georg noch immer überlegend, sinnend. Wie hing das alles zusammen? Sollte Forbin auch hierbei die Hände im Spiel gehabt haben? Aber nein . . . nach dem Telegramm zu schließen, das im Zuge Paris-Brüssel aufgegeben war, mußten sie ja alle jetzt in Brüssel sein. Langsam schritt er den Berg hinauf zur Hütte und gab das Telegramm Marian. Der las es.

»Das ist ja ein sonderbarer Zufall, Georg«, sagte er dann stockend, »wie konnte Anne das wissen? Nun, warte auf den nächsten Brief von ihr. Der wird dir Aufklärung geben.«

Durch Annes Telegramm von neuem erregt, sprachen sie über das Abenteuer der Nacht. Es war klar, daß da von französischer Seite eine schwere Gewalttat geplant war mit dem Ziel, sich in den Besitz von Georgs Person und seiner Erfindung, soweit sie vorlag, zu setzen. Was wäre geschehen, hätten sie nicht die Almhütte durch Algermissens Kräfte gesichert?

Georg zermarterte sich den Kopf in Gedanken an Anne. Nur widerwillig folgte er Marians Bitte, in das Laboratorium zu kommen. Und da war doch wirklich allerlei zu sehen, was sein Herz hätte erfreuen müssen. Die letzten Tage hatten beträchtliche Fortschritte gebracht. Sein Blick ging über die Belastungslampen. Sie waren der beste Beweis. An die letzte Versuchsbatterie angeschlossen, brannten sie schon seit Tagen mit gleichbleibender Spannung und Leuchtkraft. Die Protokolle gaben den untrüglichen Beleg, daß die Kohle in der Batterie mit einem außerordentlich hohen Nutzgrad verarbeitet wurde. Ob er wohl noch vor Anbruch des Winters zu der hundertprozentigen Nutzung kommen würde?

Auf die anderen Gläser mit den Kohlenstofflösungen warf er nur einen kurzen Blick. Hier schien alle seine Arbeit und Mühe umsonst. Wie viele Nächte hatte er schlaflos durchdacht! Berechnungen aufgestellt, wie er die widerstrebenden Kohlenstoffatome zur Kristallisation zwingen könne . . . Große, größte Mittel in den Händen, müßte er dann ja auch alles andere zu schnellerem, besserem Fortgang bringen . . . und Anne . . .? Auch für sie würde dann das bisherige Leben ein Ende haben. Er würde sie wegführen aus dem Hause der Schwester in sein eigenes Heim. Alles wäre dann erreicht . . . mit den Früchten der gelungenen Arbeit aus Annes Hand.

*

Die saß in Brüssel und schrieb einen Brief an Georg. Wiederholt hatte sie ein vollendetes Schreiben zerrissen. Es war ja so schwer, Georg Aufklärung zu geben, ohne ihre Verwandten allzu stark bloßzustellen. Endlich, nach vieler Mühe, glaubte sie den rechten Ton gefunden zu haben.

Sie überlas das Geschriebene und blickte trübe vor sich hin. So ginge es wohl. Sie verschloß den Brief und wollte ihn zum Postamt tragen. Vor dem Hause begegnete ihr der Briefträger mit einem Telegramm für sie. Sie riß es auf und las:

»Alles in Ordnung. Danke Dir tausendmal. Dein Georg.«

Der Telegraphenbote mochte wohl denken, sie hätte eine traurige Nachricht bekommen, Tränen liefen über ihre Wangen . . . Freudentränen. –

»So wäre alles in bester Ordnung«, meinte Alfred Forbin und schob Shugun ein Schriftstück zu. »Ich hege keinen Zweifel, daß die Prozente mir von Ihnen direkt, so wie wir es vereinbart haben, ausgezahlt werden. Sie, Herr Baron, werden das durchaus verstehen. Ich taxiere meine Arbeit bei diesen Waffenlieferungen nicht ganz gering ein. Vergessen Sie nicht, daß man zweifellos von englischer Seite aus ein Auge auf Sie haben wird oder schon hat. Denn daß die englische Regierung über Ihr Betätigungsfeld orientiert ist, dürfte außer Frage stehen. Ich dagegen bin für die Engländer vollkommen fremd und dürfte jedenfalls einer persönlichen Überwachung durch englische Agenten entzogen sein. Haben Sie übrigens Nachricht . . .« er wandte sich zu Shugun, »von dem Dampfer ›Kongsberg‹?«

Shugun nickte: »Unser Transport ist in Cadix von dem niederländischen Dampfer ›Graf Egmont‹ übernommen worden.«

Forbin kniff die Augen zusammen: »›Graf Egmont‹ . . . hm, ist doch eines der schnellsten Passagierschiffe der Amsterdamer Dampfschiff-Gesellschaft . . . hm! So eilig ist die Sache?«

»Keineswegs, Herr Forbin. Da irren Sie. Der ›Graf Egmont‹ löscht in Batavia. Das ist uns angenehmer als Hongkong. In Hongkong paßt man schärfer auf.«

Castillac sah Forbin mit einem schiefen Blick an. Es gefiel ihm gar nicht, daß der sich in diese Geschäfte eingedrängt hatte. Helene Forbin war doch eine kluge Frau. –

Als das Ehepaar das Hotel Castillacs verlassen hatte, wandte sich Helene ärgerlich an ihren Mann.

»Dieses ewige Versteckspiel, diese übertriebene Heimlichtuerei gefällt mir nicht, Alfred. Es ist doch ganz klar, daß dieser Herr Krall eine vorgeschobene Figur ist, wenn er nicht gar nur in der Phantasie Castillacs existiert. Wer der eigentliche Empfänger der Waffensendungen ist oder, noch besser gesagt, wohin diese Sendungen eigentlich gehen, wird uns verschwiegen. Ich weiß nicht, wer daran schuld ist. Castillac oder Shugun? Beinahe möchte ich glauben, Castillac.«

»Mag sein, Helene. Ich gäbe was darum, wenn ich dahinterkäme. Man kann nie wissen, wozu man es gelegentlich brauchen kann.«

»Unsinn, Alfred! Du bist zu leicht bei der Hand, doppeltes Spiel zu treiben. Das sollte man selbst im äußersten Notfalle nicht tun. Mißbrauchtes Vertrauen rächt sich immer.

