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Siebter Tag.

Die Geschichte von dem siebenfachen Echo und die Kleptomanie der Amerikaner. Ein moderner Teufelsbeschwörer. Was ich einem Pädagogen über die Lücken unserer Bildung sagte. Die Große Wasserkuppe.

 

Ich saß den Abend über noch zwei oder drei Stunden mit Gretchen Baumann aus Würzburg zusammen, einem hübschen, schwarzhaarigen Ding, das den Gästen Bier, Wein und Speisen herbeitrug. Sie war sehr lustig und ich versprach ihr Ansichtskarten und die Ehe, worauf sie mir doppelte Portionen servierte und jedes zweite Bier nicht anrechnete. Aber im übrigen schien sie mehr Wert auf die Ansichtskarten zu legen, als auf eine baldige Heirat. Und darin sagte ich ihr, täte sie auch ganz recht, denn das mit der Ehe könnte ich vorläufig doch nicht halten, meine Frau sei in dieser Beziehung zu eigensinnig.

Morgens beim Frühstück aber setzte sich die Wirtin zu mir an den Tisch, eine würdige, gutmütige Frau und begann mit mir ein Gespräch. Sie fragte mich, woher ich komme und wohin ich gehe. Warum ich zu Fuß ginge, und ob mein Vater Soldat gewesen sei. Sie fragte nach meinen Großeltern, und wie es dort im Dorf aussähe, nach Weib und Kind fragte sie, nach Krankheiten und Beinbrüchen. Sie zog mir die Seele aus dem Leib heraus und ich habe ihr Verbrechen eingestanden, die bis jetzt noch kein Untersuchungsrichter herausgebracht hat. Nur meinen Namen habe ich nicht angegeben und dafür den meines besten Freundes genannt. Ich vermute, daß man ihn inzwischen schon hingerichtet hat.

Eins habe ich übrigens in Fulda nicht besichtigt, die Sehenswürdigkeiten. Fulda ist ja sonst eine interessante und alte Stadt, sie wurde im Jahre 744 von dem berühmten und gelehrten Abt Rhabarbus Maurus gegründet, demselben, dem wir ja auch die Erfindung des Rhabarbers zu verdanken haben. Fulda ist ferner sehr vielseitig, da es zum Teil ein Fluß ist und sich auch außerdem als Dichter und Schriftsteller berühmt gemacht hat. Aber die sonstigen Altertümer und Sehenswürdigkeiten konnten mich nicht reizen – man weiß ja, wie das alles heutzutage künstlich hergestellt wird, da sind schon berühmtere Leute als ich drauf hereingefallen, und ich ging ihnen samt dem Dom im weiten Bogen aus dem Wege.

Ich wollte heute über die Milseburg auf die große Wasserkuppe klettern, und war schon zwei Stunden von Fulda aus nach Osten gewandert, als mir ein Wirt, bei dem ich eine kleine Stärkung einnahm, von einem siebenfachen Echo erzählte, das sich in der Nähe befand. Merkwürdig, aber in dem Augenblick konnte ich mich gar nicht darauf besinnen, was eigentlich ein Echo für ein Ding war – es passiert mir das öfters. Nur dunkel schwebte es mir vor, als ob es irgendwohin in die Naturbeschreibung gehörte, wahrscheinlich war es ein unangenehmes, bissiges Tier, und ich erinnerte mich an eine Geschichte von einem Echo, auf das man mit einer Pistole geschossen hatte. Aber dieses hier war noch dazu siebenfach.

»Es ist die größte Sehenswürdigkeit in unserer Gegend,« sagte der Wirt. »Sie können es gar nicht verfehlen, dort oben auf dem Berge liegt es.«

Ich hätte gar zu gerne erfahren, was für eine Sorte Tier nun dieses siebenfache Echo eigentlich war, aber ich wollte doch nicht direkt danach fragen, der Wirt hätte mich sonst vielleicht für einen ungebildeten Menschen gehalten. »Hoffentlich gibt es dort oben ein Wirtshaus?« erkundigte ich mich deshalb vorsichtig.

