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Sechszehnter Tag.

Meine Erlebnisse im Gasthaus zum blutigen Knochen. Mein Debüt als Räuberwillem und der Anschlag auf die Badeanstalt in Halberstadt. Die Beziehungen zwischen Poesie und Verbrechen, nebst einem wichtigen Kapitel über Graphologie. »Geister nicht, aber Maikäfer – tausende!«

 

Ich war natürlich in Halberstadt nicht in der Laune, noch lange nach dem feinsten Hotel zu suchen, im Gegenteil, ich wählte das erste was ich traf, und geriet so durch Zufall in ein Lokal, welches zwar nicht im Bädeker verzeichnet ist, das sich aber doch bei gewissen Berufsschichten einer ausgesprochenen Beliebtheit erfreut. Es war der Gasthof zum blutigen Knochen, in dem hauptsächlich nur Gentlemen verkehrten, die die Institution der Polizisten, Richter und Zuchthausdirektoren für durchaus überflüssig, ja im geschäftlichen Verkehr für direkt hinderlich hielten.

Natürlich hatte ich von alledem keine Ahnung als ich eintrat, und wunderte mich nur über das merkwürdige Fremdenbuch, das mir vorgelegt wurde. Eine Unmasse Rubriken gab es darin, die von einer ungewöhnlichen polizeilichen Neugierde zeugte. Nicht nur Fragen nach dem Woher, Wohin, Stand, Militärverhältnis, Religion, Parteizugehörigkeit, Orden und Ehrenzeichen, Vorstrafen, Namen des Vaters, der Großeltern und sämtlicher Tanten fand ich, nein man wollte auch wissen, wann und wo ich meinen letzten Einbruch verübt und in welcher Anstalt ich zuletzt gesessen hätte. Ich blickte den Wirt fragend an, aber der beruhigte mich mit einem listigen Augenzwinkern.

»Die Polizei will das alles wissen, sonst bekomme ich keine Wirtschaftskonzession. Aber machen Sie sich keine Sorgen, schreiben Sie nur irgend etwas hinein. Um Ihre Privatverhältnisse bekümmert sich hier keiner, wir sind ja alle Kollegen.«

Und der Wirt, den seine Gäste Laatschenaugust nannten, drückte mir als Kollegen die Hand. Ich aber trug unter anderm folgendes ein:

Name: Räuberwillem, auch Stupsneese genannt. Beruf: Geldschrankknacker. Zweck der Reise: Um in Halberstadt das Schwimmen zu erlernen. Namen der Frau: Radauida. Letzter Aufenthalt: Tegel (soeben ausgebrochen!).

Kurz, als der Wirt meine Eintragung gelesen hatte, bat er mich mit ausgesprochener Hochachtung, doch am Stammtisch Platz zu nehmen, und stellte mich dort seinen Freunden als hervorragenden auswärtigen Kollegen vor. Es waren alles prächtige Menschen, die ich hier kennen lernte: Brillenkönig, Teckelbeen, Athletenfritz, Mottenaugust, Bienenwilhelm, Polnischer Julius und so weiter. Auch einige Damen saßen da: Piratenanna, Speckmieze, Soffrieke, Appelsinenjuste, Nebelkrähe. Ich muß sagen, man kam mir hier sofort sehr herzlich entgegen, sodaß ich mich ganz wie zu Hause fühlte.

Natürlich drehte sich das Gespräch hauptsächlich um Fachangelegenheiten, um Ein- und Ausbruchsgeschichten. Wir klagten über die zunehmenden Schwierigkeiten beim Geschäft, und wie in der guten alten Zeit doch alles viel besser gewesen sei. Dann erzählten wir Geschichten aus unserem Leben, und einigen alten Einbrechern kamen die Tränen in die Augen, als sie sich ihrer Jugendjahre und ihres ersten gelungenen Diebstahls erinnerten. Ich redete natürlich wie immer am allermeisten, und ich darf wohl sagen, ich habe den Kerlen imponiert.

Grade hatte ich eine blutige Ausbruchsgeschichte vom Nagel gelassen, daß dem ganzen Stammtisch die Haare zu Berge standen, da fragte mich Mottenaugust, ein junger, pockennarbiger Flatterfahrer, ob ich eigentlich Houdini kennte, den berühmten Ausbrecherkönig.

