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Fünfzehnter Tag.

Janosch im Bauche des Wallfisches. Der praktische Schneidermeister. Die fidele Schweizerlandschaft im Ilsetal, und wie ich mich als tyroler Negerhäuptling in Husarenuniform photographieren ließ, nebst einer Fahrt im Äroplan über den Brocken. Das Wetter auf diesem Berge, und warum alles auf der Welt nur Schwindel ist. Das schwarz-gelbe Fürstentum.

 

Die ganze Nacht durch träumte ich, ich befände mich im Bauche eines Wallfisches, desselben Wallfisches, der seinerzeit, um sich auf diese billige Weise unsterblich zu machen, den Propheten Janosch verschlungen hat. Ich traf natürlich Janosch noch vor. Er war nicht ausgespuckt worden, wie die Sage behauptet, sondern er hatte in dem Bauche des Wallfisches, müßig und tatkräftig wie ein Major a. D., einen Irrgarten angelegt, der eine verdammte Ähnlichkeit mit dem Harzburger Promenadenweg besaß. Aber ich mußte hindurchkriechen, und Janosch saß irgendwo mit einem Fernrohr bewaffnet und beobachtete mich, bis mich die Morgensonne weckte und mir zeigte, daß ich noch gesund und munter in Ilsenburg war.

Aber so geht es mir immer! Fragen Sie einen ixbeliebigen Menschen, der in Ilsenburg geschlafen hat, ob ihm nicht im Traume die liebliche Prinzessin Ilse erschienen ist und ihn über Felsen und Abgründe auf ihr Zauberschloß entführt hat. Dieser Traum gehört in Ilsenburg zum Hotelprogramm, man bekommt ihn sogar des Morgens mit auf die Rechnung gesetzt. Ich natürlich, statt die Gunst dieser schönen Dame zu genießen, ich mußte mich während der Nacht mit einem alten, jüdischen Propheten herumschlagen und kam dadurch wieder einmal um eine effektvolle Stelle in meiner Reisebeschreibung. Grade in der poetischen Ausmalung von Träumen liegt nämlich meine Hauptstärke, aber wen in aller Welt interessieren die näheren Einzelheiten aus dem Bauche eines Wallfisches?

Der Weg auf den Brocken hinauf führt über den Ilsenstein, einen äußerst steilen Felsen, auf dessen Spitze Herr Schneidermeister Molle aus Ilsenburg, ein edler Philanthrop und wahrer Menschenfreund, einen raffiniert umgitterten Weg angelegt hat, der auch den stärksten Anzug unfehlbar zerreißt. Aber das schadet weiter nichts, denn ganz oben, wo das große eiserne Kreuz steht, gibt es eine nicht zu umgehende schlüpfrige Stelle, von der jeder Tourist und jede Touristin abstürzt. Natürlich fällt man nicht ganz bis unten ins Tal, denn das würde die Polizei als groben Unfug ansehen und natürlich verbieten, sondern nur bis in die dicht darunter angelegte Hexenküche, wo bereits Herr Schneidermeister Molle oder sein Vertreter steht und schnell und gründlich neue Kleider anmißt. Soweit ich die Sache verfolgt habe, geht das Geschäft sehr gut.

