Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfter Tag.

Der Sturm auf die Festung Gießen, oder die Nacht, die war so duster. Wie ich auf einfache Weise zum Gymnasialdirektor avancierte. Im Sanatorium des Schäfers Gottfried Kullmann – eine Krüppelgeschichte.

 

Östlich von Gießen, auf der Straße nach Lich, die durch einen großen, herrlichen Wald führt, geriet ich am nächsten Morgen mitten in eine militärische Übung hinein. Ich hatte das Glück, grade die Entscheidungsattacke anzusehen, und ein Generalsbursche, der mit einem Reservepferd an einer Eiche wartete, erklärte mir in liebenswürdiger Weise die Gefechtslage.

Eigentlich sollte es ja eine Nachtübung sein und einen Sturm auf die Festung Gießen darstellen. Da aber Gießen nun einmal keine Festung ist, und man auch die friedlichen Studenten und sonstigen Spießbürger dieser Stadt nicht beunruhigen wollte, steckte man einfach weit draußen im Wald auf einem freiliegenden Hügel eine Flagge in den Boden und nahm an, das sei die Festung Gießen.

Ich habe mich immer gewundert, warum nicht sämtliche deutsche Offiziere, wenn sie einmal pensioniert sind, Lustspiel- und Märchendichter werden, denn das Soldatsein ist die phantasievollste Beschäftigung, die es gibt. Noch nie ist es einem Hauptmann auch nur im Traume eingefallen, mit seiner Kompagnie etwa über einen wirklichen Graben zu springen, sondern er schreit einfach: »Diese Ackerfurche ist ein zwei Meter breiter Kanal!« – und schon fallen die tapfern Truppen wie die Fliegen hinein, so daß sie von ihren Kameraden nur mit genauer Not von dem Tode des Ertrinkens gerettet werden. Ein blöder Zivilist, der nie gedient hat, greift sich an den Kopf, wenn er eine Abteilung Soldaten exerzieren sieht und von dem Führer hört, was da alles angeblich im Gelände auftauchen soll. »Halblinks ein Torpedoboot – Schnellfeuer!« »Kavallerie vom Himmel – hoch legt an!« – Aber die Musketiere sehen alle diese Dinge in Wirklichkeit, sie schießen nach links und nach rechts, nach oben und unten, sie treten und stechen um sich und bringen einander lebensgefährliche Verwundungen bei, worauf sie zum Schluß alle zusammen fröhlich und singend nach Hause wandern.

Auch hier auf diesem Hügel hatte der tapfere Verteidiger der Festung Gießen die raffiniertesten Dinge angelegt, Dinge, von denen ein Zivilist überhaupt nichts sah, die mir aber der Bursche getreu und deutlich erklärte. Berge waren aufeinander getürmt, Abgründe eingerichtet, und uneinnehmbare Sperrforts hingezaubert. Ein Mann lief mit einer grünen Flagge herum und bedeutete einen Sumpf. Er war natürlich unpassierbar. Ein anderer markierte einen zehn Kilometer langen Stacheldrahtzaun. Ein dritter eine Windmühle, die sich friedlich von einem rotmarkierten Fabrikgebäude Tabak geben ließ. Kurz, die Sache imponierte mir, ja wenn der Oberstkommandierende dagewesen wäre, ich hätte ihm noch gratis einige komische Ideen dazu gegeben.

Und dabei herrschte finstere Nacht. Nämlich, wie mir der Bursche erklärte, ein Sturm auf eine Festung kann nur bei Nacht stattfinden, aber man nimmt gewöhnlich Rücksicht auf die Soldaten, die des Nachts schlafen, und, auf die Offiziere, die des Nachts im Kasino sitzen. Man befiehlt daher einfach, es ist Nacht, und um zehn Uhr morgens verhüllt plötzlich eine schwarze Dunkelheit die ganze Gegend. Einer stolpert über den andern, so daß man schleunigst Scheinwerfer markieren muß, um auch nur die Hand vor dem Auge zu sehen.