Ich würde dir aber doch raten . . . schon allein, damit die nicht glauben, sie hätten es mit Anfängern zu tun . . . nach Creusot zu fahren und dich dort mal gründlich umzusehen. In solchen Fällen entwickelst du ja eine sehr feine Spürnase. Vielleicht findest du dort Castillacs Konkurrenz auch in bester Tätigkeit, und wenn du das Geschick entwickelst, das ich von dir erwarte, kommst du schließlich auch dahinter, wohin die Konkurrenz die Waffen schickt. Darüber bin ich mir ziemlich klar, daß es derselbe Bestimmungsort sein wird wie bei Castillac.«

»Die Idee ist gut, Helene. Wissen wir erst einmal den Zweck dieser umfangreichen Waffenlieferungen, dann steht letzten Endes nichts im Wege, daß wir das Geschäft selbständig betreiben. Denn das kann ich dir sagen, trotz unserer Abmachungen traue ich Castillac nicht über den Weg.«

Helene, die, während sie weitergingen, angestrengt nachgedacht hatte, fiel ihm ins Wort:

»Ganz bestimmt sind diese Waffenschiebungen nicht irgendein Privatgeschäft des Herrn Shugun. Daß sie ausschließlich für Japan bestimmt sind, bezweifle ich sehr. Ich möchte annehmen, daß sie für irgendeine Japan befreundete Seite gekauft werden.«

»Vielleicht für China?« warf Forbin ein.

»Wäre nicht ausgeschlossen, Alfred. Aber das will mir nicht so ohne weiteres in den Kopf. Du fährst jedenfalls morgen nach Creusot. Jetzt wollen wir uns trennen, ich habe noch einige Besorgungen zu machen.«

Schon im Weggehen rief Forbin ihr nach: »Erinnere mich doch bitte heut abend daran, bei Raconier in Paris anzurufen. Ich bin doch höllisch neugierig, ob Herr Forestier das Ding mit Georg Astenryk so gedreht hat, wie er beabsichtigte.«

*

Chefingenieur Raconier sah auf die Uhr. Er erwartete um diese Zeit den Besuch Forestiers. Kopfschüttelnd überflog er immer wieder die Zeilen des Briefes, den er zwei Tage vorher von Forestier aus München bekommen hatte. Der Inhalt des Schreibens war ihm, obwohl er den Brief wiederholt gelesen hatte, völlig unklar. Nur das eine stand unzweifelhaft fest: das Unternehmen Forestiers war vollkommen mißlungen. Das einzige Gute bei der Sache war, daß nichts davon in die deutschen Zeitungen gekommen war, denn das wäre doppelt schlimm gewesen. Diese ganze Astenryk-Affäre wuchs sich allmählich zu einer Blamage ersten Ranges aus.

Alle die Agenten, die man mit der Sache befaßt hatte, waren durchaus zuverlässige Leute, die ihr Fach verstanden. In dem Falle Astenryk hatte es den Anschein, als hätten sie sich wie unerfahrene junge Anfänger benommen. Forestiers Plan war zweifellos gut aufgezogen. Daß er so vollständig mißlingen konnte, war dem Chefingenieur unerklärlich. Aus dem Briefe Forestiers schien hervorzugehen, daß die Leute, die er für sein Unternehmen geworben, im letzten Augenblick gestreikt, sich geweigert hätten, das Unternehmen durchzuführen. Er schrieb da von einem schweren Zusammenstoß, den er mit einem der Leute gehabt hätte.

Nun, die mündliche Rücksprache mit Forestier würde ja wohl alles aufklären. In dieser Erwartung sah sich Raconier jedoch getäuscht. Forestier kam, aber was er erzählte, war so unglaubwürdig, so sinnlos, daß er zeitweise an dessen Verstand zweifelte. Doch trotz aller Mühe war nichts Positives aus ihm herauszubringen . . . Sie hätten da in einiger Entfernung von der Hütte plötzlich wie auf ein Kommando haltmachen müssen, hätten nicht vorwärts und nicht rückwärts gekonnt . . .? Erstklassiger Blödsinn!

Sie müssen alle betrunken gewesen sei, dachte Raconier bei sich. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Sehr ungnädig entließ er Forestier. Der hatte schon die Türklinke in der Hand, da rief ihm Raconier ironisch nach: »Die blaugelben Flecke auf Ihrer linken Backe, sind die etwa auf jenen Zusammenstoß zurückzuführen, Herr Forestier?«

Der murmelte etwas Undeutliches und verschwand. Draußen auf dem Korridor aber machte er seinem Herzen viel deutlicher Luft. Während er mit der Linken die Wange rieb, ballte er unter einer Skala von Flüchen die Faust.

»Dieser verfluchte Münchner Viechkerl!«

Ohne jeden Grund, ohne jeden Wortwechsel vorher – jedoch genau so, wie Marian es in Gedanken dem Münchner Herkules befohlen – hatte ihm der ein paar gewaltige Ohrfeigen versetzt und dazu gerufen: »Da hast deine Watschen, du Bazi, du damischer!« –

Der Chefingenieur begab sich mit gemischten Gefühlen zu einer Konferenz, in der auch Herr Baguette sein würde. Der würde sicherlich nicht ohne Schadenfreude Raconiers Bericht mitanhören.

*

Der Briefträger, der sich nicht oft auf den Wilden Rain verirrte, hatte heut gleich zwei Briefe auf einmal gebracht. Der eine von Anne gab Georg die ersehnte Aufklärung. Was sie da schrieb, enthielt zwar eine Häufung von eigenartigen Zufällen, war aber durchaus überzeugend. Dieses Zusammentreffen mit Dale war jedenfalls am merkwürdigsten. Er wollte erst einmal den zweiten Brief, der von Tante Mila kam, lesen, ehe er sich Annes Brief noch einmal vornahm.

Der Brief der Tante Mila war doppelt frankiert. Georg riß ihn auf. Er enthielt außer einem kurzen Begleitschreiben der Tante einen Brief seines Halbbruders Jan Valverde an diese und einen an ihn.

Tante Milas Brief war nur kurz und verwies in der Hauptsache auf die beiden anderen Schreiben. Was Georg aus dem Inhalt des Briefes an Tante Mila entnehmen mußte, betrübte und erschütterte ihn. Was hatte sie an Jan geschrieben . . .? Ihr Leiden stark verschlimmert . . . Der Arzt ohne Hoffnung, mit einem plötzlichen baldigen Ende zu rechnen . . .

Gewiß, er wußte, daß Tante Mila leidend war, aber daß es so mit ihr stand, hatte er nicht geahnt . . . Und was hatte sie weiter geschrieben . . .? Jan gebeten, sich Georgs anzunehmen, wenn sie nicht mehr wäre. Sie mußte anscheinend viel von seinen Arbeiten und seinem Unglück in Neustadt erzählt haben . . .

Die beste Aufklärung würde ihm wohl der andere Brief geben, der direkt an ihn gerichtet war. Er schnitt ihn auf. Es war ein langes Schreiben, in dem Jan ihn und Marian in der herzlichsten Weise einlud, zu ihm zu kommen.