Auch sonst wird im Ilsetal dafür gesorgt, daß der Reisende später in seiner Heimat, wenn er wieder abends am gewohnten Stammtisch sitzt, etwas von seiner beschwerlichen Tour erzählen kann. Dem Ilsenburger Verkehrsverein hat bei der ganzen Anlage des Ilsetals offenbar die Schweiz vorgeschwebt, und man muß jedenfalls den erreichten Effekt einfach als feenhaft bezeichnen. Niedliche Schweizerhäuschen mit aufgepflanzten Storchnestern (die Störche sind zwar von Holz, aber wie lebend!) verschönern die Landschaft, und über den Türen findet man einladende Sprüche wie: »Auf der Alm da gibt's ka Sünd.« Sennerinnen in original tyroler Plattfüßerlkostümen erquicken den Wanderer mit Halberstädter Würstchen und Nordhäuser Kornbranntwein. Sie erzählen die neuesten Witze von der Berliner Hasenheide, einige aber sprechen sogar einen echten Münchener Dialekt. Hirtenknaben mit Harmonikas weiden über schauerlichen Abgründen ihre Rinderherden und jodeln, daß das Echo schallt. Überall hört man das Kuhglockengeläute, und eigens dazu engagierte Gesangvereine singen mit Gefühl: »Wer hat dich, du schöner Wald?« Alles ist glücklich. Brautpaare umarmen sich beim Schein des künstlichen Alpenglühens, Berliner Sonntagsjäger versuchen vergeblich, einen ausgestopften Gemsbock von einem steilen Felsgrat herabzuschießen, auf dem er festgeschraubt ist, und überall auf den blumigen Almwiesen tanzt man bei fröhlichen Zitherklängen feurige Rixdorfer Walzer.

Aber das schönste an der ganzen Ilsetaler Schweizerlandschaft, das war wohl ich selber, wie ich hier photographiert wurde. Welch eine wunderbare Kunst ist doch das Photographieren! Zu allen Zeiten haben weise Männer diese Kunst als die größte Erfindung der Neuzeit gepriesen. Wenn man sich verärgert und niedergeschlagen fühlt, weil es den andern gut geht und uns schlecht, dann eilen wir zum Photographen, der uns lehrt, die Brust herauszurecken und ein würdiges, überlegenes und zufriedenes Gesicht zu machen. Wenn der Photograph nicht grade ein Pfuscher ist, dann zaubert er ein Bild vor uns auf die Platte so jung, hübsch, geistvoll und bedeutend, wie wir es selbst im Traum nicht für möglich gehalten haben, und wir gehen mit neuem Mut an unser Bau- oder Schusterhandwerk, oder was wir sonst für einen Schwindel im Leben betreiben. Nur auf der Photographie erkennen wir den wahren Wert des Menschen. Wer mich zum Beispiel sonst im Leben sieht, der schimpft auf die Regierung, weil sie nicht genug Anstalten baut, um solche bedauernswerte Schwachsinnige vor den Tücken der arglistigen Welt zu bewahren. Bekommt er aber mein Bild in die Hände mit dem ausgestopften prall sitzenden Gehrock, der weißen mit dicker goldner Uhrkette geschmückten Weste, dem Gesicht mit dem hochgeschwungenen Schnurrbart, dem würdigklugen und doch so freundlichen Blick, dem gebrannten und wohlgescheitelten Haupthaar, dann hält er mich sofort für eine Koryphäe deutscher Wissenschaft. Er schreibt mir, wenn er grade Kultusminister ist, ob ich nicht eine Professur an der Berliner Universität annehmen will, er bittet mich um Rat und Hilfe in schwierigen politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Angelegenheiten, und ich kann ihm den größten Unsinn von der Welt vorfaseln, er nimmt alles dankbar und bewundernd an. Kein Wunder wenn man die Bedeutung eines Menschen danach bemißt, wie oft er schon photographiert worden ist, wenn ein moderner Philosophenkongreß statt über dunkle Fragen zu debattieren, sich zunächst einmal an einer Galatafel und natürlich im Frack photographieren läßt, wenn schließlich auch ich die Bedeutung dieser Sache erkannt habe und demnächst ein Buch schreiben werde: »Wie lasse ich mich photographieren?«, ein Buch, in welchem ich hundert verschiedene Stellungen und Situationen angebe, in denen man sich effektvoll aufnehmen lassen kann.