»Gott, was ist Houdini gegen mich?« meinte ich verächtlich, denn man darf sich nie im Leben an die zweite Stelle setzen.

Aber Mottenaugust regte sich auf. Offenbar war Houdini sein Ideal. »Houdini kann alles. Ihm widersteht kein Schloß. Der läßt sich wie ein Packet mit Ketten zusammenschnüren, daß er keine Muskel mehr rührt. Dann sperrt man ihn in eine Kiste und nagelt sie zu, und es dauert keine fünf Minuten, da ist Houdini auch schon draußen, frei und ohne Fesseln.«

»Kleinigkeit!« sagte ich mit mitleidiger Freundlichkeit. »Ich lasse mich ohne jedes Instrument in einen Geldschrank einschließen, und in fünf Minuten bin ich draußen.«

Allgemeines Staunen folgte meinen Worten, und Mottenaugust sperrte das Maul auf.

»Na, ich will Ihnen eine Geschichte erzählen,« fuhr ich fort. »Also ein paar Freunde von mir hatten da einen Geldschrank gestohlen und ihn sicher in ihre Wohnung gebracht. Vierzigtausend Mark steckten darin, das wußten sie, aber der Geldschrank war von einer so ausgezeichneten Qualität, daß sie ihn selbst mit den raffiniertesten Methoden der modernen Technik nicht öffnen konnten. Endlich kamen sie auf die Idee, sich an mich zu wenden, ich sollte ihnen doch helfen. Aber ich lehnte das entschieden ab, denn es ist ein Prinzip von mir, daß ich mich niemals in die Geschäfte anderer Leute einmische. Bis der Dove Anton, der gerissenste von der Gesellschaft, mich doch noch herumkriegte. ›Na, ja‹, reizte er mich. ›Mit dir ist ooch nischt mehr los. Jedenfalls wette ich um einen braunen Lappen, daß du mehr als zehn Minuten brauchst, wenn wir dich in den Geldschrank sperren, eh du wieder draußen bist.‹ ›Was!‹ sagte ich. ›Zehn Minuten? Fünf genügen! Und ihr dürft mir die Hände und Füße zusammenbinden, eh ihr mich in den Geldschrank sperrt!‹ Die Wette wurde also auf tausend Mark abgeschlossen. Meine Freunde banden mir die Hände und Füße zusammen und zwängten mich in den Geldschrank!«

»Halt!« unterbrach mich hier der Mottenaugust. »Das ist doch unmöglich. Der Geldschrank war doch verschlossen. Wie konnten sie da –«

»Junger Mann,« sagte ich mit väterlicher Würde. »Erzählen Sie die Geschichte oder ich? Wenn Sie alles besser wissen wollen, dann legen Sie doch los!«

Aber Mottenaugust schwieg schon. Die ganze Tischgesellschaft war entrüstet über die Unterbrechung meiner Erzählung. »Maulhalten!« sagte der alte Bienenwilhelm, und Piratanna, die mit Mottenaugust offenbar ein zärtliches Verhältnis unterhielt, haute ihrem Bräutigam eine runter. So konnte ich also ungestört meine Erzählung zu Ende führen.

»Also ich steckte gefesselt und gebunden im Geldschrank, und meine Freunde warteten mit der Uhr in der Hand im Nebenzimmer, daß ich herauskäme, denn sie wollten gerne die tausend Mark zahlen, wenn ich nur den Geldschrank öffnete. Sie warteten fünf, sechs, sieben Minuten, ohne daß ich zum Vorschein kam, und als sie endlich ins Zimmer kamen, bemerkten sie zu ihrem grenzenlosen Staunen, daß der Geldschrank weit offen stand, ohne daß von mir auch nur ein Schimmer zu sehen war. Nur das offene Fenster zeigte den Weg, den ich gegangen war, und auf dem Tische lag folgender Zettel:

 

Liebe Freunde, mein Zartgefühl verbietet es mir, Euch die gewonnenen tausend Mark abzunehmen. Deshalb habe ich mich ohne Abschied entfernt. Seid aber versichert, es war mir ein Vergnügen, Euch diese kleine Gefälligkeit zu erweisen. Euer ergebener Räuberwillem.

