Hans Dominik
Befehl aus dem Dunkel
Hans Dominik

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Das Reynard-Rennen in Epsom war gelaufen. Die Entscheidung, um die seit Wochen die Wetter in fieberhafter Erwartung zitterten, war gefallen. Black Boy, der Hengst des Mr. Melville, hatte das Rennen als Favorit überlegen gewonnen. Strahlend nahm der Besitzer die Glückwünsche entgegen, die ihm von allen Seiten zuflogen.

»Nun, Mr. Melville, will ich Ihnen auch meinen besten Glückwunsch aussprechen. Selten sah ich ein so schönes Rennen, und selten ist wohl ein Rennen so klar vom besten Pferd gewonnen worden.«

»Danke, danke, Mr. Turi! Ihr Lob freut mich sehr. Sie waren doch stets ein guter Pferdefreund und -kenner. Es bleibt dabei, daß Sie mich morgen in Harwood Cottage besuchen. Entschuldigen Sie mich jetzt. Ich muß zu meinem Trainer.« Der als Mr. Turi Angeredete winkte Melville einen Gruß zu und ging zur Tribüne zurück.

Niemand hätte in Mr. Turi den Abt von Gartok wiedererkannt. Gentleman von Kopf bis Fuß, unterschied er sich in nichts von den anderen Herren erster englischer Gesellschaftskreise, die auf der Tribüne saßen. Im Vorübergehen nickte er wiederholt Bekannten zu, die er schon früher begrüßt hatte. Nahm dann seinen alten Platz neben Mr. Kenwigs wieder ein, dem amerikanischen Botschaftsrat, den er noch von Oxford her kannte.

Die Unterredung der beiden, anscheinend in leichtestem Plauderton geführt, mußte doch wohl einen ernsteren Inhalt haben. Jedenfalls merkten sie erst, daß das nächste Rennen vorbei war, als der Sieger unter lautem Beifallsklatschen durchs Ziel ging. Mr. Turi benutzte die Gelegenheit, als viele Tribünenbesucher zum Sattelplatz strömten, um die Rennbahn zu verlassen. –

Auch ohne den dichten Nebel, der ein paar Stunden später über London lag, hätte wohl keiner seiner Bekannten Mr. Turi in dem Chinesen vermutet, der in Begleitung eines gelben Dieners im Chinesenviertel Londons verschwand. Die japanische Botschaft war nur zu gut beobachtet, um dort einen Besuch bei Jemitsus Vertrauensmann, dem Botschaftssekretär Ukuru, unbemerkt machen zu können. Was Mr. Turi in einer einfachen Kneipe des Chinesenviertels mit dem Botschaftssekretär besprach, sollte sich noch weittragend auswirken. –

»Hallo, Mr. Turi! Ich freue mich, Sie in Harwood Cottage begrüßen zu können. Nach dem Frühstück werden wir zu den Pferden gehen. Jetzt wollen wir uns erst einmal mit Vergnügen an unsere schönen Eton- und Oxfordzeiten zurückerinnern.«

Das Frühstück war längst genommen. Noch immer saßen die beiden und sprachen von jenen glücklichen Jugendtagen. Melville mußte immer wieder die vollendete weltmännische Bildung seines Gastes bewundern; staunte über die umfassenden Kenntnisse, mit welchen der über die mannigfachsten Fragen der Gegenwart sprach. Wußte er doch, daß Mr. Turi seit vielen Jahren in seiner Heimat in Hochasien ohne engere Verbindung mit dem Weltgetriebe lebte.

Der Butler unterbrach schließlich ihr Gespräch, indem er seinen Herrn an den Besuch der Koppeln erinnerte. Während sie in langsamer Fahrt über die grüne Fläche rollten, auf der die jungen Pferde sich tummelten, ging ihr Gespräch hin und her, wobei Mr. Turi nicht versäumte, Melville seine Anerkennung über die schönen Tiere auszusprechen. Wie beiläufig bat er Melville, ihn bei dessen Onkel, Sir Alfred Lytton, einzuführen, der seit kurzem Kolonialminister war.

Eine alte, wertvolle Urkunde des Klosters Gartok, das in Mr. Turis engerer Heimat lag, sei leihweise nach dem Kloster Barum in Britisch-Indien gekommen. Dort sei sie mit anderen wertvollen Dokumenten dieses Klosters von einem unredlichen Mönch an einen englischen Besucher verkauft worden. Sie befinde sich zur Zeit in London, in Staatsbesitz. Es könne keinem Zweifel unterliegen, daß diese Urkunde an das Kloster Gartok zurückgegeben werden müsse.

Melville war sofort bereit, Mr. Turi in jeder Weise zu unterstützen.

»Leider, mein lieber Turi, ist es nicht leicht, meinen Onkel zu erwischen. Er hält sich in London auf und kommt selten mal in sein Weekendhaus. Die verworrene politische Lage hat alle Ministerien und das Kolonialministerium im besonderen unter Hochdruck gesetzt. Da wird nichts anderes übrigbleiben, als uns in London zu einem bestimmten Tage zu verabreden und dann Sir Alfred im Ministerium selbst einen Besuch zu machen. Häusliche Störungen liebt er sehr wenig.«

»Aber selbstverständlich, Melville! Das ist das Richtigste, wenn wir Ihren Onkel im Ministerium selbst aufsuchen. Ich werde ihn keineswegs lange in Anspruch nehmen. Es genügt mir, wenn ich seine Aufmerksamkeit auf diese Sache gelenkt habe.« –

Zwei Tage später konnte Melville seinem Jugendfreund mitteilen, daß Sir Alfred Lytton ihn in seinem Ministerium am Nachmittag empfangen wolle. –

Die kühle, nicht sehr freundliche Haltung Sir Alfreds Mr. Turi gegenüber wurde im Lauf der Unterredung immer wärmer. Von dem Thema über die Urkunde abschweifend, unterhielten sie sich über allerlei interessante Fragen, auch über die Probleme im Fernen Osten. Zum Schluß der Audienz lud der Minister seinen Besucher ein, am übernächsten Tage um sechs Uhr wieder bei ihm im Ministerium vorzusprechen. Er werde sich bis dahin durch seinen Sekretär die nötigen Unterlagen verschafft haben, um vielleicht schon eine Entscheidung treffen zu können . . .

Am übernächsten Tage wurde Mr. Turi zur festgesetzten Stunde in das Arbeitszimmer des Ministers geführt. In Erinnerung an die vorgestrige Unterhaltung begann Sir Alfred das Gespräch mit einigen Fragen über hochasiatische Verhältnisse, die ihn sehr interessierten. Die starke Schwüle, die in dem Zimmer herrschte, ließ Mr. Turis Wunsch nach einer leichten Erfrischung begreiflich erscheinen. Sofort brachte ein Diener ein paar Flaschen Mineralwasser. Bald darauf wußte Mr. Turi das Gespräch auf den eigentlichen Zweck der Unterredung zu bringen. Der Minister, als wenn er sich jetzt erst der Sache erinnerte, stand auf.