»Natürlich, es gehört sogar meinem Schwiegersohn. Alle Touristen, die bei mir einkehren schicke ich dort hinauf.«

Diese Auskunft beruhigte mich wesentlich. Wenn das Echo zur Familie gehörte, war es wahrscheinlich auch gar nicht so gefährlich.

»Nur noch eins –« fragte ich vor dem Aufbruch. »Haben Sie eine Photographie davon?«

»Von meinem Schwiegersohn?«

»Ach was, natürlich von dem siebenfachen Echo.«

Er sah mich einen Augenblick, ich möchte sagen, etwas erstaunt an, dann aber lachte er. »Famos! Feiner Witz. Ich merke schon, Sie sind gar nicht so dumm, wie Sie aus –« Er unterbrach sich mit einem erneuten Lachen.

Dieser Wirt machte mich nervös. Was hatte er nun eigentlich zu lachen? Das war doch das wenigste, was man von einer Sehenswürdigkeit verlangen konnte, eine Ansichtskarte mit einer Photographie drauf. Aber es ist unglaublich, wie weit manche Wirte noch in der Kultur zurück sind. Überhaupt nahm ich mir jetzt schon vor, diesem ganzen siebenfachen Echo mit Verachtung zu begegnen, und ich steckte mir sogar einen ziemlich schweren Stein in die Tasche, um ihn dem Tier in die Höhle zu werfen, wenn ich vorüberkam. Hoffentlich war es nicht zu wild.

Nach einer guten halben Stunde kam ich oben auf dem Berge an. Nein, darin hatte der Wirt recht gehabt, der Weg war nicht zu verfehlen. Dort links standen die drei Lindenbäume, und dahinter lag das Wirtshaus. Aber meinen Sie, von dem siebenfachen Echo wäre auch nur eine Spur zu sehen gewesen?

Die ganze Gegend hatte ich mit meinem Fernrohr abgesucht, sogar ein ganz junges, soeben aus dem Ei gekrochenes Echo wäre meinem Scharfblick nicht entgangen. Aber ich konnte nicht einmal Fußstapfen auf dem Grasboden entdecken, und Höhlen gab es auf dem ganzen Berge keine. Schließlich tröstete ich mich damit, dieses Echo bestand wohl wie ein Rattenkönig aus sieben einzelnen Echos, die mit den Schwänzen zusammengewachsen waren. Da konnte es überhaupt nicht herumlaufen, und der Wirt hatte ihm einen Stall gebaut, in dem es jetzt schlief.

Es schlief nicht, das sollte ich nur zu bald erfahren. Ein großer Hund kam auf das Plateau gestürmt und bellte mich freundlich an. In einiger Entfernung folgte ihm sein Herr, der wohl auch wie ich ein Tourist war. Nun war ich niemals in meinem Leben durch eine so hundearme Gegend gekommen wie diese. Ich bin ja früher selber Hundefänger gewesen und interessiere mich als Kenner für diese Tiere. Darum freute ich mich auch jetzt doppelt über den reizenden Rehpinscher oder Bernhardiner, was er nun war, und ich hätte geschworen, daß er das einzige Tier seiner Art gewesen wäre, fünfhundert Kubikmeter im Umkreise.

Aber auch das war wie so manches in dieser merkwürdigen Gegend ein Irrtum. Kaum hatte der Hund gebellt, da antworteten ihm mindestens sieben, die irgendwo in der Umgegend im Gebüsch verborgen waren. Er bellte noch einmal, und es wurden doppelt so viel. Eine Minute später bellten hundert Hunde. Noch eine Minute, und es waren tausend geworden. Und dabei sah man kein einziges Tier, sie hielten sich alle versteckt.

Niemand kann den Aufruhr beschreiben, der mit einem Male diese vorher so idyllisch stille Gegend durchtobte. Der Hund gebärdete sich wie verrückt, und der fremde Tourist und ich wurden schließlich auch angesteckt und schrieen mit in den Lärm hinein. Hierbei machten wir die unheimliche Entdeckung, daß die ganze Umgegend voller Wilden steckten – Europäer waren das sicher nicht – die uns an Stimmaterial bedeutend überlegen waren. Durch Mark und Bein gellte das Kriegsgeheul dieser fanatischen Indianer.