Aber wie kein Ding auf dieser Welt ganz vollkommen ist, so hatte man auch hier einen Fehler begangen. Während der Verteidiger der Festung Gießen genau wußte, daß die Mitternacht längst ihre schwarzen Fittiche über die trübe Erde gebreitet hatte, war durch ein Versehen dem Angreifer der Befehl: »Es ist Nacht!« nicht mitgeteilt worden, so daß sich dieser mit seiner ganzen heranrückenden Armee dem blinden Wahn überließ, es sei ungefähr halb elf vormittags, und die Sonne stände strahlend und fleckenlos am Himmel. Ja, die Angreifer wischten sich den Schweiß von der Stirne und verschmachteten nach einem Trunk kalten Wassers, während die Verteidiger fröstelnd und zähneklappernd eng beieinander hockten und sich vergebens bemühten, in der eisigen Finsternis überhaupt etwas zu sehen.

Das Resultat kann man sich denken. Zwar riefen die Verteidiger ganz entsetzt von den Zinnen ihrer Festungsmauern herunter: »Aber meine Herren, es ist ja Nacht! Es ist ja Nacht! Sie können ja nichts sehen!« Die Angreifer störten sich durchaus nicht daran. Ihre scharfen Augen erspähten auch die verborgensten Lücken in der Verteidigungslinie, und mit einem Hurragebrüll, vor dem Sümpfe, Stacheldrähte und die stärksten Mauern eine schleunige und lächerliche Flucht ergriffen, drangen sie bis in das Herz der feindlichen Position hinein, so daß in zehn Minuten von einer der stärksten Festungen Deutschlands, die vielleicht im Falle eines Krieges noch einmal gute Dienste getan hätte, auch nicht ein Stein mehr auf dem andern stand. Es war ein großartiger Moment, und zum Schluß sangen Sieger und Besiegte gemeinsam das schöne Lied: »Die Nacht, die war so duster.«

Ja, es ist etwas großartiges um unser stolzes Heer. Was wäre Deutschland, was Europa, wenn nicht die Hälfte der ganzen männlichen Bevölkerung fortwährend in einem bunten Kostüm herumliefe und die andern Leute durch Gliederverrenkungen und Beinestrampeln belustigte? Früher glaubte ich ja auch, wir brauchten das Heer gegen den äußern Feind. Aber wer will uns etwa angreifen? Die Franzosen oder Russen vielleicht? O, die haben selbst genug damit zu tun, genau wie bei uns dem Volke durch lustige Kriegsspiele die Lebensfreudigkeit zu erhalten, und es ist bis jetzt nicht ein einziger Militärschriftsteller auf den Gedanken gekommen, man könnte alle die hübsch angestrichenen Kanonen, die uns so viel Geld gekostet haben, und die blank geputzten Gewehre auch zum scharfen Schießen benutzen, ganz abgesehen davon, daß diese Utensilien durch eine solche Behandlung nur ruiniert würden.

Glaubt man vielleicht, ein alter Hauptmann, der nun schon fünfzehn Jahre lang Tag für Tag mit seiner Kompagnie immer dieselbe einsame Pappel auf dem Exerzierplatz erobert hat, dieser Mann würde nicht ganz entrüstet den Abschied nehmen, wenn man ihm zumutete auf seine alten Tage noch auf seinem treu gedienten Gaul nach Frankreich zu reiten? Glaubt man, unsere Musketiere hatten Lust, auf einen Feind zu schießen, der nicht durch rote und grüne Flaggen seinen Charakter als Feldbäckerei oder wandelnder Panzerturm bezeichnet? Wie, wenn während einer großen Schlacht der deutsche General einen Parademarsch mit sieben Schritt Abstand ausführen ließe, und die Franzosen, die nun einmal schlappe Marschierer sind, den Tritt umwürfen? Würde nicht die Eifersucht der Mannschaften schließlich in Schlägereien ausarten? Haben wir nicht schon genug an den Exzessen Sonntags abends im Tanzlokal?