»Da kann ich Ihnen einen günstigen Bescheid geben. Mein Sekretär hat schon bis Nötige veranlaßt. Immerhin will ich selbst schnell nachsehen. Vielleicht können Sie . . .« Der Minister war bei den letzten Worten zur Tür gegangen und verließ den Raum . . . so, wie es Turi Chan gewollt hatte.

Kaum daß die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, fielen aus Mr. Turis Hand zwei Pülverchen in das Glas des Ministers. –

Nach wenigen Minuten kam Sir Alfred Lytton zurück. »Die Sache ist schon Ihrem Wunsch gemäß eingeleitet, Mr. Turi. Bei der unzweifelhaft klaren Rechtslage dürfen Sie überzeugt sein, daß das Kloster Gartok seine Urkunde bald wiederbekommen wird.«

Mr. Turi dankte dem Minister mit gesucht herzlichen Worten und brachte dann das Gespräch wieder auf ein paar interessante Streitfragen, über die er sich vorher mit Sir Alfred Lytton unterhalten hatte. Dabei führte er sein Glas zum Mund und trank es aus. Und, wie angeregt durch diese Bewegung, griff auch Sir Alfred sein Glas und leerte es. Vielleicht hätte ein Arzt, der Sir Alfred genau kannte, einige Minuten später eine gewisse Veränderung in den Zügen und Augen des Ministers feststellen können. Ein Laie würde nicht das geringste an ihm bemerkt haben. Mr. Turi verstand es, die Unterhaltung so fesselnd zu gestalten, daß Sir Alfred Lytton mit dem Ausdruck starken Bedauerns aufstand, als sein Sekretär ihn an die angesetzte Konferenz mit dem Außenminister Northcott und dem Ministerpräsidenten Steele erinnerte. Einen Augenblick stand er unschlüssig, wie einen fremden Gedanken abwehrend. Begann dann mit langsamer, etwas gezwungener Stimme: »Es wäre mir sehr angenehm, Mr. Turi, wenn wir unser Gespräch recht bald fortsetzen könnten. Ihre Ansichten sind mir in vielen Zweifelsfragen sehr willkommen. Allerdings«, setzte er lächelnd hinzu, »ohne sie vollkommen teilen zu wollen. Wann würde es Ihnen . . .?« Lytton unterbrach sich: »Am liebsten wäre es mir, wenn Sie die Liebenswürdigkeit hätten, noch eine Weile hierzubleiben. Ich nehme an, daß die Konferenz nicht sehr lange dauern wird. Wir könnten dann unser interessantes Gespräch sofort wiederaufnehmen.«

Wieder hätte ein guter Psychologe vielleicht beobachten können, daß die zuvorkommenden und liebenswürdigen Worte des Ministers etwas mechanisch über seine Lippen kamen. Mr. Turi verbeugte sich voll Ehrerbietung und erklärte sich gern bereit zu warten. Freute sich dabei innerlich. Der Minister reagierte auf die Pülverchen hin ganz nach seinen Wünschen. Ob sie auch während der Konferenz so wirken würden, daß man seinen gedanklichen Befehlen folgte? –

Sir Alfred war zur Konferenz gegangen. Mr. Turi saß in einem bequemen Klubsessel des Zimmers, eine Zeitung vor den Augen. Doch was in dem Blatt stand, schien ihn wenig zu interessieren. Er hatte die Lider geschlossen, die Stirn gekraust. Seine Gedanken schienen ganz woanders zu sein. –

Die drei Kabinettsmitglieder saßen bereits seit einiger Zeit zusammen in eifrigem Gespräch. Einem heimlichen Zuhörer würde es aufgefallen sein, wie sich ihr Ton im Laufe der Besprechung immer mehr verschärfte. Nach längeren Ausführungen Sir Alfreds, die von Steele und Northcott mit zustimmendem Nicken begleitet wurden, erhob sich Steele und sagte mit einer Stimme, die im Vergleich zu seiner sonstigen Sprechweise als sehr stark bezeichnet werden mußte:

»Ich denke, wir können den übrigen Mitgliedern des Kabinetts, die ja bald hier sein werden, den fertigen Entwurf für unsere Antwort an die Regierung der Vereinigten Staaten gleich vorlegen. Ich will einmal den Inhalt unserer Note folgendermaßen skizzieren: ›Es kann für die Regierung Seiner Britannischen Majestät keinem Zweifel unterliegen, daß die andauernden Revolutionen in den lateinamerikanischen Staaten von nordamerikanischem Kapital inszeniert und finanziert werden. Die neuen, auf diese Weise zur ausübenden Gewalt gekommenen Parteien sind in jeder Weise bestrebt, das Eindringen nordamerikanischen Kapitals zu fördern. Andererseits versuchen sie alles, um die englischen Gläubiger zu schädigen. Die Antwort, welche die Regierung der Vereinigten Staaten auf die wiederholten Vorstellungen des Botschafters Lord Adison gegeben hat, kann die Regierung Seiner Britannischen Majestät in keiner Weise befriedigen. Sie sieht sich daher erneut genötigt, die ernstesten Vorstellungen zu erheben, und kann es nicht unterlassen darauf hinzuweisen, daß eine weitere hinausschiebende Behandlung der Angelegenheit durch die Vereinigten Staaten nicht geeignet wäre, die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten zu fördern.‹« –

Als die übrigen Kabinettsmitglieder kamen, wurde ihnen die Fassung der Note vorgelegt. Sofort erhob sich bei den meisten heftiger Widerspruch sowohl gegen den Inhalt wie gegen die Form. Doch nach einigen kurzen Ausführungen Sir Alfred Lyttons schlug die Meinung merkwürdig schnell um. Man stimmte sogar der Forderung Lyttons zu, die Note sofort den zuständigen Stellen zu übermitteln. –

Diese Note wurde zwar weder von England noch von den Vereinigten Staaten der Presse übergeben. Dennoch dauerte es nicht lange, so wußte die ganze Welt davon, und mehrere Tage waren die schon sehr nervösen Börsen der Welt in stärkster Verwirrung.