Alles das hatte keine fünf Minuten gedauert, da sprang der Wirt herbei, packte den Hund mit sicherem Griff am Kragen und trug ihn in den Vorgarten der Wirtschaft. Instinktiv eilten wir ihm in schleuniger Flucht nach, verfolgt von dem Gebrüll der siegreichen Wilden.

Kaum hatten wir aber den Garten erreicht, da war mit einem Zauberschlag der ganze Spuk verschwunden. Kein Hundegebell, kein Indianergeheul mehr – tiefer Friede lag weit und breit über der Landschaft. Die Nachtigall sang in den Bäumen, die liebliche Wirtin stand in einer sauberen, weißen Schürze da und knixte, und der Wirt fragte uns lächelnd, was wir trinken wollten.

Wir hatten es wirklich nötig, wir waren erschöpft, und es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns von dem Überfall der Wilden und dem Heulen ihrer Kriegshunde erholt hatten. Dann aber erzählte uns der Wirt mit melancholischer Stimme von seinem Echo.

»Ein Echo ist etwas Schönes – etwas sehr Schönes. Auch ein siebenfaches Echo hat seine angenehmen Seiten. Aber es muß in einer anderen Gegend liegen, wo die Leute an den Lärm etwas mehr gewöhnt sind, zum Beispiel in einer großen Stadt. Sehen Sie, meine Herren, ich bin eine einfache, stille Natur, ich liebe den Frieden und die Landwirtschaft. Nun hat mir mein Schwiegervater, als ich heiratete, dieses Echo geschenkt, und er glaubte damit mein Glück zu machen. Aber das Echo hat mein Leben zerstört und meine Haare gebleicht. Sehen Sie nur meine zitternden Hände.«

Der Wirt hatte während seiner Rede fünf Kognaks getrunken und schüttete sich seufzend den sechsten ein, während wir, von Mitleid erfüllt, ihm zusahen.

»Draußen die Hühner –« fuhr der Unglückliche fort, »stumm und traurig schleichen sie umher, von melancholischen Gedanken erfüllt. Keins von ihnen wagt ein Ei zu legen. Sie fürchten, daß das dazu gehörige Gegacker, durch das Echo verstärkt, mir die Fensterscheiben zertrümmern werde. Und dann fühlen sie sich so verlassen, weil sie keinen Hahn haben. Aber, du lieber Himmel, ich kann doch keinen halten! Einmal habe ich es versucht, im Anfang, als ich hier oben einzog. Es war ein prachtvolles, stolzes Tier, echt andalusische Rasse, dem man es ansah, daß er sich so leicht durch kein Echo unterkriegen ließ.

Ich weiß es noch so gut, als ob es heute gewesen sei. Es war ein wunderschöner Vormittag, und dort auf dem Plateau stand der Hahn, während tausend andere ihm antworteten. Gegen Mittag setzte ich einen einstündigen Waffenstillstand durch. Es war notwendig, denn auch das Echo war fast erschöpft, und wenn mir persönlich auch nichts daran lag, ich durfte meinem Schwiegervater das Leid nicht antun, daß das Echo Schaden an seiner Kehle erlitt. Mein Hahn ließ sich von seiner Familie massieren, und am Nachmittag ging der Kampf von neuem los. Lange Zeit wogte er unentschieden hin und her, während ich die Dachziegel auflas, die durch die Lufterschütterung herunterfielen. Gegen fünf Uhr tat der Hahn noch einen letzten furchtbaren Schrei, der vom Echo siebenfach zurückgeworfen wurde. Dann fiel er tot zu Boden, während ihn die Hühner weinend umstanden. Seit der Zeit habe ich keinen Versuch mehr mit einem Hahn gemacht. Und Hunde – ich müßte sie schon hier im Garten, wo das Echo keine Macht hat, festlegen. Aber das erträgt mein weiches Herz nicht.«

Wieder trank der Wirt einige Kognaks, ehe er weiter redete.