P. S. Ihr habt doch nichts dagegen, daß ich mir die vierzig braunen Zettel, die in dem Geldschrank lagen, als Andenken mitnahm. Ich werde sie meiner Bildersammlung einverleiben.

Seit der Zeit haben meine Freunde vor mir eine unbegrenzte Hochachtung.«

Als ich meine Erzählung beendet hatte, erhob sich der ganze blutige Knochen, um auf mein Wohl anzustoßen. Mottenaugust aber bat mich um Verzeihung, weil er auch nur einen Augenblick an meinen Worten gezweifelt hatte. Aber ich zog mich vor den weiteren Ovationen meiner neuen Freunde zurück, ich war sehr müde und wollte schlafen gehn. Ich machte daher ein geheimnisvolles Gesicht und sprach von einer Arbeit, die ich morgen früh vorhätte, worauf sie mir herzlich Gutenabend wünschten. Nur Mottenaugust fragte mich, ob er bei der Arbeit nicht Schmiere stehen könnte, und war untröstlich, als ich ihm sagte, die Arbeit müßte ich allein ausführen.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, stand schon ein Kriminalbeamter vor meinem Bett, um mich zu verhaften. Er hatte aus der Fremdenliste ersehen, daß ich ein langgesuchter Raubmörder sei, und wollte vor allen Dingen wissen, was ich unter dem Schwimmenlernen verstände, das ich als Zweck meiner Reise angegeben hatte. Jedenfalls, so meinte er, sei wohl ein Einbruch in die städtische Badeanstalt geplant.

Aber ich ließ mich nicht beirren. Ich zog mich in aller Ruhe an und frühstückte erst unten im Restaurant. Dann aber zog ich ein amtlich beglaubigtes Papier aus der Tasche, meinen eigenen Totenschein, den mir ein befreundeter Magistratssekretär einmal für solche Fälle ausgestellt hat. Der Kriminalbeamte musterte das Papier sorgfältig. Alles, der Stempel, die amtlichen Schnörkel und vor allen Dingen mein Singnalement stimmten auffallend. Da war nichts zu machen, und mit einer höflichen Entschuldigung zog er sich zurück. Einen gerichtlich für tot erklärten Menschen, eine Leiche, zu verhaften, das war in seiner Instruktion noch nicht vorgekommen, und ein Beamter tut nur, was in seiner Instruktion steht. Aber ich zog es jetzt vor, Halberstadt zu verlassen, ehe die Behörden für diesen besondern Fall etwa ihre Instruktionen abänderten. Ich fühlte mich schon zu berühmt hier und strebte wieder nach dem stillen Frieden meines Wanderlebens.

Fröhlich wanderte ich daher auf der Magdeburger Straße zum Tore hinaus, von keinem Menschen angefochten, und nur vor der Badeanstalt sah ich ein starkes Beamtenaufgebot. Die Leute stehen wahrscheinlich heute noch dort. So endete mein kurzes, aber ehrenreiches Debüt als schwerer Verbrecher.

Es ist merkwürdig, warum ich eigentlich in Wirklichkeit kein berufsmäßiger Verbrecher geworden bin. Alle Anlagen dazu schlummerten immer schon in mir, aber irgend etwas, eine gewisse Schwäche oder Faulheit hinderte sie, sich durchzukämpfen, und so wurde ich schließlich Schriftsteller und begnügte mich wie das Gros meiner Kollegen mit dem geistigen Diebstahl. Das ganze Dichten ist ja nur ein abgeschwächtes, ein perverses Verbrechertum, und die Frauen und braven Bürgersleute haben das auch allezeit instinktiv gefühlt und die Dichter dementsprechend behandelt.