Er rief Marian herein und gab dem das Schreiben. Während der las, gingen die Gedanken Georgs zurück in seine Jugendzeit zu den gemeinsam mit Jan verlebten Jahren. Jan Valverde war der Sohn seiner Mutter aus ihrer ersten Ehe. Das Verhältnis zwischen Jan und seinem Stiefvater Astenryk war nie besonders herzlich gewesen. Nach Georgs Geburt wurde es direkt kalt. Das hatte sich auch auf die Beziehungen Georgs zu dem zehn Jahre älteren Halbbruder ausgewirkt.

Als dann Jan nach seinem Selbstmordversuch Neustadt verließ und nach Australien auswanderte, waren nur noch selten Briefe zwischen den beiden gewechselt worden. Von allen Verwandten war es Tante Mila, die Schwester des alten Astenryk, mit der Jan immer am besten gestanden hatte und mit der er auch nach seiner Auswanderung in ständigem Briefwechsel blieb. Näheres über Jans Leben in Australien hatte Georg eigentlich nur durch Tante Mila erfahren. Der hatte mit seinem väterlichen Erbteil eine Farm in Neusüdwales erworben und schlug sich schlecht und recht als Farmer und Viehzüchter durch. –

»Was hältst du davon, Marian? Du kennst ja Jan ebenso gut wie ich.«

Marian sah nachdenklich vor sich hin. »Wenn ich dir raten darf, so möchte ich ohne weiteres sagen: Nimm das Anerbieten Jans an. Bedenke, daß wir im Winter kaum hier oben hausen können. Wo wirst du in München eine Wohnung und Raum für ein Laboratorium finden? Wenn nun gar, was Gott verhüte, die Tante unversehens stirbt, gäbe es ja überhaupt keine Möglichkeit, deine Arbeit fortzusetzen. Wir müßten uns trennen, müßten jeder versuchen, eine Stellung zu finden, die uns Brot gibt . . . mir scheint die beste, die einzige Lösung, Jans Einladung zu folgen. Dein Bruder schreibt, wir könnten auf seiner Farm wohnen. Alles, was du nötig hast, könntest du bequem in der nächsten Stadt kaufen . . .

Und was auch zu bedenken ist . . . wir wären aus der ewigen Unsicherheit hier heraus. Daß es Jan mit seinem Anerbieten wirklich offen und herzlich meint, geht doch daraus hervor, daß er das Reisegeld für uns beide für alle Fälle auf die Bank in München überweisen wird.«

»Ja, lieber Marian, was du da sagst, hat manches für sich. Aber so leicht möchte ich mich doch nicht zu diesem Schritt entschließen. Die gute Tante, die alte treue Seele! Sie hat noch über ihren Tod hinaus für mich sorgen wollen, und ich bin ihr doch wirklich schon für das, was sie jetzt an mir tut, tiefsten Dank schuldig.« Leicht ist es mir nicht geworden, das alles anzunehmen, setzte er für sich hinzu, dachte dann weiter: Soll ich nochmals Erfinderehrgeiz über Mannesselbstgefühl siegen lassen? Nein und nochmals nein!

Er drehte sich um und ging zur Tür. Rief Marian zu: »Ich will mal 'rauf zur Hohen Alm gehen, fragen, ob die alte Katrin frische Butter hat.«

Er verließ die Hütte und schlug den Weg zur Hohen Alm ein. Was er da eben zu Marian von der Butter gesagt hatte, war nur eine Ausrede gewesen. Er wollte allein sein mit seinen Gedanken. Das Anerbieten Jans, so gut es auch gemeint war, konnte, durfte er nicht annehmen. Sein Unabhängigkeitsgefühl sträubte sich dagegen in stärkstem Maße. Wozu hatte er studiert, gute Examina gemacht?

Es würde ihm sicherlich nicht schwerfallen, eine angemessene Stellung zu finden. Gewiß, dann blieben ihm für die Beschäftigung mit seinen Problemen nur die Mußestunden. Aber was würde es schaden, wenn er seine Erfindung Monate . . . vielleicht Jahre später machte, dafür aber von dem drückenden Bewußtsein freikam, von der Wohltätigkeit anderer zu leben.

Aber . . . neue Gedanken, im Laufe der letzten Wochen erst entstanden . . . hemmten ihn doch, ohne weiteres einen festen Entschluß zu fassen. Die Arbeiten an dem Verstärker waren in der letzten Zeit recht erfolgreich gewesen. Mit anderen neuen Schaltungen hatte er viel bessere Wirkungen erreicht als bisher. Wenn er jetzt die Arbeiten an der Diamantensynthese, denen er sich mit größter Intensität gewidmet hatte, beiseiteließ, wenn er jetzt alle seine Kräfte an die weitere Vervollkommnung des Verstärkers setzte, würde er vielleicht Resultate erzielen, die . . .

Jene Ideen, die ihn überkamen, als er von Algermissens Künsten gelesen, die noch lebendiger wurden, als es ihm gelungen war, den Verstärker zu rekonstruieren und in Tätigkeit zu setzen, hatten ihn gerade in der letzten Zeit fast Tag und Nacht beschäftigt. Ideen, die, verwirklicht, von allergrößter . . . vielleicht weltgeschichtlicher Bedeutung sein konnten. –

Was ihm da Major Dale über die Machtprobleme im Fernen Osten gesagt, hatte er in stillen Stunden weiter durchdacht, alles, was darüber in der Presse veröffentlicht wurde, mit größtem Interesse verfolgt. Die drohenden Kämpfe um die Herrschaft des Stillen Ozeans mußten für die weiße Rasse von einer Bedeutung werden, die für Jahrzehnte . . . vielleicht Jahrhunderte, ihre Entwicklung, ihr Schicksal bestimmte. –

Sein Verstärker, so entwickelt, wie er es träumte, konnte da ein Machtmittel von größter, ja vielleicht von ausschlaggebender Bedeutung werden . . . und diese Gedanken waren es, die ihn hemmten, Jans Einladung, so wie er es im ersten Augenblick vorgehabt hatte, auszuschlagen.

In seinen Gedanken war er von dem Weg, der zur Hohen Alm führte, abgewichen, war zu der Schlucht gelangt, durch die der Wildbach rauschte. Im Schatten einer überhängenden Tanne ließ er sich auf einen Stein nieder. Die kühle Luft in der Schlucht strich ihm wohltuend um die erhitzten Schläfen. So saß er lange im Kampf seiner Gedanken. –

Immer stärker drängte sich ihm die Frage auf: Sollte er nicht all seinen Stolz, all sein Selbstbewußtsein hintansetzen gegenüber den größeren Möglichkeiten, Aufgaben, die sich ihm boten, aufdrängten . . . deren Lösung vielleicht ihm vom Schicksal bestimmt sein konnte. –

Ein lautes Krachen und Stürzen im Oberlauf der Schlucht schreckte ihn auf. Da mochten wohl ein paar Felsstücke oder ein unterhöhlter Hang in den Bach gestürzt sein.