»Ich liebe nun einmal die Tiere, wissen Sie, und da habe ich es mit einem kleinen, schwarzweißen Kater versucht, dessen friedlichen Augen man es auf zehn Schritte ansah, daß er niemals den Ehrgeiz haben würde, mit einem Echo den Kampf aufzunehmen. Aber in der Nacht darauf erwachte ich in Schweiß gebadet aus dem Schlafe. Mir hatte geträumt, der jüngste Tag sei hereingebrochen. Aus der Tiefe der Unterwelt stiegen entsetzliche Ungeheuer empor, und in ihr Geheul mischte sich das Stöhnen und das wahnsinnige Angstgeschrei der Verdammten. Doch welches Entsetzen erfaßte mich, als ich erwacht war und merkte, daß ich nicht bloß geträumt hatte. Ohrenzerreißend gellte da draußen das Geheul der Hölle. Ich konnte es nicht länger ertragen und stürzte hinaus, um in meiner Verzweiflung in den nächsten Flammenschlund hinabzuspringen.

Wie gebannt blieb ich draußen stehen – kein bis zum Himmel loderndes Feuermeer schlug mir entgegen, kein Drache und kein Gespenst war zu sehen. Im milden Licht des Mondes, überfunkelt von unzähligen Sternen, saß friedlich unser kleiner Kater auf dem Plateau, die Augen mit schwärmerischem Entzücken zum Himmel erhoben, während ein heulender Gesang aus seiner jugendlichen Kehle hervorkam. Sie werden es mir nicht glauben, aber diese Kreatur schwamm in einem Meer von Seligkeit und träumte jedenfalls, daß tausend Katzenjungfrauen auf seinen Liebesgesang antworteten.

Mit einem gräßlichen Fluch, der als ihn das Echo zurückwarf, einen alten Eichbaum entwurzelte, stürzte ich mich auf die Bestie und zog mir beim Hinfallen eine bedeutende Verletzung zu, denn der Kater entkam leider. Eine Stunde lang jagte ich im Mondschein hinter ihm her, bis ich ihn erwischte und in den Abgrund schleuderte. Er brach, Gott sei Dank, das Genick und alle vier Beine und lebt jetzt still und friedlich unten im Dorf. Aber hier herauf wagt er sich nicht mehr.«

Der Wirt schwieg ganz erschöpft, übermannt von der furchtbaren Erinnerung. Wir suchten ihn zu trösten, und der fremde Tourist fragte ihn, ob er es nicht einmal mit einer Fischzucht probieren wollte. Fische seien ein stilles, friedliches Volk und machten sehr wenig Lärm. Der Wirt trank noch einen nachdenklichen Kognak.

»Vielleicht haben Sie recht, meine Herren. Fische werden sich wohl kaum um das Echo bekümmern. Aber glauben Sie, wenn ich hier oben einen Teich anlege, daß das Wasser nicht schließlich versiecht?«

Ich sah den Mann triumphierend an. »O, dem ist leicht abzuhelfen. Sie leiten einfach einen Bach den Berg hinauf, und dann haben Sie immer frischen Zufluß.«

Worauf mich der Wirt gerührt und dankbar in seine Arme schloß.

Ich verabschiedete mich jetzt bald und dachte noch beim Weiterwandern, wie doch die Natur so wunderbare Geschöpfe hervorbringt. Welch eine erhabene Kreatur ist solch ein Echo, wie überraschend und großartig sind seine Wirkungen. Und doch hatte ich in diesem Augenblick noch keine Ahnung, daß zwei Wochen später dem Echo etwas passieren sollte, was seinen Lebenstagen für immerdar Ziel setzte. Ich erfuhr es durch Zufall von einem Bekannten, der auch in die Gegend kam, und ich will nicht verfehlen, es hier mitzuteilen.

Natürlich war es eine amerikanische Reisegesellschaft, der das siebenfache Echo so gut gefiel, daß sich jeder von ihnen ein Stück als Andenken mitnahm, bis von der ganzen Sehenswürdigkeit auch nicht ein Fetzen mehr übrig war. Nämlich, wo wir in Deutschland an Kleptomanie leiden, da schwärmt der Amerikaner für Reiseandenken, und diese Leidenschaft ist so stark geworden, daß die europäische Kofferindustrie eine fabelhafte Entwicklung nimmt, weil all die vielen Amerikaner, die im Sommer die alte Welt überschwemmen, gar nicht wissen, wo sie die Unmengen Schmuckgegenstände, silberne Löffel, Uhren und seidene Spitzen, die sie aus Juweliergeschäften, Hotels und Warenhäusern als Andenken mitnehmen, eigentlich unterbringen sollen. Man nennt diesen Sport auch Shopping, und eine fashionable Amerikanerin hat damit den ganzen Tag über eine angenehme, interessante Beschäftigung. Sehr zu verurteilen ist übrigens, daß die amerikanische Regierung von solchen Reiseandenken Zoll erhebt und daran jährlich viele Millionen verdient. Man soll einen solchen Sport fördern und ihn nicht durch hohe Taxen belästigen.