Ich persönlich bin ganz durch Zufall zu der Erkenntnis meiner verbrecherischen Anlage gekommen. Dichterisch hatte ich mich ja schon als Jüngling durch Abschreiben und Umarbeiten Heinescher Verse betätigt, aber den inneren Zusammenhang verstand ich damals noch nicht. Auch die Prophezeiung einer Zigeunerin, ich würde ganz bestimmt am Galgen sterben, schreckte mich aus meiner jugendlichen Harmlosigkeit noch nicht auf. Erst als ich zufällig ein kleines Bändchen über Graphologie las, und die Grundzüge dieser Wissenschaft auf meine Handschrift anwandte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Ich weiß es noch gut, ich war damals zwanzig Jahre alt und sehr glücklich, denn das holdschönste Mädchen von der Welt war meine Braut, und ich betete sie an. Aber der Teufel ritt mich, daß ich eines Morgens, als ich zufällig in einer Buchhandlung war, den Verkäufer fragte, ob er mir wohl das Buch ›Anleitung zur Beurteilung einer Handschrift‹ empfehlen könnte, das da grade im Schaufenster lag. Es ist natürlich komisch, einen Verkäufer nach der Güte seiner Waren zu fragen, er würde ja sofort entlassen werden, wenn er sie nicht in den Himmel erhöbe, und auch dieser junge Mann pries das Buch als das beste, was in den letzten zehn Jahren im Buchhandel erschienen sei. Er stellte es weit über Göte und Sherlock Holmes und sagte, erst seit er diese Schrift gelesen habe, sei er ein wahrhaft glücklicher und zufriedener Mensch geworden. Ja, als ich noch schwankte, fügte er hinzu, ich würde noch nach Jahren zu ihm zurückkommen und ihn segnen, worauf ich das Buch erstand und selig damit nach Hause ging. Heute bin ich überzeugt, daß er jedes Rechenheft, welches er verkauft, genau in derselben Weise empfiehlt.

Zuerst las ich also die Einleitung, die mir anriet, die Handschrift einer guten Bekannten zu nehmen und danach zu lernen. Natürlich brauchte ich nicht lange zu wählen. Wen kannte ich wohl besser als meine Braut, meine angebetete Elisabeth? Zwar hatte sie bisher in ihrer Bescheidenheit meine, wie sie meinte, übertriebenen Lobsprüche abgewehrt, jetzt aber wollte ich ihr einmal streng wissenschaftlich, graphologisch nachweisen, daß ich keineswegs geschmeichelt hatte. Nur eine Besorgnis überkam mich in meiner jugendlichen Naivität. Ich zweifelte nämlich, ob überhaupt die deutsche Sprache Worte enthielte, die den Tugenden und Vorzügen meiner himmlischen Geliebten einigermaßen gerecht werden konnten.

Natürlich waren alle Kennzeichen edler Charaktereigenschaften bei ihrer Handschrift im Überfluß vorhanden, ja ich geriet direkt in Erstaunen über die Vielseitigkeit meiner Elisabeth, über die Kompliziertheit ihres Wesens. Bisher hatte ich grade ihre schlichte Einfachheit bewundert, welche alle Gespräche, die über Kleidermoden, Klavierspielen, Tennis und Gartenlauberomane hinausgingen, fest und bestimmt ablehnte. Nicht daß ich dabei an ihrer tiefen Bildung, an ihrem universalen Genie, an ihrer überragenden Urteilsklarheit irgendwie gezweifelt hatte, aber ich wußte doch nicht, was sich jetzt aus ihrer Handschrift klar ergab, daß in ihr auch das Talent zu einer Nordpolfahrerin, zu einer Volksrednerin, zu einer großen Dichterin steckte. Nichts hatte mir bisher verraten, daß sie einmal ein weiblicher Napoleon, der Stolz der nationalökonomischen Wissenschaft, eine Weltringkämpferin und eine todesmutige Missionarin sein würde.

Ich beschloß, ihr sofort mein Wort zurückzugeben. Wenn auch dabei mein Herz brach, einem solchen Genie durfte ich nicht im Wege stehen. Nur aus der Ferne wollte ich den strahlenden Flug ihres Genies bewundern, um später mit Stolz zu erzählen, daß die Unsterbliche sich einst mit mir über Nataly von Eschstruths Romane unterhalten hatte.

Als gewissenhafter Mensch warf ich natürlich noch schnell auch einen Blick auf die Abteilung der bösen Eigenschaften, obgleich ich das eigentlich bei Elisabeth für unnötig hielt. Ich glaube, das erste, was ich mir ansah, war Mordlust, und ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich unwiderleglich entdeckte, daß Mordlust Elisabeth Lieblingseigenschaft war. Sie schien direkt darin zu schwelgen, und es kam ihr gar nicht drauf an, ob sie mit Gift, Dolch oder Dynamit wütete. Es war ein furchtbares Erwachen für mich, ein tiefes Entsetzen lähmte meine Seele. So erwacht der Ritter, der am Busen einer Waldnixe eingeschlummert ist, und sieht mit Grausen, daß ihn ein giftiger Drache umfangen hält.