Nach kurzer Zeit begannen die Wasser stärker zu rauschen. Eine trübe gelbe Flut wälzte sich über die Hindernisse hinweg, stürzte auf den leichten Steg zu, der unterhalb seines Platzes über den Bach fühlte. Die Stützen des Steges begannen zu schwanken, zu brechen. Dann war er von der gelben Flut verschlungen. –

Verschlungen von der gelben Flut die weißen Siedlungen dahinten im Fernen Osten, die die Brücke schlugen zwischen den weißen Kontinenten. –

Georg sprang auf. Nein! War das, was sein Auge da eben gesehen, ein Symbol künftigen Geschehens . . . er mußte es so betrachten, mußte sich frei machen von kleinlichem Denken, kleinlichem Tun gegenüber den großen kommenden Dingen. –

Als er eine Zeitlang später in die Hütte trat, sagte er kurz zu Marian: »Ich werde Jans Einladung folgen. Jetzt aber gib mir meine Handtasche! Ich fahre mit dem nächsten Zug nach München zu Tante Mila.«

*

Das Nachtflugzeug New York–Tokio setzte auf. Garill Bruce, der Korrespondent der »New York Times«, trat auf den festen Boden, streckte sich ein paarmal und ging dann eiligen Schrittes auf die Bar des Flughafens zu. Nach der langen Fahrt widmete er sich mit besonderer Liebe und Kennerschaft den mannigfachen Künsten des Barmixers.

Ein chinesisches Privatflugzeug zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Während er neugierig darauf zu schlenderte, entstiegen dem Flugzeug zwei Männer und wandten sich einer großen Limousine zu. Im Augenblick des Anfahrens machte der Motor einige Schwierigkeit, so daß Bruce einen Blick in das Wageninnere tun konnte, bevor der Wagen ins Rollen kam.

Im nächsten Augenblick schien der Korrespondent alle Wonnen der Bar vergessen zu haben. Er stürzte zu einem Taxi und ließ sich zum Telegraphenamt fahren. Mit hastiger Feder schrieb er eine Depesche an seine Zeitung: »General Jemitsu mit einem chinesischen Begleiter soeben in Tokio gelandet.«

Mochten die Ätherverhältnisse in dieser Nacht besonders schlecht gewesen sein, das Telegramm erreichte New York erst am übernächsten Tag. Das war für Garill Bruce eine unangenehme Sache, denn der Chefredakteur der »New York Times« ließ sich durch nichts von seiner Überzeugung abbringen, daß Bruce das Telegramm zwar rechtzeitig geschrieben, aber dann über den Freuden des Barparadieses vergessen habe, es sofort abzusenden. Jedenfalls erreichte es New York eben zur selben Zeit, als auch die Tokioter Telegraphen-Agentur die Nachricht verbreitete, daß General Jemitsu nach Japan zurückgekehrt sei. Sie erregte in allen politischen Kreisen ein gewisses Aufsehen. Man hatte erleichtert aufgeatmet, als die japanische Regierung den General kaltstellte und als der sogar Japan verließ.

Jemitsu stammte aus dem alten Geschlecht der Tokugawa. Mit seiner Beförderung zum General war er gleichzeitig Kriegsminister geworden. Als solcher hatte er es in kurzer Zeit verstanden, auf die auswärtige Politik Japans großen Einfluß zu gewinnen. Daß diese damit nicht in friedliche Bahnen gelenkt wurde, ergab sich aus der Person Jemitsus. Erfüllt von einer fanatischen Vaterlandsliebe und einem zähen, unbeugsamen Willen, kannte er nur das eine große Ziel: Weg mit der Herrschaft des angelsächsischen Blocks im Stillen Ozean!

Lange hatte damals die japanische Regierung gezögert, Jemitsu auszuschiffen. Die Zahl seiner Anhänger im Volke war so groß, daß ein Sturz der Regierung die unbedingte Folge gewesen wäre.

Da legte Jemitsu eines Tages unter dem Druck seiner Ministerkollegen sein Amt nieder und erbat sich einen längeren Urlaub.

Wie natürlich, knüpften sich allerhand Gerüchte an die Rückkehr Jemitsus. Man wußte ja schon lange, daß er ein eifriger Förderer eines chinesisch-japanischen Zusammengehens war. Aber man fand es doch recht auffällig, daß in seiner Begleitung fast ständig ein Chinese war, der ein Lama sein sollte. Woher dieser kam und wer es war, blieb unbekannt.

Jene Gerüchte hätten wohl eine gewisse Klärung erfahren, wenn etwas von dem Besuche Jemitsus und des Lama auf dem Weekendsitz des Ministerpräsidenten Okio in die Öffentlichkeit gedrungen wäre. Sofort nach ihrer Landung waren die beiden dorthin gefahren. Nach einer langen Unterredung hatte der Ministerpräsident auch den Minister des Auswärtigen Yeitoku und den Kriegsminister Tangu zu sich gebeten. Es war eine inhaltschwere Unterredung von größter Tragweite, die da gepflogen wurde.

Als lange nach Mitternacht Jemitsu den Landsitz Okios verließ, drückte er Turi Chan in freudiger Genugtuung die Hand.

»Der erste Schritt ist vollständig gelungen. Morgen werden wir weiterarbeiten.«

»Ich denke, das Weitere wird ebenso gelingen. Um allen unnützen Fragen aus dem Wege zu gehen, will ich Japan verlassen. Morgen werde ich mit der gewöhnlichen Flugpost nach Europa reisen.« –

Die Besorgnisse, die man wegen Jemitsus Rückkehr hegte, erwiesen sich schon bald als begründet. Der Umschwung der öffentlichen Meinung und auch der japanischen Regierung in außenpolitischen Dingen war unverkennbar. –

Zwei Tage darauf landete bei Gartok ein Flugzeug. Turi Chan verließ es und begab sich ins Kloster. Ehe er am nächsten Morgen seine Reise fortsetzte, hatte er eine lange Unterredung mit seinem Stellvertreter. In deren Verlauf fragte er auch, ob Nachricht von Bruder Sifan ins Kloster gekommen wäre.

Die Züge des Priors zeigten Angst und Unruhe. Bald nach Sifans Abreise seien Hirten in das Kloster gekommen und hätten gesagt, ein Mönch läge tot in einer Felsschlucht. Er habe sofort mehrere Brüder ausgeschickt, um den Toten, der nur Sifan sein konnte, zu holen. Doch die hätten in der Schlucht außer einer großen Blutlache nichts von Sifan gesehen.

Der Abt runzelte die Stirn. Wie konnte das geschehen? dachte er. Wer sollte den Leichnam fortgebracht haben? Oder sollte Sifan gar nicht tot gewesen sein?