Da kamen neue Momente der Beunruhigung. Die ständige Stationierung eines starken englischen Kreuzergeschwaders mit Flugzeugmutterschiffen in Kingston auf Jamaika und die Modernisierung der dortigen Befestigungen hatten schon seit längerem böses Blut in den Vereinigten Staaten gemacht. Diplomatische Verhandlungen darüber hatten bereits des öfteren zwischen den beiden Mächten stattgefunden. Beim Besuch eines amerikanischen Geschwaders in Havanna hatte bei einem Festessen an Bord des Flaggschiffes »General Steuben« ein Kapitän eine etwas unvorsichtige Rede gehalten, in der er unter anderem auf ein kommendes Husarenstückchen gegen Jamaika anspielte. Ferner drang jetzt einiges in die Öffentlichkeit von einer Unterredung, die der amerikanische Botschafter in dieser Angelegenheit im Foreign Office gehabt hatte. In Ausdrücken, wie sie im diplomatischen Verkehr, gelinde gesagt, als selten bezeichnet werden müssen, hatte er den Standpunkt seiner Regierung überaus scharf vertreten. Es sickerte auch weiter durch, daß die amerikanische Regierung ihrem Botschafter eine Reprimande erteilt hatte, aber von einer Abberufung des Botschafters Stamford verlautete nichts. –

Mr. Stamford ging im Garten des Botschaftspalais auf und ab. Immer wieder dachte er an jenen Besuch im Foreign Office zurück. »Unglaublich, unmöglich!« sagte er immer wieder zu sich selbst. »Wie konnte ich mich so hinreißen lassen? Dieses Gesicht Northcotts . . . nur zu deutlich gab es seinen inneren Gefühlen über den hemdärmeligen Amerikaner Ausdruck. Sein Schweigen . . . seine Abschiedsworte . . . unser persönliches Verhältnis war doch immer ganz freundschaftlich . . . welche eisige Ablehnung . . . welche unberührte Überlegenheit drückten sie aus . . .« Erstaunlich, daß man in Washington sein Vorgehen nicht noch stärker gemißbilligt hatte . . .

Wie war er dazu gekommen? Immer wieder legte er sich die Frage vor. Seine Nerven? . . . Vollkommen intakt. Sein körperliches Befinden? . . . Gut. Von besonderem Verdruß oder Ärger in seinem Amt keine Rede. Kurz, eine geistige Indisposition, für die er keinerlei Erklärung hatte.

Sein Freund Warner, Botschaftsrat in Paris, der ihn auf der Durchreise gestern besuchte, hatte lachend gemeint: »Sie hatten vielleicht vorher zu gut gegessen oder . . . getrunken.«

Aber an so etwas überhaupt zu denken, war ja lächerlich . . .

Am späten Nachmittag war er im Foreign Office gewesen. Am Mittag vorher hatte er an einem Frühstück in der chinesischen Botschaft teilgenommen. Er hatte dort von den mannigfachen chinesischen Delikatessen nur genascht. Ein paar Gläser leichten Weins getrunken.

Seine Gedanken blieben eine Weile bei diesem Frühstück hängen. Dieser Mr. Turi, der ihm von den Gästen am stärksten in Erinnerung geblieben war – welch bedeutender Kopf war das! Es war nicht leicht gewesen, der geistvollen, interessanten Konversation dieses Asiaten in gleicher Weise zu dienen. Daß es jener Mr. Turi verstanden hatte, ihm unbemerkt ein gewisses weißes Pulver in das Glas gleiten zu lassen, ahnte er nicht. –

Als Mr. Turi zwei Tage später in das Flugzeug London–Paris stieg, ließ der japanische Botschafter sich durch den Botschaftsrat Ukuru in besonders herzlicher Weise verabschieden. –

War schon die Stimmung in der diplomatischen Welt überall sehr schwül, so zeigte sie in Paris eine besondere Spannung. Die eigenen ostasiatischen Interessen Frankreichs traten ganz zurück gegenüber den vielversprechenden Möglichkeiten, die gespannte Weltlage zu Frankreichs Gunsten auszunutzen. Offiziell war das Verhältnis des Quai d'Orsay zu den konfliktbeteiligten Staaten vollständig korrekt. Irgendwelche stärkeren Reibungspunkte gab es nirgends. Aber die Aussicht, bei etwaigen kommenden Auseinandersetzungen im trüben zu fischen, war so günstig, daß man alle Vorgänge mit besonderem Interesse verfolgte.

Daß die Stimmung der Presse stark zu den Gegnern Englands neigte, ließ die Regierung unberührt. Immerhin gab es nicht zu unterschätzende Schwierigkeiten in der Kammer, wo auch eine starke antienglische Stimmung festzustellen war.

Auf die Anfrage eines Abgeordneten über einen Artikel in dem halboffiziösen »Matin«, der in einem für England freundlichen Ton gehalten war, antwortete der Minister des Auswärtigen in der üblichen ausweichenden Weise. Darauf meldeten sich von verschiedenen Seiten Redner, welche diese ausweichende Stellungnahme aufs heftigste kritisierten, wobei eine starke englandfeindliche Tendenz nicht zu verkennen war.

Da trat der angesehene normannische Abgeordnete Robert Roux auf die Tribüne und hielt eine lange Rede im Sinne einer englandfreundlichen Politik. Er warf darin das im französischen Parlament stets unangenehme Thema der Rassenfrage auf und beleuchtete in überaus scharfer Weise die ostasiatischen Vorgänge vom Standpunkt des Rassenproblems aus. In flammenden Worten verlangte er eine unbedingte Stellungnahme der Regierung gegen die gelbe Gefahr.

Seine Ausführungen riefen erst zögernden, darin immer stärkeren Beifall hervor. Es war nicht zu verkennen, daß seine Rede einen tiefen, nachhaltigen Eindruck auf die übrigen Parlamentsmitglieder gemacht hatte. Als gegen Abend die Sitzung abgebrochen wurde, ließ sich mit ziemlicher Sicherheit ein starker Umschwung in der Beurteilung der außenpolitischen Fragen feststellen, und die Gegner Robert Roux' dachten jedenfalls mit Unbehagen an die nächste Sitzung, falls diese unter denselben Auspizien wiederaufgenommen werden würde. –

Da geschah etwas so Ungeheuerliches, Unverständliches, daß sich die Blätter aller Richtungen tagelang damit beschäftigten. Robert Roux hatte sich vom Parlamentsgebäude zu Fuß nach seiner Wohnung begeben wollen. Als er über den Pont Alexandre III kam, sprang er plötzlich über die Brückenbrüstung in die durch starke Regengüsse hoch gehende Seine und verschwand sofort vor den Augen der entsetzten Zuschauer in den Fluten.

Die allgemeine Meinung ging fast übereinstimmend dahin, daß Roux in einem Anfall von starker Nervenüberreizung den Tod gesucht habe. Es war ja auch ganz ausgeschlossen, daß sich irgendein Mensch darüber Gedanken machen konnte, daß Mr. Turi dem Abgeordneten vom Parlamentsgebäude bis zur Seinebrücke ganz unauffällig gefolgt war.

Die Gegner Roux' triumphierten innerlich. Die nächste Sitzung des Parlaments gab ihren Erwartungen durchaus recht.