Nein, die ganze Idee, unsere wackeren Soldaten statt gegen einen markierten Feind und eine angenommene Festung gegen wirkliche, lebendige Feinde auszuschicken, sie statt auf Scheibenbilder auf wirkliche Soldaten ihre Platzpatronen verschießen zu lasten, ist zu lächerlich, als daß es sich lohnt, sie noch weiter zu widerlegen. So was konnte früher vorgekommen sein oder in Gegenden, in denen noch keine Kultur herrschte, aber heute und dazu noch im deutschen Vaterlande ist das ganz unmöglich.

Hat man, um einen treffenden Vergleich zu gebrauchen, jemals auf der Bühne eine wirkliche Königin hingerichtet, einen wirklichen Neubau in Brand gesetzt, eine echte Flasche Sekt ausgetrunken? Na also! Keinem Theaterdirektor fällt es jemals ein, für wirkliche Königinnen, die sich gern hinrichten ließen, Geld auszugeben, oder gar Neubauten und Sekt anders als zum persönlichen Gebrauch zu erstehen. Ebenso läßt kein moderner Heerführer lebendige Soldaten erschießen und richtige Brücken in die Luft sprengen, sondern er schießt auf große Scheibenbilder, und seine Brücken sind harmlose gelb angestrichene Flaggen, auf denen nicht einmal ein Mistkäfer den Rhein überschreiten könnte.

Aber grade darum liebe ich das Militär, und es bleibt der Schmerz meines Lebens, daß ich keine drei Jahre bei irgend einem Trainbataillon dienen durfte. Oft sehe ich den Rekruten auf dem Exerzierplatz zu und sage mir: wie glücklich sind doch diese Menschen! Rot und wohlgenährt hängen sie an irgend einem Querbaum und strampeln vor Vergnügen mit den Beinen, während ein Unteroffizier sie mit funkelnagelneuen Witzen erheitert. Man kann sagen, was man will, aber diese Unteroffiziere sind doch der geistreichste Menschenschlag, den wir in Deutschland hervorgebracht haben.

Neulich sah ich einen, der schickte einen krummbeinigen Musketier (mit dessen Erziehung ich mich überhaupt nicht abgegeben hätte) auf ein Klettergerüst hinaus und ließ ihn von dort oben herab langsam und mit lauter Stimme immerzu brüllen: »Ich – bin – verrückt!! – Ich – bin – verrückt!!« Es war großartig. Alle Rekruten lachten, und der Feldwebel stand dabei und rief: »Lauter, lauter!« Ein Zivilist zwar, der gleich mir dieser Geschichte zusah, meinte, das sei eine Gemeinheit, einen Menschen so zu quälen, aber offenbar hatte dieser biedere Schneider, Schuster, oder was er nun war, keine Ahnung vom militärischen Leben, denn wenn auch dem Musketier, der vom Klettergerüst herab noch eine ganze Weile brüllte: »Ich – bin – verrückt!« die Tränen in den Augen standen, innerlich war er der glücklichste Mensch von der Welt.

Überhaupt unsere Kultur – was wäre sie ohne das Militär? Woher kommt es denn eigentlich, daß alle bedeutende Komponisten Deutsche gewesen sind? Nur durch die unzähligen Militärkapellen, die jeden deutschen Biergarten besetzt haben und wahre Hochschulen für musikalische Genies sind. Gibt es für Maler ein schöneres Vorbild als die farbig bewegte Masse einer exerzierenden Truppe? Und die Dichter – ich erwähnte schon den Einfluß des militärischen Geistes auf die Phantasie – aber auch rein sprachlich, wie viel Feinheit liegt nicht in der militärischen Ausdrucksweise? Ich las neulich folgenden Brigadebefehl: »Die Enveloppen der portativen Consumptubilien sind aus dem Manöverterrain zu eliminieren!«, was ich natürlich als Zivilist nicht verstand. Aber als es mir ein Freund erklärte, es sollte einfach heißen, Stullenpapiere dürften auf dem Exerzierplatz nicht fortgeworfen werden, da empfand ich doch, welche Ausdehnungsfähigkeit die deutsche Sprache noch besitzt.