Noch lange nachdem der Prior gegangen war, beunruhigten den Abt diese Fragen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Sifan zurück.

Am nächsten Morgen verließ Turi Chan, in einen weiten Mantel gehüllt, das Kloster, und ging zum Flugzeug. Kaum hatte sich das in die Luft erhoben, so warf er den Mantel ab und stand da in modernster europäischer Kleidung. Als er in Odessa in das Postflugzeug umstieg, dachte wohl keiner der Mitreisenden im entferntesten daran, einen Lama vor sich zu haben.

*

»Ich glaube, Lydia, unser Patient ist so weit, daß wir die Reise ruhig wagen können. Es bleibt uns ja unbenommen, manchmal Ruhetage einzulegen.«

Lydia nickte Dr. Musterton glücklich lächelnd zu.

»Du weißt gar nicht, Onkel Musterton, wie ich mich freue, daß wir ihn doch mitnehmen können. Morgen ist doch der letzte Termin für unsere Abreise. Sieh nur, da kommt er aus dem Garten, er geht doch schon recht ordentlich. Sogar den Stock hat er fortgelassen.«

Sie deutete auf einen Mann, der langsam dahergeschritten kam . . . die Augen tief in den Höhlen, das Gesicht bleich und abgezehrt. Niemand . . . selbst Turi Chan nicht . . . würde in diesem Manne, dem die Kleider Mustertons in grotesker Weise um den hageren Leib schlotterten, den Mönch Sifan wiedererkannt haben.

»Deine Pflege, mein gutes Mädchen! Du brauchst nicht abzuwehren. Daß Arngrim jetzt wieder so einigermaßen auf seinen zwei Beinen läuft, hat er nicht zum mindesten dir zu verdanken.«

Dr. Musterton klopfte Lydia freundlich auf die Schulter. Sie schüttelte verlegen den Kopf. »Du übertreibst mal wieder. Einen besseren Doktor als dich konnte er nicht finden.«

»Offen gestanden, Lydia, ich hätte diesen glücklichen Ausgang nicht für möglich gehalten. Wenn ich denke, wie wir ihn in der Schlucht fanden mit dem schweren Säbelhieb über dem Kopf! Er war ja schon fast ganz verblutet. Von den anderen, kleineren Wunden gar nicht zu sprechen. Ich hätte damals überhaupt nicht geglaubt, daß wir ihn lebend hierherbrächten.«

»Nun, Herr Arngrim, haben Sie in dem Liegestuhl gut geschlafen?« Lydia machte eine Tasse Tee zurecht und reichte sie Arngrim. Der trank sie durstig aus. Mit einem warmen Dankesblick gab er Lydia die Tasse zurück.

»Der Schlaf in dieser frischen Bergluft hat mir wunderbar wohlgetan. Das war ein guter Gedanke von Ihnen, Fräulein Allgermissen, daß Sie mich mit sanfter Gewalt aus der Krankenstube 'rausholten und mir da drüben im kühlen Schatten den Liegestuhl aufschlugen. Jetzt habe ich auch keine Angst mehr vor der Fahrt in dem Lastauto.«

»Na, Herr Arngrim, das will ich nicht so ohne weiteres unterschreiben. Die Wunde«, Dr. Musterton deutete auf Arngrims Kopf, der noch einen leichten Verband trug, »wird hoffentlich nicht zu bluten anfangen. Die Erschütterungen auf den abscheulichen Straßen hier oben sind für Patienten von ihrer Art nicht gerade zu empfehlen. Sind wir erst einmal in Sidwar, sind wir über das Schlimmste hinaus. Da kommen wir auf die große Militärstraße. Nun, wir werden sehen. Wenn's eben nicht geht, legen wir einen Ruhetag ein.«

»Das möchte ich auf jeden Fall vermeiden, mein lieber Herr Doktor Musterton. Sie haben den Tag Ihrer Abreise schon aufs äußerste hinausgeschoben. Weiteren unnötigen Aufenthalt möchte ich Ihnen nicht verursachen. Wenn es gar nicht mehr gehen sollte, lassen Sie mich zurück. Ich komme dann eben nach.«

»O nein, Herr Arngrim«, rief Lydia, »das werden wir lieber nicht tun. Wer weiß . . .«

» . . . was Sie für Dummheiten machen, Herr Arngrim, wenn Lydia nicht dabei ist«, vollendete Dr. Musterton, »das wolltest du doch wohl sagen, Lydia?«

Lydia schüttelte drohend die Hand. »Was du nicht alles weißt! Aber so ganz unrecht hast du ja nicht. Ich gehe jetzt den Teetisch decken.«

»Unser Sonnenschein!« sagte Musterton, während er Lydia nachblickte. »Wie froh bin ich, daß ich sie damals in mein Haus aufnahm! Es war erstaunlich, wie sie sofort mit ihrer jungen Kraft die Führung des Haushalts übernahm, der nach dem Tode meiner Frau wirklich stark in Unordnung geraten war. Wie sie sich der Kinder annahm und Bob und James wieder in Zucht und Ordnung brachte, daß man sie mit gutem Gewissen nach Eton schicken konnte.«

»Und mich wollen Sie ganz vergessen, Herr Doktor? Ich weiß sehr wohl, was ich Lydia zu verdanken habe.«

»Zum mindesten haben Sie ihr zu danken«, sagte Dr. Musterton, »daß Sie überhaupt gefunden wurden. Denn nur die guten Augen Lydias konnten Sie da unten in der Schlucht entdecken. Immer wieder, wenn man sich daran erinnert, fragt man sich, wie das geschehen konnte. Unsere heimischen Räuber sind ja im allgemeinen keine so schlimmen Gesellen, und vor dem Mönchskleid haben sie doch allen Respekt.

Man kommt immer wieder zu dem Schluß, Sie müßten . . . vielleicht weil Sie Westländer sind . . . persönliche Feinde gehabt haben. Haben Sie in der Richtung gar keine Vermutung, Herr Arngrim?«

»Nein, Herr Doktor. Ich habe keine Vermutung.«

Arngrim wandte sich ab und ging in sein Zimmer. Die Worte, die einer der Mörder ausstieß . . . die er noch gehört hatte, bevor ihm das Bewußtsein schwand, würden ihm immer im Gedächtnis bleiben: »Turi Chan wird zufrieden sein!«

Arngrim griff nach den Zeitungen. Jeden Tag erwartete er sie mit Ungeduld. Sie waren zwar stets mehrere Tage alt, bildeten hier aber doch die einzige Verbindung mit der Außenwelt. Seine Augen überflogen die politischen Nachrichten.