Noch am Abend desselben Tages bestieg Mr. Turi ein Überseeflugzeug, das ihn in zwei Tagen nach Washington brachte. –

Auch hier geschah bald darauf etwas, was überaus verwunderlich war, wenn auch außer den direkt Beteiligten kein Mensch je etwas davon erfuhr. Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, Millington, fand am Morgen nach einer Unterredung mit dem japanischen Botschaftsrat Ohama und dessen Begleiter, Mr. Turi, in seiner Brieftasche die Summe von zweihunderttausend Dollar.

Er erinnerte sich, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte, nach und nach daran, daß ihm das Geld von dem Botschaftsrat Ohama übergeben worden war . . . und daß er im Anschluß an diese Unterredung an einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses teilgenommen hatte, in der wichtige außenpolitische Fragen besprochen worden waren. Millington fuhr sofort in das Gebäude des Ausschusses und ließ sich das Protokoll über die Sitzung vorlegen. Kopfschüttelnd, mißmutig überlas er das Schriftstück und überlegte, wie er in einer neuen Sitzung einiges daran ändern könne. Doch eine Rücksprache im Sekretariat ergab leider, daß der Inhalt schon an die zuständigen Stellen weitergeleitet worden war.

Das war sehr bedauerlich, denn die Beziehungen zu England mußten durch die Beschlüsse dieser Sitzung eine weitere Verschlechterung erfahren. Aber all das traf ihn ja persönlich viel weniger als das Bestechungsgeld – anders konnte er es ja nicht bezeichnen –, das wie Feuer in seiner Tasche brannte. In tage- und nächtelangem Grübeln suchte er aus diesem peinigenden, nervenzerrüttenden Zustand einen Ausweg zu finden.

Das Geld zurückgeben? . . . Dem Präsidenten Mitteilung machen? . . . Es ins Feuer stecken? . . . Nichts konnte ihn von dem Odium befreien, daß er es zunächst doch einmal angenommen hatte. Immer wieder suchte er vergeblich nach Gründen, die ihn zu diesem ungeheuerlichen Verbrechen bewogen haben konnten. Immer wieder versagte jede klare Überlegung. Nach langen, schweren Seelenqualen beschloß er, so bald als möglich seine Demission einzureichen. Als eines Tages die Zeitungen eine Notiz brachten, daß der Armenverwaltung New Yorks von ungenannter Seite die Summe von zweihunderttausend Dollar zugeflossen sei, dachte kein Mensch in den Vereinigten Staaten, daß dieser große Betrag von Herbert Millington stammte, von dem man wußte, daß er mit Glücksgütern keineswegs reichlich gesegnet war. –

Verfolgte man die Reise Mr. Turis weiter, die sich im Luftschiff über Frisko und Hawai nach Japan fortsetzte, so mochten die wenigen, die um Turi Chans Kunst und Ziel wußten, auch jenen Zwischenfall in Hawai auf seine Landung dort zurückführen. Auf einem Ball beim Gouverneur wurde der Kommandant eines dort ankernden englischen Kriegsschiffes, der auch zu dem Fest geladen war, von einem amerikanischen Offizier in schwerster Weise brüskiert. Der Notenwechsel darüber endete mit einer Entschuldigung der Washingtoner Regierung, die den Offizier scharf maßregelte. Immerhin vermieden es in Zukunft englische und amerikanische Offiziere, an irgendwelchen Veranstaltungen gemeinschaftlich teilzunehmen.

*

Der Dampfer »James Cook« hatte Italien hinter sich gelassen und näherte sich Malta, als er ein Radiogramm erhielt, auf der Höhe vor Malta zu stoppen und einige Passagiere aufzunehmen. Gegen Abend des gleichen Tages sichtete man vom »James Cook« aus ein Torpedoboot, das in rascher Fahrt auf den Dampfer zukam.

Da die Passagiere gerade beim Souper im Speisesaal saßen, kümmerten sich nur wenige um die Ankunft des Bootes, das einige höhere englische Offiziere an Bord des »James Cook« brachte. Als am nächsten Morgen Georg Astenryk auf Deck kam und nach einem vorüberfahrenden Schiff ausschaute, fühlte er sich am Arm ergriffen, und eine bekannte Stimme rief ihm zu: »Sind Sie's wirklich, Herr Astenryk, oder ist es Ihr Geist?«

»Ah, Herr Major Dale! Welche Überraschung! Sie kamen wohl gestern abend an Bord und wollen . . .«

». . . nach Australien«, vollendete Dale nickend. Fuhr dann fort, als er Georgs Gesicht freudig ausleuchten sah: »Wohin Sie augenscheinlich auch wollen, Herr Astenryk.«

»Sie haben recht, Herr Major. Ich bin auf der Fahrt zu meinem Bruder Jan. Die Verhältnisse in der Heimat haben sich für mich so gestaltet, daß ich dessen Angebot, zu ihm zu kommen, gefolgt bin.«

»Oh, Herr Astenryk, da mögen aber einige Tränen geflossen sein! Sie wissen wohl, daß ich das Vergnügen hatte, Ihr Fräulein Braut kennenzulernen.«

»Natürlich, Herr Dale! Meine Verlobte schrieb mir darüber sehr ausführlich. Wenn sie wüßte, daß wir jetzt zusammen auf dem ›James Cook‹ reisen!«

Ein Steward trat zu Dale und sagte: »Herr Oberst Gamp bittet den Herrn Major zu sich.«

»Nun, die Reise ist lang, Herr Astenryk. Wir werden uns noch öfter als einmal treffen. Auf Wiedersehen!« –

Es wurde für Georg eine sehr interessante, anregende Fahrt. Wenngleich er sich von den Bordvergnügungen geflissentlich zurückhielt, hatte er durch Dale doch bald einen größeren Bekanntenkreis gefunden. Darunter auch einen englischen Radioingenieur Roger Clennan. Der machte die Fahrt mit, weil der »James Cook« mit einer neuartigen Funkstation ausgerüstet worden war, die von ihm überwacht werden sollte. Georg unterhielt sich oft und gern mit Clennan, der erfreut war, einen sachverständigen Zuhörer in ihm gefunden zu haben.

Schon vor seiner Abreise hatte sich Georg vorgenommen, während der Fahrt Empfangsversuche mit seinem Verstärker zu machen. Er sagte sich, daß die Verhältnisse auf dem Schiff besonders bei Nacht sehr günstig sein müßten. Außer den zwei bis drei Personen auf der Kommandobrücke waren alle übrigen, die sich um diese Zeit unter Deck befanden, durch die eisernen Wände und Decken des Schiffes derart abgeschirmt, daß Wellen von ihnen seinen Empfangsapparat nicht beeinflussen konnten. Er hatte sich noch am Wilden Rain eine Nürnberger Schere angefertigt, an deren Spitze ein Draht befestigt war. Aus dem Bullauge seiner Kabine herausgespreizt, stellte sie eine brauchbare Antenne dar.