In Lich aß ich zu Mittag und saß auf einer alten, prächtigen, ganz mit Laub überzogenen Terrasse. Das war aber auch das einzige, was mir an dem Lokal gefiel, denn der Wirt war ein mürrischer, übler Patron, dem offenbar an meiner Kundschaft äußerst wenig gelegen war, da er dachte, ich würde mich doch nicht mehr in der Gegend sehen lassen. Vielleicht gefiel ihm aber auch mein Gesicht nicht, und ich hatte das Gefühl, als ob er mir extra kleine und unansehnliche Portionen zum Essen bringen ließ. In solchen Fällen pflege ich von der Überlegenheit meiner Persönlichkeit Gebrauch zu machen.

»Sagen Sie mal, Herr Wirt,« – damit winkte ich ihn herablassend herbei – »was würde es wohl pro Person kosten, wenn ich mit drei Kollegen und ungefähr zweihundert Schülern hier zu Mittag speiste. Die Schüler würden jeder einen Viertelliter Wein trinken.«

Ich sprach diese Worte grade aus, als der Kellner mir ein winzig kleines Schnitzel auf den Tisch stellen wollte. Aber der Wirt gab mir keine Antwort, er stürzte sich auf den Kellner, und ich glaubte, er wollte ihn erwürgen, solch ein ausgezeichneter Schauspieler war er.

»Ich habe doch ausdrücklich gesagt, Sie sollten ganze Portionen bringen, und jetzt bringen Sie dem Herrn Professor eine halbe. Auch die Zuspeise haben Sie vergessen. Wenn Sie meine Gäste noch einmal so bedienen, sind Sie sofort entlassen.«

Damit hatte der Wirt auch schon das kleine Schnitzel ergriffen und war damit in die Küche verschwunden. Als er nach fünf Minuten wieder erschien, gefolgt von zwei Speiseträgern, die meinen Tisch mit einer Überfülle der köstlichsten Küchenerzeugnisse bedeckten, war er ein ganz anderer Mann geworden. Er lud mich ein, auf seine Kosten mit ihm eine Flasche von seinem besten Wein zu trinken, und redete mich im übrigen abwechselnd mit Herr Direktor, Herr Professor, Herr Rat an. Aber ich war nicht eitel, ich antwortete auf jeden Titel, und wenn er einfach Herr Doktor zu mir gesagt hätte, ich wäre auch zufrieden gewesen.

Eine halbe Stunde später waren wir Freunde fürs Leben, besonders als ich ihm sagte, welch eine einflußreiche Stellung ich in Gießen hätte, und daß ich nächstens die halbe Bevölkerung mit nach Lich bringen würde. Er war fast beleidigt, als ich beim Aufbrechen vom Bezahlen redete. Von solchen Gästen wie ich nähme er kein Geld an, er würde es stets als eine reine Ehre betrachten, eine so hochgestellte Persönlichkeit in seinem Gasthof zu beherbergen. Ich schied von ihm mit dem Gefühl, daß ich wieder einmal auf einfache Weise einen Menschen glücklich gemacht hatte, und ich bin überzeugt, dieser Gastwirt denkt heute noch an mich.

Kurz vor Laubach kam ich an dem Sanatorium des berühmten früheren Schäfers und jetzigen Millionärs Gottfried Kullmann vorbei. Und da ich schon so viel von ihm gehört hatte, besuchte ich ihn in dem fürstlichen Schloß, das er sich neben dem Sanatorium als Privatwohnung gebaut hat. Er konnte sich einen solchen Luxus leisten, das Geschäft brachte es ja ein.

Es muß ein merkwürdiger Zusammenhang zwischen dem Umgang mit Schafen und der Medizin vorliegen, denn schon im grauesten Altertum wird von Schäfern berichtet, die sich mit Erfolg auf die Heilkunde warfen. Zu allen Zeiten haben sich auch die Ärzte darüber beklagt, daß die Konkurrenz der Schäfer ihnen das Geschäft verderbe, und noch im vorigen Jahre wurde auf einem medizinischen Kongreß von einem Professor gesagt, wo sich nur ein Schäfer einniste, da liege auch gleich die ganze Krankenindustrie danieder.