Natürlich fehlte auch hier im lieblichen Ilsetal eine Photographiebude nicht. Zuerst dachte ich, es wäre ein schnöder Raubanfall, als mich zwei Menschen beim Kragen ergriffen, in ihr Zelt schleppten und mir die Kleider auszogen. Dann aber fragten sie mich, ob ich als Tyroler, als Husarenleutnant, als Luftschiffer oder als Negerhäuptling auf die Platte gebannt werden wollte. Ich bat mir eine Kombination von diesen vier Normaltypen der Menschheit aus, worauf sie mir einen roten Attila, Lederhosen und Nagelschuhe anzogen. Mein Gesicht färbten sie schwarz und auf den Kopf stülpten sie mir eine mit Häuptlingsfedern geschmückte kaiserliche Automobilklubmütze. Ich sah überhaupt großartig aus mit der Brust voll Pourlemeritterorden und dem schweren Ring durch die Nase. In der rechten Hand zückte ich einen Kavalleriesäbel, die linke schwang drohend die gewaltige Keule, während ich mit der andern Hand das Steuerruder meines Äroplans gefaßt hielt und unter dem Jubel einer tausendköpfigen Menschenmenge hoch über den Brocken dahinflog.

Natürlich flog ich nicht in Wirklichkeit und es gab auch keine Menschenmenge in der Photographiebude, sondern es war nur alles durch Dekorationen und Hintergründe so dargestellt, daß man mich nachher auf dem Bilde wirklich über den Brockengipfel und die hüteschwingenden Menschen fliegen zu sehen glaubte. Ich war stolz auf mein imponierendes Aussehen, und auch der Besitzer sagte, es sei die beste Aufnahme, die er in den letzten Jahren gemacht hätte. Ich habe mir deshalb diese wirklich schöne Photographie vervielfältigen lassen und gebe sie gerne an Interessenten das Stück für eine Mark ab. Ich bin überzeugt, wer eine solche Photographie erwirbt und sie geschmackvoll in Jugendstileinrahmung in seine gute Stube hängt, der erspart dadurch einen teuren Wandschmuck und wird an dem Bild jahrelang seine Freude haben.

Ungern trennte ich mich von den Häuptlingsinsignien und der Tyroler Husarenoffiziersuniform, ja ich bat den Budenbesitzer, mir doch wenigstens zu gestatten, als Andenken auch fernerhin den Ring in der Nase zu tragen. Der Ring, meinte ich, passe so gut zu meiner Individualität, zu meiner Physiognomie, zu meiner Psyche. Aber der Photograph, der sich bei jedem Fremdwort, das ich gebrauchte, voller Achtung verneigte, bedauerte, daß er das unmöglich tun könnte. Ohne Ring gäbe es keine Negeraufnahme, und Negeraufnahmen seien jetzt augenblicklich das Modernste und Beliebteste. Der Mann hatte leider recht, denn als ich fortging, ließ sich grade ein junges Ehepaar photographieren, er als Negerhäuptling mit Ring und Keule, sie als Husarin mit geschwungenem Säbel.

Mit meiner Photographie in der Brusttasche wanderte ich rüstig den Brocken hinauf und ließ bald den lieblichen Zauber des Ilsetals hinter mir. Ach, ich werde dich nie vergessen, du wilden, schäumenden Bach, mit deiner tiefen traumhaften Schönheit, mit deinen Klüften und Heimlichkeiten, die schon von Natur so bezaubernd sind, aus der aber erst die Kunst des Verkehrsvereins ein wirkliches Paradies gemacht hat.

Mühsam stieg ich immer weiter auf steilen, steinigen Pfaden hinauf und hörte noch aus der Ferne das Holdrioduljöh der Sennerinnen und das Fortissimo des Gesangvereins: »Du schö–iner Wald!« Aber, um das nicht zu vergessen, warum gibt es so was nur im Ilsetal? Warum legt man solche mustergültigen Einrichtungen nicht auch in den andern deutschen Gauen an? Und wenn es auch wirklich etwas Geld kostet, in unseren großen Städten, wo Tausende nach Schönheit dürsten, eine solche Tyroler Schweiz anzulegen – darf man da überhaupt noch kleinlich sein und nach dem Kostenpunkt fragen, wenn es gilt die Lebensfreude, die Freude am deutschen Vaterland im deutschen Volke zu heben? Videant morituri!