In manchen Nächten hatte er, besonders wenn Land in der Nähe war, versucht, Gedankenwellen durch seinen Verstärker zu empfangen. Diese Versuche waren meist recht unbefriedigend verlaufen. Dagegen war es ihm ein paarmal gelungen, von Schiffen, die nachts dem »James Cook« begegneten, klare Eindrücke von den Gesprächen und Gedanken der dort befindlichen Wachtpersonen zu bekommen. Es war ihm ein Vergnügen, bei diesen Experimenten sehr häufig auch die Nationalität der fremden Schiffe festzustellen.

Mehrmals war er drauf und dran gewesen, mit Clennan über diese Dinge zu sprechen. Clennan war Oberingenieur bei der englischen Firma Tyrell & Co. und galt in wissenschaftlichen Kreisen als ein Fachmann ersten Ranges. Doch immer wieder schien es Georg richtiger, sein Problem aus eigener Kraft bis zur endgültigen Lösung durchzuführen.

So hatte er nur Marian als Vertrauten, der ihm bei seinen Versuchen assistierte. Der hatte vor Beginn der Reise kategorisch erklärt, er wolle in der Touristenklasse fahren. Nach einigem Überlegen hatte Georg seinen Gründen beistimmen müssen. In der Tat wurden durch diese Trennung viele Schwierigkeiten, die sich aus der verschiedenartigen Stellung der beiden ergeben mußten, aus dem Wege geräumt. Aber indem Marian als Diener Georgs in die Schiffsliste eingetragen wurde, war es ohne die sonst üblichen Umständlichkeiten jederzeit für ihn möglich, zu Georg zu kommen. So konnten sie viele Stunden des Tages zusammensein und über zukünftige Pläne sprechen.

Eines Abends erzählte Marian mit seinem trockenen Humor von einigen klingenden Anerbietungen jenes Herrn, der sich am Quai in Genua von Mr. Forestier verabschiedet hatte. Georg hatte ihn gelegentlich durch seinen Steward als einen Herrn Crouzard, Handelsagenten, feststellen können. Marian berichtete eine amüsante Geschichte, wie er den neugierigen Franzosen, der allerlei wissen wollte – wohin Georgs und Marians Reise ging, und was sie da drüben vorhätten –, mit allerhand verwirrenden Märchenerzählungen genasführt hätte.

»Die Kerls haben bei uns wenig Glück«, sagte Georg schließlich lachend. »Weiß der Teufel, wie es kommt, daß die so eine ungeschickte Hand bei der Wahl ihrer Leute haben! Oder sollte es an etwas anderem . . . gar an uns selbst liegen? Nein! Wir tun doch eigentlich recht wenig dabei. Immerhin stimmt es mich nachdenklich, daß man uns andauernd auf den Fersen bleibt.

Wozu diese Herrschaften fähig sind, das haben wir ja am Wilden Rain erleben müssen. Was da eigentlich geplant war, habe ich in seinem ganzen Umfang erst jetzt von Dale erfahren, der während der Fahrt nach Brüssel so allerhand aufgeschnappt hat. Jedenfalls beweist diese unglaubliche Sache, daß wir stets auf der Hut sein müssen.« –

Mit Major Dale war Georg sehr oft zusammen. Durch ihn hatte er auch die vier englischen Offiziere kennengelernt, die mit Dale nach Sydney fuhren. Zwar trat er diesen nicht sehr nahe, doch gewann er aus ihren Gesprächen manchen interessanten Aufschluß über die australischen Verhältnisse und insbesondere über die gelben Aspirationen auf das große, menschenarme Land. –

Als er eines Tages wieder mit den Offizieren zusammensaß, fiel ihm auf, daß sie sehr wortkarg und mißgestimmt waren. Später, als er mit Dale allein war, fragte er ihn offen nach dem Grund dieser veränderten Stimmung.

Dale zögerte einen Augenblick und meinte dann: »Das ist eine Angelegenheit, über die ich Ihnen nicht viel sagen kann. Oberst Gamp vermißt seit gestern einige wichtige militärische Schriftstücke, die er in seinem Kabinenkoffer mit sich führte. Es wäre sehr folgenschwer, wenn diese Papiere in falsche Hände gekommen wären. Dazu käme noch die bedenkliche Unvorsichtigkeit, die Oberst Gamp beging, daß er die Papiere nicht in den Schiffstresor gab.«

»Haben Sie irgendeinen Verdacht, daß Sie von falschen Händen sprechen?«

»Nur den allgemeinen Verdacht, daß wahrscheinlich gelbe Hände im Spiel sind. Wobei es aber keineswegs festzustehen braucht, daß der Diebstahl direkt von gelber Hand ausgeführt ist. Für klingende Münze finden sich auch weiße Hände, die so etwas tun. Natürlich richtet sich unser Verdacht in erster Linie gegen die gelben Passagiere des Schiffes, und da haben wir unser Auge besonders auf einen Reisenden der ersten Klasse namens Soyjen aus Yokohama gerichtet. Beim Passieren des Suezkanals wurde dem Kapitän gefunkt, daß man auf Soyjen ein Auge haben möchte, er wäre dem englischen Nachrichtendienst als gefährlicher politischer Agent Japans gemeldet worden. Unter diesen Umständen ist natürlich eine Untersuchung seiner Kabine vorgenommen worden, aber ergebnislos.« –

Am Abend dieses Tages kam Marian zu Georg und fragte ihn, ob nicht das Kreuz des Südens bald am nächtlichen Himmel zu sehen wäre. Sie gingen beide auf Deck und hielten Umschau an dem von tausend Sternen überstrahlten Nachthimmel. Während sie dastanden und suchten, erzählte Georg Marian von dem Diebstahl bei Oberst Gamp.

Sie wollten sich eben trennen, da ging ein japanischer Passagier an ihnen vorbei. Georg erkannte im Strahl einer Laterne das Gesicht Soyjens, den ihm Dale gelegentlich gezeigt hatte. Als sie ein paar Schritte weiter waren, machte Georg Marian auf Soyjen aufmerksam. Marian drehte sich schnell um, eilte zu dem Platz, an dem sie eben gestanden hatten, tat, als wenn er etwas aufnähme, was er da verloren hätte, und fand dabei Gelegenheit, dem Japaner ins Gesicht zu sehen.

Georg war schon an der Treppe zu seiner Kabine angekommen und nickte Marian zum Abschied zu, da kam der hinter ihm her und ging mit in Georgs Kabine. Was Marian ihm hier berichtete, erregte Georgs Interesse aufs allerhöchste. Nach längerer Beratung trennten sie sich. Beim Fortgehen sagte Marian: »Auf alle Fälle bleibe ich noch bis zur Ablösung der Wache auf Deck. Vielleicht kriege ich ihn noch heute nacht.« –

Am nächsten Morgen in aller Frühe kam Marian in Georgs Kabine. »Ich hab's heraus!« sagte er flüsternd zu Georg.