Woher kommt es nun, daß wir Patienten lieber zu einem alten Schäfer als zu einem approbierten Arzt laufen, obgleich doch die Kosten dieselben sind und es in beiden Fällen vom Zufall abhängt, ob man die Behandlung übersteht oder nicht. Ich für meine Person ziehe sogar einen Arzt vor. Ärzte sind sympathischer wegen ihrer Hilflosigkeit, mit der sie sich erst nach allen möglichen Symptomen erkundigen müssen, während der Schäfer nur einen Blick auf den Nagel am kleinen Finger linker Hand wirft und mir sofort ein chronisches Nierenleiden aufoktroyiert, an dessen Folgen ich dann jahrelang zu leiden habe.

Warum setzt sich nicht einmal ein junger Arzt, dem es doch heute so schwer wird, vorwärts zu kommen, hin und lernt von seiner Wirtin das Strümpfestricken? Wenn er dann, den Strickstrumpf in der linken Hand – die rechte braucht er nur zum Honorar einstecken und ich rate ihm, sich lederne Hosentaschen machen zu lassen – wenn er so, möglichst in einem verfallenen Pferdestall, der in jeder Stadt leicht zu mieten ist, seine Patienten empfängt und ihnen an der Nasenspitze die Krankheiten absieht, so werden sie ihm das gefärbte Regenwasser, das er als Medizin verkauft, zu den höchsten Preisen abnehmen, ihn segnen und scharenweise gesund werden. Die Universitätsprofessoren, die ja auf jeden Schwindel hereinfallen, werden ihn für ein medizinisches Genie erklären, und die Regierung wird ihm den ersten Lehrstuhl des Landes anbieten.

Aber solche vernünftige junge Leute sind heute mit der Lupe zu suchen, und so kann man es dem Publikum wahrhaftig nicht übel nehmen, wenn es sich in gewohnter Weise von einem erfahrenen Schafhirten mit Opodeldok und umgewendeten Napoleon behandeln läßt und der sogenannten Wissenschaft mißtrauisch den Rücken kehrt.

Um nun wieder auf meinen Freund Gottfried Kullmann zurückzukommen, Kullmann war zwar auch von Hause aus ein Schäfer und das Strümpfestricken war seine Hauptbeschäftigung; was ihn aber, als er dazu überging, die Menschen von Krankheiten und Gebrechen zu heilen, von allen andern berühmten Schäfern unterschied, das war sein höchst eigenartiges, von ihm selbst erfundenes System, ein System, das, wenn es erst allgemein angenommen ist, nicht nur alle Übel und Gebrechen heilt, sondern auch die soziale Frage in höchst einfacher Weise löst.

Aber, um die Erfindung Kullmanns dem deutschen Volke klar zu legen, muß ich erst noch ein Wort über den bisher zu Unrecht mißachteten Stand der Krüppel sagen, denn erst diese Krüppel brachten Kullmann auf seine geniale Idee.