Ja, es ließ sich nicht leugnen. Je weiter ich in diesem ausgezeichneten Buche vordrang, desto tiefer enthüllte sich auch die ganze Verworfenheit meiner bisher so angebeteten Elisabeth. Unter der Maske eines Engels verbarg sich ein teuflisches Wesen, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. War es möglich, daß eine solche erbarmungslose Grausamkeit, eine solche wilde Mordgier hinter diesen unschuldigen Zügen schlummerte? Aber das Buch log nicht. Es war ein streng wissenschaftliches Werk, von dem größten deutschen Graphologen geschrieben, und bewies klar und deutlich, daß sie mit Vorliebe arme Waisenkinder ums Leben brachte und verlassene Witwen in einem von Ratten bewohnten Keller verhungern ließ.

Doch wozu endlose Greuel aufdecken? Meine Liebe war vernichtet, mein Herz gebrochen und es erschien mir noch als ein Trost, daß Elisabeth mich wohl auch bald umbringen werde. Ja, ich wunderte mich, warum sie es nicht schon längst getan hatte. Ich beschloß, ihr einen Brief zu schreiben, den sie nach meinem Tode lesen sollte. Einen idealen Menschen wollte ich schildern, nämlich mich selber. Vielleicht war ihr das eine Mahnung, daß es doch etwas Höheres gäbe, als das Hinmorden von Witwen und Waisen. So studierte ich also auch meine Handschrift.

Lieber Leser, ich habe dieses Kapitel nur geschrieben, um dich vor mir zu warnen. Solltest du mir jemals im Leben begegnen, so fliehe so schnell, wie dich die Automobildroschke davon tragen kann. Es ist das beste, was du tun kannst.

Ja, dieses wunderbare und doch so schreckliche Buch, es hat mir die Augen geöffnet. Erst seit ich danach meine Handschrift untersucht habe, weiß ich, was ich für eine Verbrechernatur bin. Meine Elisabeth ist ja nur ein unschuldiges Lamm gegen mich. Mein ganzes Leben, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, liegt jetzt klar vor mir. Schon als Knabe ging ich mit Mordplänen schwanger. Was ich später noch tue, will ich lieber gar nicht sagen, aber eins steht fest, meine Verbrechen und Greueltaten werden bis zum Ende der Welt den Dichtern Stoff zu furchtbaren Tragödien geben, und keine irdische Gerechtigkeit kann mich an der Verübung meiner Schandtaten hindern, denn mich schützen die Erkenntnisse der modernen medizinischen Wissenschaft, die ja meine Unzurechnungsfähigkeit nachgewiesen hat.

Und noch eins, verehrter Leser – laß dich niemals von einem Buchhändler beschwätzen, dir ein graphologisches Werk zu kaufen. Gehe dieser Wissenschaft im weiten Bogen aus dem Wege. Niemand weiß, ob du nicht auch deine Veranlagungen hast und es ist bester, du lebst in seliger Blindheit weiter als braver Staatsbürger und Mitglied des Gesangvereins ›Deutsche Kehle‹.

Friedlich wanderte ich also heute über die Landstraße und war sicher, daß man mich in Halberstadt in gutem Andenken behielt. Wie schön war diese weite Ebene. Kein wilder Berg, kein wüster Wald versperrte die Aussicht. Ich brauchte nicht mehr auf verfallene Türme hinaufzuklettern, weil das im Führer stand, und kein betrunkener Kastellan erzählte mir mehr rührselige Geschichten vom Grafen Kuno, dem Brudermörder, der so genannt wurde, weil er auf der Jagd aus Versehen einen Auerochsen erschossen hatte. Auch Hugo der Listige wurde er genannt, lucus a non lucendo, wegen seiner selbst für diese Familie auffallenden Harmlosigkeit. Ja, und in keiner Wirtschaft wurde mehr der Phonograph losgelassen, wenn man den Wanderer von Ferne erblickte, und die Kellnerin stellte man nicht mehr schön und verführerisch an die Haustüre, um den Fremdling einzufangen. Nein diese Leute zwischen dem Harz und Magdeburg schienen in paradiesischer Unbefangenheit ihren Sauerkohl zu bauen und keine Ahnung zu haben, was eine Fremdenindustrie für ein Geld einbringt. In den Wirtschaften am Wege verkehrten Fuhrleute und Bauern, und die Gendarmen sahen mich mißtrauisch an und hielten mich für einen verkleideten Handwerksburschen. Aber es wandert sich gut auf solchen ebenen Landstraßen und als ich in Wanzleben zu Mittag aß und mich etwas ausruhte, da hatte ich schon den größten Teil des Weges hinter mir.