Der machte große Augen. »Hast du das wirklich fertiggebracht, Junge? Unglaublich, daß dir das tatsächlich so gelungen ist! Na, wenn nun alles klappt, wirst du wohl viel Schmeichelhaftes zu hören bekommen. Vielleicht wird aber mancher in großem Bogen um dich herumgehen, wenn er dich einmal von dieser Seite kennengelernt hat.«

Georg hatte sich inzwischen angezogen, trat aus der Tür und ging zu Dales Kabine. Der lag noch in tiefem Schlaf, als Georg an die Tür klopfte. Seine unwillige Miene hellte sich jedoch schnell auf, als er den Störenfried erkannte. Er wunderte sich nicht wenig, als Georg ihn dringend zu sprechen wünschte. Was der ihm da erzählte, erregte bei Dale zunächst nur ungläubiges Kopfschütteln. Doch allmählich wurde er von Georgs bestimmten Worten so gepackt, daß er sich eiligst in die Kleider warf. Er bat Georg, auf ihn zu warten, ging zur Kabine des Obersten Gamp und ließ auch den Ersten Offizier des »James Cook« dorthin bitten. Nach längerer erregter Besprechung verließen der Erste Offizier und Major Dale die Kabine.

Sie begaben sich mit einem Maschinisten in das Logis, in dem die chinesischen Heizer des Dampfers hausten. Der Maschinist ging auf die Koje eines Heizers zu, riß das Bettzeug herunter und tastete alles ab.

»Ah, hier! Bei Gott, hier knistert es! Hier stecken Papiere!« Er zog sein Taschenmesser, schnitt den Bettsack auf und griff hinein.

»Wahrhaftig! Da sind sie!« rief Dale mit unterdrückter Stimme. Er nahm die Papiere an sich. »Was wir wollten, haben wir Gott sei Dank wieder. Den Heizer und all das andere darf ich wohl Ihnen überlassen«, wandte er sich an den Ersten Offizier. »Ich eile zu Oberst Gamp. Er wird es kaum erwarten können, das Resultat zu erfahren.«

Als Dale wieder in seine Kabine kam, fand er den Oberst und Georg in höchster Spannung.

»Hier sind sie!« rief er dem Oberst freudestrahlend zu. »Es verlief alles programmäßig.«

Der Oberst sprang auf, konnte beim Anblick der Schriftstücke kaum seine Selbstbeherrschung bewahren.

»Bei Gott, es ist wahr!« Sorgfältig prüfte er die Dokumente. »Alles ist beisammen. Nichts fehlt! . . . wirklich . . . wenn mir das gestern einer erzählt hätte, ich hätte ihn ausgelacht . . .

Nun müssen Sie mir aber unbedingt diesen Marian Heidens vorstellen, Herr Astenryk. Ich möchte doch den Menschen kennenlernen, der so übernatürliche Kräfte besitzt. Ich erinnere mich aus meiner Dienstzeit in Indien, daß von solchen Jogikünsten manchmal die Rede war, aber man hielt das doch allgemein für Märchen.«

Georg ging und kam bald darauf mit Marian wieder. Oberst Gamp drückte Marian die Hand.

»Herr! Wie soll ich Ihnen danken? Da haben Sie wirklich ein Meisterstück vollbracht. Nun müssen Sie aber mal selbst erzählen, wie Sie das fertigbekommen haben.«

Marian schüttelte verlegen den Kopf und sah zu Georg hinüber. Der warf ihm einen aufmunternden Blick zu. »Nur los, Marian! Mir wollten sie ja nicht recht glauben. Erzähl alles von Anfang an!«

Und Marian begann, wie er eines Abends sah, daß ein Passagier der ersten Klasse, ein Gelber, zum Zwischendeck kam und dort an der Reling eine Zeitlang wie wartend stand. Nach einiger Zeit kam einer der chinesischen Heizer auf Deck und begab sich auch zur Reling, wobei er dicht an dem Passagier vorbeistrich. Obwohl das sehr schnell geschah, habe er doch gesehen, wie der Passagier dem Heizer etwas zusteckte. Da es sich um zwei Gelbe handelte, habe er der Sache kein besonderes Gewicht beigelegt . . .

»Als ich ein paar Tage später«, fuhr er fort, »durch Mr. Astenryk von dem Diebstahl der Papiere hörte und er mir den Passagier Soyjen, der gerade vorüberkam, als verdächtig bezeichnete, erinnerte ich mich sofort jenes Vorfalls mit dem Heizer . . . und das Weitere war ja nun nicht allzu schwer.«

»Das sagen Sie, Mr. Heidens«, warf Dale lachend ein. »Damit kommen Sie aber bei uns nicht weiter. Wir wollen jetzt mal ganz genau wissen, wie Sie aus dem Heizer 'rausgebracht haben, daß die Papiere in seinem Logis und ausgerechnet in seinem Bettsack versteckt wären. Also bitte, mein lieber Herr . . .«

Marian warf Georg wieder einen bittenden Blick zu. Doch der lachte. »Nur 'raus mit der Sprache! Die Herren wissen ja längst, daß du über eine so außergewöhnliche Gabe verfügst. Sie wissen auch, daß wir uns untereinander in dieser Weise verständigen können.«

Marian senkte den Kopf, begann dann mit leiser Stimme:

»Ich wartete an dem Abend, wo Mr. Astenryk mir von dem Diebstahl erzählt hatte, bis der Heizer nach Beendigung seiner Wache auf Deck kam. Dann trat ich wie von ungefähr neben ihn und unterhielt mich mit ihm in englischer Sprache . . .

Während unserer Unterhaltung suchte ich ihn geistig zu fassen. Als es mir endlich gelungen war, zwang ich ihn, in Gedanken alles zu erzählen, was auf die gestohlenen Papiere Bezug hatte. Sobald ich über ihren Verbleib genau Bescheid wußte, ließ ich ihn allmählich wieder los, lenkte in das alte Gespräch ein und führte es harmlos zu Ende.«

Gamp und Dale hatten mit gespanntester Aufmerksamkeit Marians Bericht gelauscht.