Von Woche zu Woche war der Ton der Blätter ernster geworden. Die politischen Verhältnisse der Großmächte im Osten und Westen spitzten sich merklich zu. Es war klar zu erkennen, daß alles seit jenen Tagen datierte, die auf die Rückkehr Jemitsus nach Japan folgten. Während der ersten Wochen seiner Krankheit hatte Arngrim die Zeitungen nicht lesen können. Doch genügte das, was ihm nachher noch in die Hände kam, um sich ein gutes Bild von der Weltlage zu machen. Am Morgen hatte er unter dem Papier, das man zum Einpacken verwendete, ein paar ältere Zeitungen gesehen, die er noch nicht gelesen hatte. Er hatte sie mitgenommen und las sie jetzt.

Sie stammten aus den Tagen, als Jemitsu in Tokio gelandet war. Was da von einem Begleiter, der ständig um Jemitsu war, gesagt wurde, las er mit gespannter Aufmerksamkeit.

. . . Ein chinesischer Lama . . . unbekannt, woher er kam . . . das konnte nur Turi Chan sein. Das also war's!

Arngrim ließ entsetzt die Zeitung sinken. Wurde Allgermissens Kraft wirklich zu solchen verbrecherischen Zwecken mißbraucht? Welch andere, noch schlimmere Teufeleien waren da noch zu erwarten? Turi Chan am Werk, seine welterschütternden Pläne mit der gestohlenen Kunst Allgermissens zu verwirklichen! Als Adjutant, Berater Jemitsus hatte er es anscheinend fertiggebracht, die widerstrebenden Minister und Militärs für sich zu gewinnen, das friedliebende Volk aufzupeitschen. Ihm war es wohl auch zu verdanken, daß in China viele bedeutende, einflußreiche Männer sich offen auf Japans Seite stellten.

Wie lange würde es noch dauern, bis ein wohlvorbereiteter »Zwischenfall« den glimmenden Brand zu hellem Feuer anfachte? Würde es Turi Chan gelingen, mit seiner Teufelskunst auch all das andere in die Tat umzusetzen, was er damals am Felsen der Einsamkeit Jemitsu anvertraut hatte? Sollte er wirklich ahnungslose Gegner so verwirren können, daß sie taub und blind den kommenden Ereignissen entgegengingen? –

In schweren Zweifeln hatte Arngrim damals die Wanderung nach Irkutsk angetreten. Zu wem sollte er halten? Aus welche Seite gehörte er? Die Stimme des Blutes, das Stammesgefühl drängten ihn, auf die Seite der weißen Rasse zu treten. Aber durfte er diesen Regungen nachgeben? Mußte er nicht seinem Gelübde getreu als Jünger Buddhas den Pfad der Läuterung weiter gehen, ohne sich um weltliche Dinge zu kümmern? . . .

Da überfielen ihn die Mörder, die Turi Chan gedungen hatte. Das hieß, daß Turi Chan selbst ihn ausgestoßen hatte. Der Weg zu der anderen Seite war ihm dadurch leicht gemacht.

Doch was konnte er tun, um seinen Bluts- und Rassegenossen zu helfen? Kein Mensch, selbst Freund Musterton nicht, würde ihm im geringsten Glauben schenken. Für wahnsinnig würde man ihn halten, wenn er es wagen wollte, die Welt vor Turi Chans Künsten zu warnen. Vielleicht würde es ihm später gelingen, noch war ja kein offensichtlicher Beweis zu erbringen. Später? . . . Ja, wenn es dann nicht zu spät wäre. –

Wieder lag ein Abschnitt seines Lebens hinter ihm. Wo würde er Ruhe, Frieden finden? Morgen würden sie von hier fortgehen, Dr. Musterton kehrte nach Australien zurück. Seine hiesigen Arbeiten, die er als Pflanzenphysiologe im Auftrage der australischen Regierung gemacht hatte, waren beendet. In Australien würde der Doktor jetzt Versuchspflanzungen anlegen, Anbauversuche mit asiatischen Weidegräsern und anderen Nutzpflanzen anstellen, ein Institut für Kreuzungsversuche errichten. Ein großes, weites Arbeitsgebiet. Auch er selbst würde dort Betätigung finden, Dr. Musterton wollte ihn als seinen Assistenten mitnehmen. –

Am nächsten Morgen herrschte in dem Bungalow Mustertons ein starkes Durcheinander. Kisten und Koffer wurden auf ein großes Lastauto geladen, das außer dem Gepäck auch noch die Familie Musterton und Arngrim aufnehmen sollte.

Und dann fuhr der Wagen los nach Süden. Viele Tage lang ging die Fahrt, bis sie die Eisenbahnlinie erreichten. Arngrim hatte dies schlimmste Stück der Reise gut überstanden. Jetzt, da sie auf glattem Schienenstrang dahinfuhren, brachte die Fahrt keine Beschwerden mehr. Sie kamen nach Kalkutta und gingen an Bord des Dampfers, der sie nach Osten weitertrug.

*

Georg Astenryk bestieg in München den Rosenheimer Zug, der ihn in die Berge zurückbringen sollte. Tante Mila war vor einer Woche begraben worden. Die Regelung der Erbschaft war sehr einfach gewesen. Außer ihrer Wohnungseinrichtung und der Alm am Wilden Rain hatte sie kein Vermögen hinterlassen. Von dem Geld, das Georg aus dem Verkauf der Einrichtung und der Alm erzielt hatte, blieb nach dem Abzug der Begräbniskosten nur eine geringe Summe übrig.

Es galt jetzt, Abschied zu nehmen vom Wilden Rain. Den anderen, den schwereren, hatte er bereits in München genommen. Anne war mit Helene zur Beerdigung dorthin gekommen. Sie war zwar schon durch Georgs Brief auf seine Abreise vorbereitet, trotzdem aber gab es manche Träne, als Georg ihr seinen festen Entschluß mitteilte, nach Australien zu fahren. Er hatte nur schwachen Trost für sie gefunden. Der Entschluß zu dieser Reise sei auch ihm keineswegs leicht geworden. Der Gedanke, immer wieder die Hilfe Verwandter in Anspruch zu nehmen, um weiterarbeiten zu können, sei durchaus nicht nach seinem Herzen. Doch die einfache Überlegung, daß jeder andere Weg sein Werk um Jahre verzögern würde, zwinge ihn dazu.

Sie hatte sich eng an seine Brust gedrängt.

»Ich warte auf dich, Georg! Und wenn wir jahrelang getrennt sein müßten.«

»Jahre! Nein, Anne! So lange wird's nicht dauern. Noch ehe ein Jahr vergeht, mußt du die meine werden!«

Er schloß sie in seine Arme. In einer Fülle von Zärtlichkeiten offenbarte er ihr noch einmal alle seine Liebe und Zuversicht.