Es gibt wohl keinen Stand auf der Welt, der so von dem Vorurteil des Publikums verfolgt wird, wie der der Krüppel und Bettler. Während man sonst nichts dagegen hat, wenn jemand ein freundliches Gesicht macht – sogar bei Schutzleuten und andern Beamten, also bei Wesen, die nur auf der Welt sind, um Tiere und Menschen in Schrecken zu setzen, sieht man das gern – verlangt man von den bettelnden Krüppeln, daß sie mit finstern, verzweifelten Blicken zitternd durch die Straßen wanken, und mit sterbender Stimme um Erbarmen und um ein paar Pfennige flehen. Kein Bettler, und wenn er ein Millionärseinkommen hätte, dürfte sich unterstehen, im eleganten Anzug, sauber rasiert und mit zufriedener, glücklicher Miene seinem Gewerbe nachzugehen. Die mildherzigste Dame würde ihn sofort verhaften lassen. Nein, der arme Kerl muß seinen Bauch wegschnüren wie eine Modedame, er muß graue Bartstoppeln tragen, mindestens einen Zentimeter lang, und die mürben Stoffetzen, die seinen Leichnam umhüllen, dürfen nie anders als durch verrostete Haarnadeln und aufgefundene Stücke Bindfaden zusammengehalten werden. Nur wenn sich fingerlange Holzwürmer aus seinem Krückstock herausringeln, wenn man ihm ansieht, daß er sich seit Jahren von altem Schuhleder ernährt hat und in einem abgelegten Mülleimer schläft, hat man Vertrauen zu ihm und überschüttet ihn mit Gaben. Wenn man ihn nach etwas fragt, muß er eine blödsinnige Antwort stammeln oder in kläglicher Weise winseln. Weh ihm, wenn er auch nur einen Augenblick ein vernünftiges Gesicht macht oder gar so redet wie andere Leute! Er gerät sofort in Verdacht, daß er ein schnöder Simulant ist, der das fehlende Bein zu Hause irgendwo in der Schublade liegen hat und es des Abends anzieht, um auf den Tanzboden zu gehen. Und so kommt es, daß gute und glückliche Menschen, wenn sie einmal die Laufbahn eines Bettlers oder Krüppels eingeschlagen haben, durch diesen Beruf gezwungen sind, sich ein finsteres, elendes und verzweifeltes Aussehen zuzulegen.

Aber das Publikum irrt sich, wenn es glaubt, daß es auch im Innern dieser Leute so aussieht. Innerlich sind sie die fröhlichsten, zufriedensten und glücklichsten Menschen.

Wenn der blinde Bettler nach Hause kommt und dort seinen Arbeitsanzug und sein Glasauge ausgezogen hat, fährt er mit seiner Frau und der ältesten Tochter in die Ausstellung der Sezession, denn er ist ein Kenner und Bewunderer der modernen Malerei. Wer ahnt es wohl, daß jener unglückliche Stelzfuß, der sein Bein bei Vionville verloren hat, einer der besten Fußballspieler Deutschlands ist? Während der Ausübung seines Berufs trägt er das Bein um den Bauch gewickelt und erreicht so noch den Effekt einer Wassersucht. Und der arme, unschuldige Kretin ohne Arme und Beine, dessen glanzlosen, erloschenen Augen man es ansieht, daß aus ihnen niemals ein Funke menschlicher Vernunft hervorgeblitzt hat – ach, wer ihn am Tage in den Anlagen auf dem kleinen Wägelchen hocken sieht, wird der wohl glauben, wenn dieser Mann erst abends auseinandergewickelt ist, daß er dann in seinem Salon die Koryphäen deutscher Kunst und Wissenschaft empfängt und sie durch seine geistvollen Gedanken in Staunen setzt?

Ich kannte einen fallsüchtigen, dreifach gelähmten Taubstummen, der all seine Gebrechen aufgab und Rentner wurde, nur um seinem Sohn in seiner Offizierskarriere nicht hinderlich zu sein. Der alte Herr war seit der Zeit tiefunglücklich. Ja, man muß einmal einen Ball des Vereins moderner Krüppel mitgemacht haben, um eine Ahnung zu bekommen, wie gesund noch unser deutsches Volk ist. Da ist keine Spur von großstädtischer Entartung und Nervosität, das sind noch dieselben kernigen Gestalten, wie sie Plato in seiner Germania beschrieben hat. Und der harmonische, glückliche Charakter dieser Menschen, der aus ihrem ganzen Wesen hervorleuchtet, so daß man ordentlich angesteckt wird!

Ich habe immer die Leute bemitleidet, die keine Krüppel sind, aber ich wagte nie, meinen Bekannten vorzuschlagen, sich die Arme oder Beine abschneiden zu lassen. Man wäre meinem Rat doch nicht gefolgt, die Macht der Vorurteile ist zu groß auf dieser Welt. Und wie glücklich und zufrieden könnte mancher Unglückliche auf diese Weise werden.