»Das ist doch eine merkwürdige Veranlagung, die Ihnen die Natur da mitgegeben hat«, meinte Dale nach einiger Zeit. »Daß Sie mit Mr. Astenryk, den Sie von Kindheit an kennen, in dieser Weise Gedanken austauschen können, wäre ja schließlich begreiflich. Aber einen anderen. Fremden ›fassen‹ ihn zwingen . . . ihn loslassen . . . ohne daß er sich dessen bewußt wird, sich später an die Vergewaltigung seines Hirns erinnert . . . das ist mehr als wunderbar.«

Gamp stand auf und drückte Marian die Hand. »Der Dienst, den Sie uns geleistet haben, wird Ihnen nicht vergessen werden. Wir wissen von Herrn Astenryk, daß irgendeine Belohnung von Ihnen nicht angenommen werden würde. Vielleicht gibt es aber doch einmal eine Gelegenheit, wo unser Dank Ihnen nützlich sein kann. Und Ihnen, Herr Astenryk, muß ich selbstverständlich auch danken. Sollten Sie drüben einmal irgendwie in Verlegenheit kommen, wenden Sie sich bitte an mich oder Major Dale. Jetzt aber will ich Sie nicht länger aufhalten, ich muß zum Kapitän. Dieser gelbe Schurke Soyjen muß sofort festgemacht werden.« –

Der »James Cook« hatte Colombo angelaufen. Mr. Soyjen und der chinesische Heizer waren den englischen Behörden übergeben worden. Das Schiff nahm Kurs auf die Malakkastraße. –

Am Mittag desselben Tages saßen die Passagiere des »James Cook« beim Lunch, als ein Steward in den Speisesaal kam und dem Kapitän eine anscheinend wichtige Meldung machte. Der stand sofort auf und ging hinaus.

Der schnelle Aufbruch des Kapitäns beunruhigte die Passagiere. Viele verzichteten auf den Nachtisch und verließen nach und nach den Raum. Aber auch die Letzten strömten nach oben, als ganz deutlich zu merken war, daß das Schiff seine Fahrt verlangsamte und schließlich stoppte.

Als Georg mit Dale auf Deck kam, sahen sie, wie ein Flugzeug eben auf das Meer aufsetzte, während gleichzeitig ein Rettungsboot vom Schiff abstieß. Georg wandte sich zu Clennan und bat ihn um Auskunft. Der sagte, das Flugzeug habe wegen Motordefekts niedergehen müssen. Es habe vorher den »James Cook« angefunkt und ihn um Hilfe gebeten. In dem Flugzeug befände sich der neue Gouverneur für Singapore, Sir Reginald Wegg, mit seinem Adjutanten.

Mit einigen Schwierigkeiten wurden die Passagiere des Flugzeuges mit ihrem Gepäck von dem Rettungsboot übergenommen. Die hoch gehende See machte eine Bergung des Flugzeuges unmöglich.

Bald darauf betraten Sir Reginald Wegg und sein Adjutant das Deck. Sir Reginald dankte dem Kapitän für seine sofortige Hilfeleistung und begab sich mit ihm unter Deck.

»Der kleine Koffer, Herr Kapitän, den mein Adjutant Hauptmann Clifton da bei sich trägt, enthält äußerst wichtige Dinge. Staatsgeheimnisse sind darunter. Verschließen Sie ihn sofort im Tresor.«

Vor den Augen Weggs öffnete der Kapitän den schweren Panzerschrank und tat den Koffer hinein.

»Gott sei Dank, Clifton, daß die Schatulle in Sicherheit ist. Wenn ihr Inhalt in falsche Hände geraten wäre, würde es schlimmer sein, als wenn uns die Haifische gefressen hätten.«

*

»Das war wirklich ein Meisterstück, meine allergnädigste Frau Helene.«

Mr. Shugun beugte sich immer wieder über die Hand Helenes und küßte sie. »Es gibt bei Ihnen eine Geschichte von einem Mann, der auszog, einen Esel zu suchen, und der ein Königreich fand.«

Wieder beugte er sich über Helenes Hand und streichelte sie.

»Diese glückliche Hand! Nun müssen Sie uns . . .«, er warf einen Blick auf Forbin, der im Zimmer auf und ab stolzierte, wie ein geblähter Pfau . . . »aber auch berichten, wie Ihnen das Stückchen gelang.«

Er nahm Helenes Arm und führte sie zu einer Stuhlgruppe, von der man den schönen Blick über den Hafen von Cannes genießen konnte. Helene ließ sich nieder, schlug die schlanken Beine übereinander und betrachtete einen Augenblick sinnend ihre wohlgepflegten Hände. Ihr Gesicht, strahlend in Freude über den errungenen Erfolg, schien Shugun schöner denn je. Mit brennenden Augen verschlang er das wunderbare Bild. Seine Seligkeit hätte er für ihren Besitz gegeben. Und doch . . . diese entzückende Frau . . . wie konnte sie innerlich so kalt sein? Was für ein Mann mußte das sein, der ihr Blut zu entflammen vermochte?

Er warf einen neidvoller Blick auf Forbin, den glücklichen Besitzer dieses Meisterwerkes. Doch der hatte ganz andere Gedanken. Dessen Augen hingen an dem prachtvollen Geschmeide, das Helene um den Hals trug, einem Geschenk Shuguns. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn der Japaner die gewiß ganz anständige Summe, die Forbin in seiner Brieftasche trug, um den Betrag des Schmuckes erhöht hätte. Unter zwanzigtausend Mark war der sicher nicht zu haben. Andererseits war aber der Gedanke tröstlich, für gewisse Notfälle ein wertvolles Versatzstück in Reserve zu haben.

»Ja also, meine Herren« begann Helene, »von großen Schwierigkeiten oder interessanten Zwischenfällen kann ich nichts berichten. Die Sache vollzog sich sehr einfach. Das sechssitzige Eilflugzeug London-Kairo startete planmäßig in Croydon. Die von Ihnen . . .« sie warf einen Blick zu Shugun ». . . bezahlten drei Plätze blieben leer, da die Herren Jones, Brown und Smith programmäßig nicht da waren. Ich war also mit Sir Reginald Wegg und seinem Adjutanten Clifton allein im Flugzeug.

Der erste Teil des Fluges über Frankreich verlief ziemlich eintönig. Die beiden hatten viel miteinander zu sprechen. Als wir uns gegen Abend der Côte d'Azur näherten, ging ich zu der gegenüberliegenden Kabine, um das wundervolle Bild der tausend Lichter, die wie eine Perlenkette die Küste säumten, zu genießen.

Hatte Clifton denselben Gedanken oder hatte er einen kleinen Ermunterungsblick von mir empfangen? – er trat auch in diese Kabine und ergoß sich ohne weiteres in einer Flut von bewundernden Worten über den unvergleichlich schönen Fernblick. Einmal ins Gespräch gekommen, dauerte es nicht lange, und Clifton verschwendete keinen Blick mehr an das schöne Landschaftsbild unter ihm. Er widmete sich ganz dem Bild, das handgreiflich in seiner nächsten Nähe war. Ich schickte ihm einen zweiten Blick zu, der ihm Mut machte, noch mehr aus sich herauszugehen.