Wenn also auch kein Mensch in Europa gegen diese reizende Sitte unserer amerikanischen Gäste etwas einzuwenden hat – in den Hotels und auf den Dampfern kommt man den Leuten sogar neuerdings insofern entgegen, daß man in jedes Zimmer, in jede Kabine gleich von vornherein ein goldenes oder silbernes Schmuckstück, ein Besteck und dergleichen als Andenken hinlegt – so muß man doch energisch dagegen protestieren, daß jetzt die Amerikaner auch unseren Naturmerkwürdigkeiten und öffentlichen Kunstdenkmälern ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Zwar in diesen alten Bildergallerien mögen sie ruhig etwas aufräumen, desto mehr Platz haben wir dann für moderne Schlachtenbilder und Schweizerlandschaften, und auch um die alten Scharteken in unsern Bibliotheken ist es gewiß nicht schade. Aber wenn sie sich eines Tages an der Marxburg, der Lorelei vergreifen oder gar die Berliner Siegesallee spurlos verschwinden lassen, dann wird hoffentlich der furor tutonikus wie ein Mann erwachen, und mit dieser ganzen Bande tabula rosa machen.

Der Besitzer des siebenfachen Echos hat es ihnen übrigens schön besorgt. Er dankte zunächst dem lieben Gott, daß er von seiner siebenfachen Plage glücklich erlöst war, dann aber ließ er telegraphisch alle siebzehn Amerikaner, die daran beteiligt waren, verhaften und gab sich nicht eher zufrieden, bis ihn jeder mit einigen goldenen oder silbernen Gegenständen entschädigt hatte.

Er ist jetzt ein glücklicher Mann, und die Fremden strömen in sein Gasthaus und besichtigen den reichen Schatz an wertvollen Tafelgeräten, auf denen alle möglichen Inschriften, wie Hotel de Rome, Windsor Castle, ferner hochkünstlerische Wappenschilder und Embleme angebracht sind. –

In Kleinsassen, dicht vor der Milseburg, sah ich einen grüngekleideten, säbelbewaffneten Mann, der in der rechten Hand eine gewaltige Schelle schwang und mit kurzsichtigen, blaubebrillten Augen eine Bekanntmachung vorlas. Immer, wenn man durch ein deutsches Dorf kommt, stößt man auf diesen selben alten, silberhaarigen Gemeindeboten, der verlorene Kinder und Kühe ausschellt oder die Gemeindemitglieder zu einer Rauferei auf den nächsten Sonntag einlädt. Man wundert sich, weil er sich grade an der einsamsten Stelle des Dorfes vor einer zerfallenen Mauer hinstellt, und man begreift nicht, weshalb er seine Stimme nur bis zu einem, kaum hörbaren Murmeln erhebt, während doch dabei das Getöne seiner Schelle laut und unbarmherzig genug die Luft erschüttert. Noch nie hat ein Mensch ein Wort von seiner Predigt verstanden, oder auch nur den Versuch gemacht, ihm überhaupt zuzuhören. Die Dorfbewohner scheinen den Inhalt schon längst ganz genau zu kennen, und während der Gemeindebote umgeht, verstecken sie sich sorgfältig in ihren Schweineställen und Heuhaufen. Es beruht das wohl auf einem uralten Aberglauben, daß der alte Mann täglich wie ein Teufelsbeschwörer seinen Rundgang machen muß. Die Bauern glauben, daß sonst das Vieh oder die Weiber behext werden, oder daß der Gurkensalat ohne ihn nicht richtig wächst.