Erst meinem Freund Gottfried Kullmann, dem einfachen, bescheidenen Schäfer blieb es vorbehalten, diesen großen Gedanken in die Tat umzusetzen. Aber auch er würde wohl heute noch auf einem Heidehügel sitzen und Strümpfe stricken, wenn er sich nicht eines Tages einen verrosteten Nagel in den Fuß getreten hätte.

Bakon fiel vom Baum herunter und entdeckte die Schwerkraft. Aristoteles ging betrunken auf zwei Bürgersteigen gleichzeitig nach Hause und diktierte am nächsten Morgen die Theorie der Pendelschwingungen in die Schreibmaschine. Schiller fand einen faulen Apfel in seiner Schublade und dichtete sofort Kleists Hermann und Dorothea. Kullmann aber, mein Freund Kullmann, trat sich einen verrosteten Nagel in den Fuß und wurde so zu einem Wohltäter der Menschheit.

Natürlich ging die Sache bei Kullmann nicht so auf einmal. Zunächst zog er sich eine Blutvergiftung zu und erst nach einer Woche und nach vielen Besprechungen und alten Weibern wurde ihm das Bein durch den Sanitätsrat Doktor Schneider abgenommen. Weder der Sanitätsrat noch Schäfer Kullmann hatten hierbei die geringste Ahnung, daß das abgeschnittene Bein die Geburtswehen einer neuen Zeit einläutete.

Kullmann war nach dieser Operation wie neugeboren. Fröhlich humpelte er auf seinem Stelzfuß herum, aus dem Gicht, Rheumatismus und Hühneraugen vollständig verschwunden waren. Auch sonst fühlte er sich merklich leichter.

Da kam – wunderbare Fügung – ein zweiter verrosteter Nagel, an dem Kullmann sich die rechte Hand verletzte. Diesmal beeilte sich das alte Weib mit ihrer Besprechung so, daß der Sanitätsrat schon am dritten Tage den Arm abnehmen konnte. Und nun kannte das Glück des Schäfers Kullmann keine Grenzen mehr. Mit jedem Tag wurde er jünger, blühender, und er sah bald aus wie das ewige Leben.

Aber mit solchen verrosteten Nägeln, das war eine langweilige und umständliche Geschichte, darum schnitt er sich kurz entschlossen mit einer alten Sense das letzte Bein und den letzten Arm ab. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen.

Von weit her kamen die Bauern, um ihn zu sehen und um seinen Rat zu erbitten. Viele folgten seinem Beispiel und segneten ihn. Bald mußte der Sanitätsrat Doktor Schneider wegen Nahrungsmangel sein Bündel schnüren, keine Katze wollte sich mehr nach seiner veralteten Methode behandeln lasten. Kullmann aber wurde dick und fett, und an der Stelle, wo sich früher endlose, unfruchtbare Heide erstreckt hatte, erstand jetzt, mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet, das weltberühmte Kullmannsche Sanatorium, in dem man sich die Arme und Beine abschneiden ließ und so für das ganze Leben gesund und glücklich wurde. Der Ruf der Anstalt ist ja bekanntlich bis in die fernsten Erdteile gedrungen. Besonders kurierte Direktor Kullmann auch unglückliche Ehen, und junge Paare, die sich von ihm behandeln ließen, führten später ein gradezu beneidenswertes Familienleben. Niemals kam es mehr bei ihnen zu Tätlichkeiten.

Ich besuchte Herrn Kullmann in seiner luxuriösen Villa, und er stellte mir seine niedliche, kleine Frau vor. Ihr fehlten, grade so wie ihm, die Arme und Beine, und sie ging auf Rädern, was ihr einen besonders eigenartigen Reiz gab. Als sie mir ihre Kinder zeigte – sie waren überall auf Kommoden und Postamenten als Zimmerschmuck aufgestellt – mußte ich eingestehen, daß ich noch nie in meinem Leben so wohlerzogene und sittsame Kinder gesehen hatte. Während der ganzen Zeit, die ich da war, rührten sie sich nicht von der Stelle, und nichts schien ihnen ferner zu liegen, als den Besuch durch Jagen und Umhertollen zu belästigen.