Der Brocken hat wie viele andere Berge die Gewohnheit, daß es hinauf viel schwerer und langsamer geht als hinunter. Wahrscheinlich hängt das mit der Anziehungskraft der Erde zusammen oder mit magnetischen Strömungen, die Wissenschaft ist sich über die Ursache dieser merkwürdigen Erscheinung noch nicht klar geworden. Kurz vor dem Gipfel kam ich an den Schneelöchern vorbei und bestaunte die Entwicklung der modernen Technik, die jetzt im Sommer hier in freier Luft ohne jeden Apparat Eisdecken auf den kleinen Wassertümpeln anbringt.

Ich benutzte die Gelegenheit, einem Herrn, den ich dort traf, zu erzählen, das sei noch gar nichts. Es würden demnächst Schneehasen, Eisbären und Wallrosse hier angesiedelt, und der ganze Brocken mit Eisblumen bepflanzt, die man sonst nur kümmerlich an Fenstern sieht. Ja, die Regierung habe sich mit den Grönländern geeinigt, den ganzen Nordpol auf den Brocken zu verpflanzen, wo er für Nordpolfahrer bedeutend leichter zu erreichen sei. Der Mann sah mich bei meiner Erzählung sehr merkwürdig an, und als ich ihn fragte, ob er schon gleich um den nächsten Felsblock das Denkmal Otto des Erfrorenen gesehen, verließ er mich mit einem kurzen ängstlichen Gruß und einer fast unhöflichen Hast. Irgend etwas an meinem Gesicht muß ihm nicht gefallen haben.

Kaum hatte ich diesen Mann verscheucht, da überfiel mich schon ein neues Unglück, nämlich ein ganz unangenehmer, eiskalter Regen, der mich aus einem fidelen, etwas übermütigen Menschen in ein bedauernswertes Wrack verwandelte. Ich ärgerte mich über den Regen, hauptsächlich weil er mir die vielgepriesene Brockenaussicht, bekanntlich die ausgedehnteste von ganz Deutschland, verdarb. Ich wußte nämlich noch nicht, daß es auf dem Brocken nur theoretisch eine Aussicht gibt, deren Umfang durch subtile Berechnung eines bekannten Astronomen festgestellt worden ist. In der Praxis gibt es aber nur zwei Möglichkeiten. Entweder regnet es, dann sieht man ungefähr fünf Schritte weit, oder wir erfreuen uns des schönsten Sonnenscheins, dann herrscht ein solcher Nebel auf dem Brocken, daß wir uns von der Realität einer Außenwelt nur durch das Tastgefühl überzeugen können.

Ich hatte also Glück, es regnete nur, und ich konnte fünf Schritte weit sehen, so daß ich sogar das Brockenhaus und nach längerem (dreiviertelstündlichem) Suchen auch die äußerst versteckte, kleine Eingangstüre fand. Andern Leuten geht es übrigens für gewöhnlich nicht so gut, ganze Prozessionen wandern stundenlang um das große Brockenhaus herum, immer an dem kleinen Pförtchen vorbei, das man wohl zum Schutz gegen einen Angriff aus Feindeslande so raffiniert verborgen angebracht hat, bis endlich ein mitleidiger Kellner, nachdem er sich lange genug darüber amüsiert hat, die ganze Gesellschaft hereinholt.

Als ich triefend naß im Brockenhause ankam, schleppte mich ein Hausknecht an einen ungeheuren eisernen Ofen, der eine höllische Hitze ausstrahlte, und hing mich dort an einem eigens dazu konstruierten Gestell zum Trocknen auf, während eine Scheuerfrau hinter mir her ging und die Wasserlachen aufnahm, die ich auf meinem Wege zu dem Ofen zurückließ. Neben mir hing eine äußerst korpulente Dame, und sie sah aus, als wollte sie zum Himmel emporfahren, aber es war nur eine Wolke von Wasserdampf, der aus ihren Kleidern aufstieg. Mir ging es genau so und in fünf Minuten war ich so trocken wie ein Stockfisch, worauf mir der Kellner einen Hexenbesen einschüttete, einen merkwürdigen stark gepfefferten Schnaps, den bekanntlich Götes Faust erfunden hat, als er hier im Auftrage des Dichters an einem Hexenkongreß teilnahm.