Ich bin immer ein weichherziges Luder gewesen, und als ich in Kleinsassen diesen weißhaarigen Ortspolizisten so einsam und unbeachtet dastehen sah, ergriff mich ein tiefes Mitleid. Ich beschloß, ihm eine Freude zu machen, einmal sollte er es erleben und einen aufmerksamen, ja begeisterten Zuhörer finden. Aber es war seltsam, als ich mich so mitten unter die Gänseherde mischte, die ihn umschnatterte, da sah er mich vorwurfsvoll und entrüstet von der Seite an, und als ich meine Hand an die Ohrmuschel legte, um ihm so symbolisch anzudeuten, daß ich mir keins seiner kostbaren Worte entgehen lassen wollte, da kehrte er mir entrüstet den Rücken zu, so daß ein krummbeiniger Weidenbaum den Rest seiner Predigt zu hören bekam.

Aber wenn ich auf einer edlen Tat begriffen bin, lasse ich mich durch anfängliche Verständnislosigkeit nicht beirren. Dieser alte Mann schien fest davon überzeugt zu sein, ich wollte ihn nur verhöhnen, auf die Idee, sein Vortrag könnte irgend jemand wirklich interessieren, kam er offenbar überhaupt nicht. Ich aber schrie ihm fleißig: Hört, hört! und Bravo! zu, und als sein Gemurmel einmal an eine Pause kam, klatschte ich begeistert in die Hände.

Aber meine Gutmütigkeit wäre mir beinahe schlecht bekommen, denn der alte Krieger zog plötzlich seinen krummen Säbel aus der Scheide – eine Waffe, die noch Rostnarben aus den Kreuzzügen zeigte – und mein Leben wurde nur dadurch gerettet, daß der Feind in der Wut seines Angriffs stolperte und die blaue Brille verlor. Zwar schlug und stach der nunmehr Blindgewordene nach allen Seiten um sich, aber er ermordete nur ein halbes Dutzend Gänse, die ein mörderisches Geschrei erhoben und das ganze Dorf alarmierten.

Es gibt Fälle, in denen auch der tapferste Mann die Flucht ergreift, jedenfalls fühlte ich einen solchen Augenblick gekommen. Ich sah noch die dreschflegelbewaffneten Bauern herbeistürmen, ich hörte noch, wie sie feierlich schwuren, den nächsten Touristen, der sich in ihrem Dorf sehen ließe, totzuschlagen, aber dann war ich auch schon im Gebüsch verschwunden.

Nie in meinem Leben bin ich so schnell einen Berg hinaufgekommen, wie an diesem Tage auf die Milseburg. Ich vergaß ganz, daß in meinem Führer stand, beim Aufstieg auf diese Perle der Rhön bewundere man in Ruhe die herrlichen Wald- und Felspartieen. Aber ich habe während der zwanzig Minuten die ich hinaufkletterte (der Weg dauert sonst fast eine Stunde), überhaupt nichts bewundert. Im Gegenteil, mein Gemüt beschäftigte sich mit ganz anderen Dingen. Eigentlich ist das schade. Schon lange wurmte es mich, daß es in diesem Buche so wenig schöne Naturschilderungen gibt. Das Publikum wird denken, ich sei überhaupt nicht poetisch veranlagt, mir fehle der Sinn für den Zauber der Landschaft. Darum hatte ich mir auch fest vorgenommen, die Milseburg einmal mit allen Schikanen der modernen Dichtkunst zu schildern und diese Perle der Rhön, wie sie ja mein Führer nennt, sollte auch die Perle meines Buches werden. Wunderschön, wie ein richtig gehendes Märchen, wäre meine Beschreibung ausgefallen, und ich hatte sogar schon eine Ballade gedichtet, die so anfing:

»Ich bin des Försters Ferdinand,
Möcht auch kein andrer sein,
Ich bin in heißer Lieb entbrannt
Zur braunen Elsmarein.«

Diese Ballade wollte ich in geschickter Weise hineinflechten.