Nach dem Abendessen, das wir zu dritt in der Kabine des Gouverneurs einnahmen, legte sich Wegg bald schlafen. Nach einiger Zeit trafen wir uns wieder in der leeren Kabine. Da es empfindlich kühl geworden war, beeilte sich Clifton, meinen Wunsch nach einem Glas Wein zu befriedigen. Es war zweifellos ein vergnügter Abend. Es fiel mir nicht schwer, meine Rolle als lebenslustige junge Witwe zu spielen, denn Clifton war ein sehr angenehmer Partner. Jung, hübsch, elegant, geistreich . . . alle Vorzüge, die eine Frau bei einem Mann sucht, waren da.

Trotzdem war ich froh, als gegen Mitternacht Clifton vergeblich gegen die immer stärker werdende Schlafsucht ankämpfte. Dies war eigentlich der gefährlichste Moment. Denn Clifton hätte sich doch wundern müssen, daß sein Liebesfeuer, das ich mich allerdings hütete zu steigern, nicht imstande war, die unerklärliche körperliche Müdigkeit zu überwinden, die mein Schlafpulver ihm verursachte.

Bald nachdem er sich zur Ruhe begeben hatte, ging ich in seine Kabine und holte mir die Schlüssel zu dem kleinen Handkoffer, den Sie mir ja genau beschrieben hatten, Herr Shugun. Ich öffnete den Koffer und fand darin eine Schatulle. Sie enthielt die gewünschte Typenscheibe für die Chiffriermaschine des Gouverneurs.

Der übrige Inhalt der Schatulle, die Zeichnungen, schienen mir, nach dem Aufbewahrungsort zu schließen, jedenfalls nicht unwichtig. Ich photographierte die Scheibe und sämtliche Zeichnungen. Daß es sich dabei um die Pläne der Festungswerke von Singapore handelte, ließ ich mir nicht träumen.«

»Um so größer ist natürlich unsere Dankbarkeit, gnädigste Frau. Und ich glaube«, hier sah Shugun zu Forbin hinüber, »Sie werden zufrieden sein. Bei dieser Gelegenheit möchte ich den Herrschaften einen Vorschlag unterbreiten, der mir von anderer Stelle nahegelegt ist . . .«

»Hm . . . hm . . . und der wäre?« sagte Forbin.

»Wären die Herrschaften vielleicht geneigt, fest in unsere Dienste zu treten?«

Forbin zog überlegend die Brauen zusammen, doch schon kam Helenes Antwort: »Auf keinen Fall, Herr Shugun! Jedes Muß ist mir verhaßt. Frei will ich sein. Vielleicht . . .« – sie schwenkte die Hand – »kommen Sie früher oder später mit einem Wunsch, den zu erfüllen ich geneigt bin, dann werde ich dabeisein.« –

Als nachher Forbin und Helene allein waren, fragte Helene mit offenbarer Neugierde: »Nun, wie war es in Creusot? Hast du wieder nichts erreicht?«

Über Forbins Gesicht ging ein selbstgefälliges Schmunzeln.

»Diesmal habe ich mehr Glück gehabt. Doch komm! Gehen wir zum Strand, wo wir möglichst allein sind. Denn das kann ich dir sagen, jetzt begreife ich die Heimlichtuerei Castillacs und Shuguns sehr wohl.« –

Am Strande angekommen, setzten sie sich auf die Bänke eines hochgezogenen Bootes. Dann begann Forbin zu erzählen, wobei er sich bemühte, möglichst mit gedämpfter Stimme zu sprechen.

»Die Waffen sind für Rußland bestimmt.«

»Für Rußland? Das ist deine ganze Weisheit?« Helene lachte laut auf.

»So laß mich doch erst ausreden, Helene. Gewiß, für Rußland, das heißt nicht für die jetzige russische Regierung, sondern für eine russische Armee, die da hinten im Fernen Osten aufgestellt wird, um gegen die Moskauer Regierung zu kämpfen.«

Helene zuckte die Achseln. »Das scheint mir alles fauler Zauber. Dabei wird sicherlich nichts 'rauskommen.«

»Kann sein, kann auch nicht sein. Man rechnet augenscheinlich auch nicht mit einem unbedingten Erfolg. Aber einerlei, wie es schließlich auch ausgeht, der Hauptzweck, den man in Tokio im Auge hat, ist der, der Moskauer Regierung Schwierigkeiten zu machen und sie so zu beschäftigen, daß sie nicht Gelegenheit findet, sich in die ostasiatischen Händel zu mischen. Japan hat natürlich großes Interesse daran, während einer Auseinandersetzung mit England den Rücken frei zu haben.«

»Das läßt sich hören. Damit hätte jedenfalls Japan seine Position gestärkt. Aber erzähle weiter. Wie stellt man sich in Frankreich dazu?«

Forbin machte eine zweifelnde Handbewegung.

»Ich weiß nicht, wie weit man dort von dem Plan Wind bekommen hat. Jedenfalls sind bisher keine Schwierigkeiten entstanden. Gegebenenfalls wird man sich dahinter verschanzen, das Kriegsmaterial wäre für Japan bestimmt.«

Helene dachte einige Zeit nach.

»Es wäre doch von großem Interesse, zu wissen, wer dieser Herr Krall ist. Ich sagte schon einmal, es würde natürlich vorteilhafter für uns sein, wenn wir ohne Castillac Geschäfte machen könnten. Von Shugun ist eine Auskunft kaum zu erwarten. Du mußt es irgendwie selber herausbekommen. Noch besser wäre es natürlich, wenn wir die Leitung und speziell den Führer dieses Unternehmens ermitteln könnten. Vielleicht würde ich da noch mehr erreichen.«

»Das wäre allerdings sehr erwünscht, Helene. Ich halte es unter diesen Umständen für richtiger, wir brechen unsere Zelte hier unten ab und verzichten auf die Genüsse und kleinen Geschäfte, die der Saisonbetrieb an der Riviera uns bringen könnte. Wir müssen nach Paris zurück. Anne wird wieder ein Gesicht machen, daß wir sie so lange allein gelassen laben.«

»Es geht unmöglich, Alfred, daß wir Anne fernerhin bei uns behalten. Jetzt sitzt sie wieder allein in Paris, langweilt und ängstigt sich. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir in nächster Zeit viel auf Reisen sein. Sie mitzunehmen ist ausgeschlossen. Sie allein zu lassen ist ebenfalls nicht möglich. Was sollen wir mit ihr machen?«

»Ja, wenn ich das wüßte, Helene! Was du sagst, ist vollkommen richtig. Das beste wäre, wir täten sie irgendwo in eine Pension. Den Preis für ein Jahr würden wir gleich erlegen. Wir haben's ja.« Er klopfte an seine Brieftasche.

»Die Idee ist nicht schlecht, Alfred. Ich will mir das mal überlegen, wo wir Anne unterbringen.«

*


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