Das Gespräch an dem Tisch, an dem ich saß, drehte sich überhaupt nur um diese Sagen, und die Leute waren erstaunt, weil ich mir den Teufelsaltar, die Hexenkanzel und ähnliche in der Nähe angebrachte Scherze nicht ansehen wollte.

»Sie haben übrigens Glück!« sagte ein Herr in Lodenkostüm und Vollbart. »Sie können heute die Walpurgisnacht mitmachen. Jeden Freitag veranstalten wir bei Fackelbeleuchtung dieses urgermanische Fest, und die Brockenverwaltung liefert für die Damen und Herren die passenden Kostüme, Besen und Mistgabeln. Bestellen Sie sich nur gleich ein Zimmer, denn nach Mittag ist schon alles überfüllt.«

»Was, bei dem naßkalten Wetter?«

Der Herr im Lodenkostüm sah mich verächtlich durch seine Brille an. »Ein Germane friert nicht,« behauptete er stolz und wischte sich seine triefende Nase. »Und im übrigen einen Schnupfen haben Sie doch schon weg. Den holt sich hier ein jeder, das gehört einmal zu einer Brockenbesteigung. Aber dafür können Sie später ihren Kindern und Kindeskindern von altgermanischer Sitte erzählen.«

Auch die andern Herrschaften am Tisch, besonders die dicke Dame, die neben mir am Trockengerüst gehangen hatte, warfen mir unwirsche Blicke zu, ein Mensch ohne Begeisterung ist nämlich immer verdächtig. Doch ich stellte mir die Gesellschaft in Hexen- und Teufelskostümen vor und warf einen Blick nach meinem Hut.

»Wenn nur der verdammte Regen nicht wäre, ich würde sogar sofort aufbrechen!« sagte ich und fügte noch schlauerweise hinzu: »Nächsten Freitag komme ich aber bestimmt wieder, heute muß ich nach Werningerode, wo wir den Kegelklub ›Hermanns Eiche'‹ gründen.«

»O, das entschuldigt Sie vollständig!« sagte der Herr. »Kegeln ist ein wackeres urdeutsches Spiel. Nie hat ein anderes Volk das Kegelspiel begriffen. Aber der Regen braucht Sie nicht zu stören, es regnet natürlich nur hier auf dem Gipfel. Wenn Sie zehn Minuten von hier fort sind, kommen Sie in den schönsten Sonnenschein.«

Und wirklich, der Mann hatte recht. Kaum war ich an der Teufelskanzel vorbei, auf der bei strömenden Regen ein Quartettverein den ›Schwur an die Jungfrau Germania‹ sang, da trat ich auch schon wie aus einem dichten Nebel in das strahlendste, blaue Frühlingswetter hinein. Die Nachtigall sang hoch in der Luft und vor mir breitete sich eine unendliche Aussicht über Berge und Täler, Wälder und Wiesen, Städte und Dörfer. Scharen von Touristen begegneten mir, aber sie hatten keine Augen für diese Schönheit. Sie strebten nur, den Gipfel des Brockens zu erreichen, und fragten mich, wie die Aussicht dort oben sei.

Natürlich habe ich den Leuten Bescheid gesagt. Ich strenge ja sonst meine Phantasie nicht unnötig an, aber diesmal gab ich mir doch Mühe und malte ein Bild aus von den Herrlichkeiten, die sie oben erwarteten, daß sie sich ordentlich in Trab setzten, so brannten sie darauf, erst auf dem Gipfel zu sein. Ich habe alle diese Leute wenigstens für den Augenblick glücklich gemacht, und ich bin überzeugt, als sie später oben im Regen standen, da war meine schwungvolle Schilderung noch der einzige Trost in all ihrem Elend. Und eines weiß ich ebenso bestimmt, sie haben es später genau so gemacht wie ich, sie haben sich heimlich geschworen, nie wieder auf den Brocken zu steigen, und öffentlich haben sie jedem, der es hören und nicht hören wollte, von dem wundervollen Sonnenaufgang gefaselt, den sie dort des Nachmittags um vier Uhr erlebt hätten. Ja, es wird einmal die Zeit kommen, wenn sie wallende weiße Bärte und eine mummelnde Stimme haben, dann werden sie mit wirklichen Rührungstränen ihren Enkelkindern davon erzählen.