Wenn auch Helene dieser Abschiedsszene den Rücken zukehrte, so hatte sie doch mit feinem Ohr alles wohl gehört. Georgs Worte »in einem Jahr« hatten sie sehr nachdenklich gemacht. –

Als Georg in die Almhütte trat, fand er Marian in reger Tätigkeit. Alle Apparate waren abmontiert. Die Meßinstrumente, die sie mitnehmen wollten, lagen verpackt in dem Koffer. Alles, was nicht Fracht und Zoll lohnte, blieb zurück.

Georg nahm eine kleine Erfrischung und wandte sich dann zu Marian.

»Die Papiere da brauchst du nicht alle einzupacken. Einen großen Teil davon kannst du verbrennen. Ich werde sie schnell sortieren.«

Das war bald gemacht. In kurzer Zeit hatte Georg die Papiere in zwei Stöße geordnet und gab den einen davon Marian. Der steckte ihn in den alten Kachelofen in der Ecke und zündete ihn an.

»Das Allerwichtigste«, fuhr Georg fort, »stecke ich in die Brieftasche.« Er schaute sich um. »Du bist wohl bald fertig, Marian. Um sieben Uhr wird der Fuhrmann kommen, um unser Gepäck ins Tal zu bringen und zum Bahnhof zu fahren.«

Georg trat vor die Hütte und setzte sich auf die Bank. Er streichelte den Hund, der sich an seine Knie drängte. »Ja, dich muß ich leider auch hierlassen, alter Nero. Aber tröste dich, du kommst wieder zu deinem alten Herrn, dem Steinmoser.«

Lange hatte er so gesessen, da trat Marian zu ihm. »So! Nun wäre ich so weit.« Georg rückte ein Stück zur Seite und hieß Marian sich setzen.

»Nehmen wir noch einmal Abschied von der schönen Natur hier um uns herum. Der Anblick der Berge wird uns da drüben bei Jan wohl manchmal fehlen.«

»Es war doch eine schöne Zeit hier, Georg. Meinetwegen hätten wir hier noch lange bleiben können. Selbst der Winter würde mich nicht geschreckt haben.«

»Glaube ich dir gern, alter Junge. Das ungebundene Leben hier oben kommt dir so recht zupaß. Na, ich denke, da drüben im australischen Busch wirst du auch auf deine Kosten kommen.« –

Plötzlich gab es in der Hütte einen leisen Knall.

»Na«, meinte Marian, »der Ofen, der alte Bursche, wird doch nicht vor Freude bersten, daß er mal geheizt ist? Ich will mal 'reingehen.«

Gleich darauf hörte Georg Marian laut lachen. Er stand auf und ging auch in die Hütte. Da stand Marian am Ofen und hielt mit einem Tuch ein zersprungenes Batterieglas in der Hand.

»Da haben wir ja die Bescherung«, meinte er, »das Batterieglas ist zersprungen, das du neulich nicht fandest, als wir ein leeres Gefäß brauchten. Hier in der Röhre hat's gesteckt. Da konnten wir lange suchen.«

Vorsichtig stellte Marian das heiße Glas auf den Tisch. Sowie er losließ, fiel das mehrfach gesprungene Gefäß auseinander.

»Na, schad't nichts! Eins mehr oder weniger, kommt nicht darauf an«, sagte Georg und trat an den Tisch heran. Plötzlich starrte er interessiert auf ein größeres Bodenstück. Aus dem schwärzlichen Bodensatz, den hier eine längst verdunstete Flüssigkeit zurückgelassen hatte, glitzerten kleine und kleinste Kristalle.

»Was ist denn das?« fragte Marian neugierig.

»Das weiß ich vorläufig auch nicht«, meinte Georg, und bemühte sich, möglichst ruhig zu erscheinen.

Hoffnungen . . . Ahnungen waren beim Anblick der Kristalle in ihm aufgetaucht, himmelstrebend . . . sinnverwirrend. Er beugte sich über das Glasstück, sprach dabei mit gezwungener Stimme: »Mach nur weiter, Marian! Ich will mir das mal näher ansehen.« Er holte aus einem Koffer ein Mikroskop und stellte es auf den Tisch. Dann brach er aus dem Bodensatz einen der größeren Kristalle und legte ihn unter das Objektiv. Sein Auge schaute hindurch, als wenn er sich in den Stein unter der Linse einbohren wolle.

Oktaeder! würgte es in ihm, Oktaeder, Diamanten! . . . Ich hab's!

Schweratmend trat er zur Seite und nahm den Stein in die Hand, strich liebkosend über die Dreiecksflächen des Kristalls. Aber . . . vielleicht doch eine Täuschung? . . . Noch wagte er nicht, dem Jubel, der in ihm kochte, Bahn zu geben. Er eilte zu dem Chemikalienschrank. Seine Augen glitten schnell über die Gläser. Ah, Gott sei Dank! Da stand noch eine Flasche mit Schwefelkohlenstoff. Er riß sie heraus und ging zum Tisch. Mit zitternden Händen füllte er ein Glas mit der wasserklaren Flüssigkeit, hielt das Oktaeder darüber, ließ es hineinfallen.

In dem Augenblick, da der Kristall unter die Oberfläche tauchte, war er unsichtbar geworden. Kein menschliches Auge hätte ihn in dem Glase entdecken können, in dem er doch sein mußte. –

»Ein Diamant!« schrie Georg auf. »Ein Diamant ist es!« Er trat zurück, wandte sich Marian zu, stand da mit freudefunkelnden Augen. »Diamanten sind das in der Glasscherbe. Ich habe sie endlich!«

Marian, der das ungewohnte, aufgeregte Gebaren Georgs von der Seite kopfschüttelnd beobachtet hatte, stand wie vom Donner gerührt.

»Wie? Was? Diamanten?! Das sind Diamanten? . . . Und die hast du gemacht? Treibst du Scherz mit mir? Georg, ich bitte dich . . .«

»Nein, Marian. Es ist kein Scherz. Das sind Diamanten, die ich gemacht habe.« Er fuhr sich über die Stirn. »Ja . . . die Steine sind mein Werk«, murmelte er, »und doch . . . wie war es möglich, daß ein Zufall mir in den Schoß warf, was ich so lange vergeblich mit allen Kräften erstrebt habe?«

Er zog Marian neben sich auf eine Bank und erzählte ihm in fliegenden Worten, wie er schon seit langem im geheimen an diesem Problem gearbeitet habe. Wie er sich nach dem Unglück in Neustadt mit doppelten Kräften der Lösung der Aufgabe gewidmet habe. Wie ihm stets der Erfolg versagt geblieben, bis ihm heute der Zufall das lange, mühevolle Werk krönte.

Marian sprang auf und machte einen Satz in die Luft, reckte jubelnd die Arme aus. Seine schwarzen Augen funkelten, als wollten sie mit den glitzernden Steinen auf dem Tisch wetteifern.