Aber da kam nun die Geschichte mit dem Ortspolizisten in Kleinsassen, die meine poetische Aufnahmefähigkeit während des Aufstieges durchaus beeinträchtigte, und als ich oben glücklich angelangt war, stieß ich, was noch schlimmer war, auf eine Gesellschaft von Gymnasiasten mit einem Lehrer in der Mitte, der ihnen einen Vortrag hielt. Da war es natürlich mit der poetischen Betrachtung überhaupt vorbei.

»Na schön!« pflegt mein Freund Escher in solchen Fällen zu sagen. Ich tat also so, als ob ich mich noch nie in meinem Leben über einen deutschen Oberlehrer geärgert hätte, und stellte mich als Zuhörer neben ihn hin. Dem Mann gefiel natürlich mein harmloses Gesicht, jedenfalls dachte er sich: wären doch alle meine Schüler solche gutmütige Naturen! und ich merkte an dem erhöhten Tonfall seiner Stimme, daß er jetzt auch zu mir redete. Ich ließ es also ruhig über mich ergehen, als er die Milseburg einen malerisch zerklüfteten Phonolithfelsen in Form einer dreiseitig abgestumpften Pyramide nannte, und steckte mir eine Zigarre an, während er mit seinen Schülern den Kubikinhalt dieses Felsens ausrechnete. Als er mich fragte, ob ich mich nicht auch für Arithmetik interessiere, und auf meine durchaus verneinende Antwort behauptete, das sei eine Lücke in meiner Bildung, und ich müsse bestrebt sein, sie auszufüllen, da wurde ich aber falsch.

»So, das nennen Sie eine Lücke in meiner Bildung?« begann ich. »Ich bin froh, daß ich solche Lücken habe! Sobald ich eine solche Lücke bei mir entdecke, hege, pflege und vertiefe ich sie, und ich hoffe es noch einmal so weit zu bringen, daß meine Bildung überhaupt nur noch aus solchen Lücken besteht. Die Lücken seiner Bildung ausfüllen, das heißt die Poren verstopfen, durch die wir geistig atmen. Gebildet sein – was Sie gebildet nennen – und totgeschlagen sein, das ist so ziemlich dasselbe.«

Ich habe noch nie einen Menschen mit einem so fassungslosen Gesicht gesehen, wie diesen Oberlehrer. Er schnappte wie ein Fisch nach Luft und konnte kein Wort hervorbringen. Aber dazu hätte ich ihn auch in keinem Falle kommen lassen. Solche Leute muß man gründlich breitschlagen, ehe man sie liegen läßt.

»Herr,« fuhr ich deshalb in jenem überlegenen Tone fort, mit dem man Hunden, Weibern und Wissenschaftlern stets imponiert. »Wissen Sie, was ich bin? Ich bin eine Persönlichkeit, ich habe Geld und genieße das Vertrauen meiner Mitbürger. Ja, wenn ich meine Steuern bezahlte, würde ich in der ersten Klasse wählen. Aber der sogenannten Bildung gehe ich im Bogen aus dem Wege, und ich habe es durchgesetzt, daß in meiner Vaterstadt in dem städtischen Bildungsausschuß, in den man mich hineingewählt hat, von allem andern aber nicht von dieser geistigen Seuche gesprochen wird. Erst seitdem halten wir die fidelsten Sitzungen ab.«

Ich warf meinem Opfer einen mitleidigen Blick zu, der arme Kerl war nämlich gänzlich zusammengeknickt. »Aber das sind ja entsetzliche Ansichten!« jammerte er.