Der Wirt fragte mich, welches Geschäft ich in Magdeburg hätte, und konnte es nicht begreifen, daß ich nur zum Vergnügen dorthin pilgerte. Noch nie sei jemand zum Vergnügen nach Magdeburg gereist, und ich sollte es dort nur ja niemand erzählen, sonst würde mich die Polizei als einen höchst verdächtigen Menschen festnehmen.

Ich dankte dem Wirte für seinen guten Rat, denn er kannte jedenfalls die Verhältnisse in Magdeburg sehr genau, und ich versprach ihm, jedem Polizeibeamten, der mich dort nach dem Zweck meiner Reise fragen würde, vorzureden, ich sei Leichenbitter und wollte in dieser Stadt physiognomische Studien machen. Aber der Wirt meinte: nur keine Fremdwörter! die seien in Magdeburg erst recht verdächtig und überhaupt verboten, woraus ich schloß, daß ich mich einem ganz gefährlichen Ort näherte, und unwillkürlich nach der Brusttasche griff, in der ich meinen Totenschein bewahrte.

Ehe ich aufbrach, fragte ich noch den Wirt, ob es denn gar keine Merkwürdigkeiten in Wanzleben gäbe, nicht weil ich sie besichtigen wollte, davon hatte ich auf meiner Reise genug gehabt, sondern nur um etwas mehr Stoff für dieses Kapitel herauszuschlagen, denn ein Reiseschriftsteller muß heutzutage dem Publikum etwas bieten. Er schüttelte nur seinen Kopf.

»Na, Sie werden doch alte, abgelegte Burgen hier im Ort haben, oder ein paar Geister, die des Nachts herumspuken?«

»Nein, Geister haben wir nicht, aber Maikäfer – Maikäfer hatten wir dieses Jahr – tausende! Die Tiere haben uns bald aufgefressen!«

Und er begann eine große Rede über die Maikäfer zu halten. Er erinnerte mich an meinen Freund, den Gastwirt Büns in Krefeld. Nie war der aus seiner Vaterstadt herausgekommen, bis er eines Sommers eine achttägige Reise den Rhein herauf machte. Als wir ihn dann fragten, wie ihm die Weinberge gefallen hätten, da zuckte er nur verächtlich die Achseln, denn er war kein Freund von vielen Worten. Aber dann fiel ihm plötzlich etwas ein und seine Augen leuchteten. »Schnecken waren da – tausende!« Und noch heute erzählt er begeistert von den Weinbergsschnecken. »Schnecken – tausende!« Ja, die Menschen sind verschieden in dem, was ihnen an einer Gegend gefällt, und so wollen wir auch Wanzleben loben, weil es da zwar keine Geister, aber so viele Maikäfer gab – tausende!

So verließ ich diese schöne Stadt und hielt zwei Stunden später meinen Einzug in Magdeburg, in der linken Hand als Waffe meinen Totenschein, und ich machte ein so finsteres und beschäftigtes Gesicht, daß mir jeder Bürger und Schutzmann wohlgefällig nachsah. Nur ein höherer Kriminalbeamte redete mich an, aber sehr ehrfurchtsvoll, und fragte mich, ob ich nicht der berühmte Scharfrichter Krauts sei, der zwei Tage später die beiden Raubmörder hinrichten sollte.

»Wie haben Sie das gemerkt?« fragte ich lächelnd.

»O, so was sehe ich auf den ersten Blick!« antwortete er stolz, worauf wir uns händeschüttelnd verließen.

Im Gasthof zum kalten Frosch aber, in dem ich einkehrte, schrieb ich mich wirklich als Scharfrichter Krauts ins Fremdenbuch, denn ich wollte den hohen Kriminalbeamten nicht gerne blamieren. Ich genoß darauf auch die ungeteilte Hochachtung des Wirts und der andern Hotelgäste.


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