»Diamanten! Wir können Diamanten machen! Viele Säcke voll werden wir machen. Du wirst der reichste Mann der Welt werden, Georg!«

In wilden Wirbeln tanzte er durch die Hütte. »Nun brauchen wir nicht fort von hier. Wir werden hierbleiben und nur noch Diamanten machen.«

Georg hatte indes den Schwefelkohlenstoff aus dem Glas wieder in die Flasche zurückgegossen . . . und dann . . . dann war er wieder zu sehen . . . der Diamant, den das gleiche Lichtbrechungsvermögen im Schwefelkohlenstoff unsichtbar gemacht hatte. Er brach aus der Glasscheibe die übrigen Kristalle heraus, steckte sie zu sich und sprach dabei:

»Sei stad, mein lieber Junge! Glaube nur nicht, daß es so leicht sein wird, das, was der Zufall bescherte, sofort willkürlich zu wiederholen. Wenn es der Teufel will, kann ich lange, lange arbeiten, um das gleiche zu erreichen.«

Marian guckte Georg verdutzt an. »Wie? Was sagst du? Das läßt sich nicht so nachmachen?«

Georg schüttelte den Kopf. »Nein, Marian. So einfach ist das nicht. Selbst wenn ich im Protokollbuch noch die genaue Zusammensetzung dieser Lösung finde . . . das Protokollbuch? . . .«

»O weh! Das steckt ja im Ofen.« Wie der Blitz fuhr Marian zum Ofen und riß die Tür auf. Unbekümmert, daß er sich verbrannte, griff er mit der bloßen Hand in das Feuer und zog das schwelende Buch hastig heraus.

Er blies sich auf die Finger und schlenkerte sie in der Luft. »Gut, daß Bücher nur schwer in Brand geraten.« Er löschte die glimmenden Ränder des Protokollbuches und schob es Georg zu. Der schlug es auf.

»Ungefähr in dieser Zeit habe ich die Lösung angesetzt. Leider sind die Seiten an den Rändern schon so verkohlt, daß die prozentuale Zusammensetzung der Lösung kaum noch zu lesen ist . . . du machst ja ein Gesicht, Marian, wie der betrübte Lohgerber, dem die Felle weggeschwommen sind. So schlimm steht's nicht. Früher oder später krieg ich's 'raus! Darauf kannst du dich verlassen.« Er griff Marian an beiden Schultern und schüttelte ihn: »Junge! Du sollst dir noch mal die Hände baden in Diamanten. Aber . . . auf diese Hoffnung hin hierzubleiben, ist ausgeschlossen. Nein, Marian, so geht's denn doch nicht. Übers Knie brechen läßt sich das nicht. Das bedarf alles seiner Zeit, seiner natürlichen physikalischen Entwicklung . . . und einer Portion Glücks. Also dies Protokollbuch mußt du gut einpacken. Wir nehmen es mit.«

Georg trat vor die Tür der Hütte. Um die Waldecke im Tal bog der Steinmoser mit seinem Karren, der kam, um das Gepäck ins Tal zu bringen. Jetzt, wo er allein war, gab Georg sich unbeherrscht dem Gefühle jubelnder Freude, siegesgewisser Hoffnung hin, die diese Zufallsentdeckung in ihm wachgerufen hatte.

Er würde seine Arbeit, dem Geheimnis der Diamantenbildung auf die Spur zu kommen, mit größter Zuversicht fortsetzen können. Und Arne! . . . Er sog die Brust hoch atmend voll der frischen Bergesluft und schickte einen Juchzer zu Tal. Der alte Steinmoser, der glaubte, es gelte ihm, winkte mit der Hand.

Wären wir erst drüben! Wäre ich erst bei der Arbeit! Das waren Georgs Gedanken. Waren es und blieben es, als sie schon im Zuge saßen und der italienischen Grenze zu fuhren. –

Marian stand mit dem Gepäck in Genua am Kai und wartete auf Georg. Der Dampfer »James Cook«, der sie nach Australien bringen sollte, kam nah und immer näher. Marian blickte sich suchend um. Da endlich stieg Georg aus einer Taxe und kam auf ihn zu.

»Na, Marian, das hat ja noch gerade geklappt! Der größte Diamant, den wir da losgebrochen hatten, wird von dem Juwelier in eine nette Fassung gebracht und dann Anne in Brüssel zugeschickt werden. Übrigens war das gar keine so einfache Sache mit dem Verkaufen der sechs anderen Steine. Die schienen dem Menschen schwerstes Kopfzerbrechen zu machen. Du hättest dabeisein sollen. Was der mich alles gefragt hat. Wo ich die Steine her hätte? Wie ich hieße, wohin ich wollte? Ich war drauf und dran, sie wieder einzustecken und wegzugehen.

Mir lag ja in erster Linie daran, noch einmal von einem Fachmann bestätigt zu wissen, daß es wirklich reine Diamanten waren. Wenn ich mir aber vorstelle, ich käme da mit einem Säckchen so haselnußgroßer Dinger an, ich glaube, mir könnte dann allerhand passieren.«

»Nun, du weißt ja, wie du das zu machen hast, wenn du mal erst so ein Säckchen voll davon hast«, antwortete Marian.

»Allerdings! Wenn es so ist, wie du sagst – ich selbst erinnere mich gar nicht daran – daß Jan vor Jahren geschrieben hat, auf seinem Besitztum wäre mal nach Diamanten geschürft worden . . . nun, dann ist ja dein Vorschlag unbedingt gut. Man nimmt das bewußte Säckchen und streut die Steine geschickt in die verlassenen Claims, um sie dann vor den Augen eines Unparteiischen alsbald wieder zusammenzusuchen. Wenn ein paar liegenbleiben, ist's ja weiter nicht schlimm.«

In diesem Augenblick schrie eine Stimme neben Georg: »Achtung! Vorsehen!« Da kam ein Gepäckträger mit einem schweren Koffer auf der Schulter und wäre beinahe gegen ihn gerannt. Georg drehte sich zur Seite und sah dabei ein Stück ab ein Auto halten, vor dem ein Herr stand, der sich von einem anderen im Wagen gerade verabschiedete.

Das Gesicht dieses Herrn im Wagen? Georg fragte sich vergeblich: Wo habe ich das schon gesehen? Der Herr setzte sich jetzt nieder und drehte ihm dabei sein Profil zu. »Ah! Monsieur Forestier!« sagte Georg halblaut vor sich hin. »Sie hier?« Er berührte unauffällig Marians Arm.

»Merk dir mal das Gesicht des Herrn, der da eben kommt. Wenn er auch auf den ›James Cook‹ steigt, könnte man daraus einige Schlüsse ziehen.« –

Zwei Stunden später gingen die Maschinen des »James Cook« an. Der Dampfer setzte seine Reise fort.

*


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