Denn so geht es uns immer! Was wäre unser Leben, wenn wir nicht einer den andern und am meisten uns selber beschwindeln würden? Schönheit und Liebe und Glück – alles ist Schwindel! »Fragen Sie die Leute, die herauskommen!« so ruft der Schaubudenbesitzer auf dem Rummelplatz, denn er weiß, daß keiner seine Enttäuschung eingestehen wird. Fragen Sie die Leute, die das Leben genossen haben! Ich kenne ihre Antwort. Sie schwärmen von der guten alten Zeit, sie halten die Fahne des Idealismus hoch gegen den Ansturm einer roh gearteten Jugend. Wenn man sie hört, haben sie immer nur edle Taten vollbracht und sind innerlich dafür belohnt worden. In Wirklichkeit aber ist es ihnen bei ihrem ersten Versuch, etwas Gutes zu tun, so übel ergangen, daß sie sich in Zukunft niemals mehr um solche törichten Dinge gekümmert haben. Und sie sind auch niemals innerlich belohnt worden. Im Gegenteil, innerlich fielen sie aus einer Enttäuschung in die andere, aber ihre Parole war: Nur nichts merken lassen! Und so haben sie geschwindelt und sind alt geworden als Märtyrer der Lüge, und wenn man sie am Ende fragen würde, ob sie dies Leben noch einmal leben wollten, ihre erste aufrichtige Antwort wäre: Nicht in die la main!

Es war also ein wundervoller Marsch den Berg hinunter und nachher durch die steinerne Renne nach Werningerode. Nur etwas zu primitiv schien mir die ganze Anlage. Zu wenig Klimbim für einen ordentlichen Fremdenverkehr. Aber ich bin überzeugt, Werningerode und Nasserode lassen sich auch nicht lumpen, sie werden sich schon einen gediegenen Manager anschaffen, der die ganze Gegend in irgend einem Stil ähnlich wie das Ilsetal einrichtet. Denn heutzutage bei der scharfen Konkurrenz muß wirklich etwas geleistet werden.

In Werningerode, der Hauptstadt des Fürstentums Stolberg-Werningerode, wo ich verspätet aber um so gründlicher zu Mittag aß, gab es wirklich eine Kegelklubeinweihung oder sonst etwas wichtiges, denn die Häuser hatten geflaggt, und alles spazierte in den schwarzgelben Landesfarben herum. Nie habe ich eine so patriotische Gegend getroffen. Daß die Häuser schwarzgelb angestrichen sind, wird ja wohl auf einer Regierungsverordnung beruhen, und bei den zahlreichen schwarzgelben Salamandern die in jedem Bachwinkel herumkriechen, dürfte es sich um einen interessanten Fall von Mimicry handeln, weil anders gefärbte Tiere einfach tot getreten würden. Aber auch sonst hat sich alles diesen Farben angepaßt. Die Leute schwelgen förmlich in schwarzgelb und bei einem Bauern kam kürzlich ein schwarzgelb gefärbtes Kind zur Welt. Der glückliche Vater wurde natürlich sofort mit seiner ganzen Familie geadelt, und das Kind, ein Junge, soll jetzt auf Staatskosten erzogen werden.

Eigentlich hatte ich ja an diesem Tage genug getan, aber ich entschloß mich schließlich, noch bis Halberstadt zu marschieren, um schon den Abend darauf in Magdeburg zu sein. So nahm ich denn von dem schönen Harz Abschied und wanderte über eine langweilige Landstraße nach Derenburg zu, immer nach dem Takt des poetischen Spruches:

Es wachse die Tanne,
Es grüne das Erz,
Gott schenke uns allen
Ein fröhliches Herz!

Spät im Dunkeln kam ich müde wie eine Großmutter in dem alten Halberstadt an.


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