»So?« fragte ich. »Entsetzlich finden Sie das? Aber ich meine es gut mit Ihnen, ich will Ihnen einen Rat geben für Ihr ferneres Leben. Nicht wahr, Sie sind doch bestrebt, Ihren Schülern Kunst und Wissenschaft und alles Edle und Gute beizubringen? Aber die Folgen sind auch danach. Ein Junge, dem zehn Jahre lange Vaterlandsliebe, Edelmut und Aufsätze über Schiller beigebracht werden, bekommt diese Artikel mit der Zeit so satt, daß sie ihm zum Halse heraushängen. Er wird später Sozialdemokrat, benimmt sich roh gegen wohlgesetzte ältere Herren und statt für Schiller schwärmt er für Barfußtänzerinnen. Nein, was Sie tun müssen, ist folgendes: Predigen Sie bei jeder Gelegenheit das Böse. Ihre Schüler werden einen Ekel vor jeder Sünde bekommen und später Zierden des Vereins christlicher junger Männer sein. Geben Sie Ihrer Klasse praktischen Unterricht im Rauchen und Trinken, und sie wird heimlich dem schrankenlosesten Milchgenuß fröhnen und fürs ganze Leben auf nikotinfreien Kaffee und alkoholfreien Tee schwören. Wozu hat Ihnen die Natur Ihre schöne Tenorstimme geschenkt? Krähen Sie Ihren Schülern täglich revolutionäre oder unanständige Lieder vor, und sie sollen einmal sehen, mit wie niedergeschlagenen Augen sie später als Männer am Simplizissimus und an jungen Mädchen vorbeigehen. Schimpfen Sie auf Schiller und die elf Schillerschen Offiziere in Wesel und deklamieren Sie, wenn auch mit Bauchschmerzen Stephan George, dann treffen Sie in zehn Jahren in Deutschland keinen Erwachsenen mehr, der nicht heimlich vor sich hinmurmelt: ›Willst du nicht das Lämmlein hüten?‹ Mann Gottes, hören Sie auf meinen Rat, vereinigen Sie sich mit den andern Magistern und machen Sie unser deutsches Vaterland groß, glücklich und angesehen, indem Sie nach meinen Grundsätzen die Jugend anfeuern. Dann wird es auch mit Recht heißen: Jahrtausend, es ist eine Lust, in dir zu leben!«

Ich hatte mit edlem Schwung, ja mit flammender Begeisterung geredet und vor dem Überschwang meiner letzten Sätze die Augen geschlossen. Als ich sie wieder aufmachte, war ich allein. Den Oberlehrer sah ich auf voller Flucht, wie er seine Schüler in einem beschleunigten Tempo vor sich hertrieb. Na, denn nicht! dachte ich. Wenn der Mann keine Vernunft annehmen wollte, um so schlimmer für ihn. Und mit Befriedigung sah ich, daß er gradenwegs auf Kleinsassen zutrabte, wo es noch immer von einem Bienenschwarm entrüsteter Bauern wimmelte. Ich verweilte noch solange, bis ich mich durch mein Fernrohr überzeugen konnte, daß die Kleinsassener ihren Racheschwur voll und ganz gehalten hatten. Dann verließ auch ich diesen Phonolithfelsen (ich notiere mir immer solche Fremdwörter, man kann damit so großartig seinen Freunden imponieren!), aber ich marschierte nach der entgegengesetzten Seite, nach Süden zu.

In Abtsroda aß ich etwas verspätet zu Mittag und um fünf Uhr kam ich auf der Großen Wasserkuppe an, der höchsten Erhebung im ganzen Rhöngebirge, die aber sonst ihren Namen zu Unrecht tragt, denn von irgend welchen Gewässern, Flüssen oder Seen konnte ich auf diesem Gipfel auch keine Spur entdecken. Im Gegenteil, als ich in dem Gasthaus eine Flasche Wasser zum Abendessen bestellte, sah mich der Wirt so merkwürdig an, daß ich meine Bestellung sofort in eine Flasche Wein umänderte, worauf wir die besten Freunde wurden. Ich lud ihn dann noch ein, eine zweite Flasche Wein mit mir gemeinsam zu trinken, und er wurde sehr gemütlich und gestand mir sogar, daß er mich schon im ersten Augenblick als einen feinen und vornehmen Charakter erkannt habe.

»Nein, was ein gebildeter Mensch ist, das sieht man sofort. Gestern Abend waren vier Herren hier, und ihre ganze gemeinsame Zeche betrug nur eine Flasche Wein, ein Glas Bier und zwei Flaschen Wasser. Ich hasse solche Charaktere wie die Sünde – nicht einmal Ansichtskarten haben sie mir abgekauft!«

Das ist der Grund, weshalb meine sämtlichen Bekannten von mir Ansichtskarten von der Großen Wasserkuppe erhielten. Als ich nicht mehr weiterschreiben konnte, ging ich zu Bett. Außerdem weigerte sich der Briefkasten, noch mehr aufzunehmen.


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