»Eins macht mir aber doch noch Sorgen,« sagte Direktor Kullmann im Laufe unserer Unterhaltung. »Wenn nun meine Erfindung, wie das nicht anders zu erwarten ist, erst zur allgemeinen Geltung kommt, werden dann nicht tausende von Menschen, wie Schuhmacher, Hühneraugenoperateure und Handschuhfabrikanten ihr Brot verlieren und sich aus Kummer dem Trunk ergeben?«

Aber ich tröstete den zartfühlenden Mann. »Verehrter Meister,« wagte ich ihn anzureden. »Lassen Sie sich deswegen keine grauen Hühneraugen wachsen. Das ist bei jeder ganz großen Erfindung so. Als die Eisenbahnen aufkamen, haben da nicht Millionen von Fuhrleuten, die vorher im vegetarischen Speisehaus aßen, aus Kummer das Schnapstrinken angefangen? Trinken sie nicht heute noch – diese durch die Eisenbahnen brotlos gewordenen Fuhrleute? Also schneiden Sie ruhig drauf los!«

»Das werde ich auch tun!« sagte der Meister. »Aber ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Ich beabsichtige nämlich, mir auch noch den Kopf abzuschneiden, und damit werde ich wohl sicherlich auf den Gipfel meiner Erfindung gelangen.«

Ich fiel dem Mann begeistert um den Hals. »Tuen Sie das, großer Gottfried Kullmann, und alle Übel werden von der Welt verschwinden. Die Leute werden in Scharen herbeieilen und sich die Köpfe abschneiden lasten, um sich damit aller trüben Gedanken, Kummer und Elend zu entledigen. Die Bauchredner der Zukunft werden Ihr Lob verbreiten, und die Regierung wird Ihren Rumpf in Marmor aushauen lassen.«

Kullmann sah mich zärtlich an. »Sie gefallen mir, junger Mann. An Ihnen möchte ich zum ersten Mal diese neue Erfindung probieren. Tausende werden Sie beneiden.«

»Herr Direktor,« sagte ich, »wie gerne! Aber ich kann nicht, ich bin Dichter und Schriftsteller. Zwar geistig würde mir, wie ich nun einmal veranlagt bin, die Operation nichts schaden, im Gegenteil, sie würde mich frei machen von manchen hemmenden Vorstellungen. Aber ich muß doch jetzt das Reisetagebuch eines vergnügten Idioten schreiben. Ich habe schon einen Vorschuß von meinem Verleger erhalten, und das deutsche Volk wartet sehnsüchtig darauf, daß endlich einmal einer in kongenialer Weise die tiefsten Gedanken der großen Menge zum Ausdruck bringt. Glauben Sie, daß ich ohne Kopf durch die deutschen Gauen wandern kann, ohne von der Polizei als höchst verdächtiges Individuum festgenommen zu werden? Nein, verehrter Meister, ich muß Ihren ehrenden Antrag, so schwer es mir auch wird, ablehnen, ich muß mich aufopfern für das deutsche Publikum. Aber es gibt einen Würdigeren an dem das Experiment gemacht werden kann, das sind Sie selbst. Zaudern Sie nicht länger, und dann schreiben Sie mir, wie es Ihnen bekommen ist, es wird mich interessieren.«

Ich verabschiedete mich von dem Mann, nachdem ich ihm meine Adresse gegeben hatte. Er lud mich zwar ein, die Nacht bei ihm zu verbringen, aber ich lehnte das ab, denn er zeigte eine zu starke Neigung, mich ganz glücklich zu machen und ich fürchtete, er könnte mich überreden. Doch als ich schon längst auf der Landstraße nach Laubach war, dachte ich noch einmal daran, wie vielleicht mein ganzes ferneres Leben zufriedener und ruhiger verlaufen würde, wenn ich die Kullmannsche Kur durchmachte. Und einen Augenblick schwankte ich, ob ich nicht umkehren sollte.

Aber da grüßte mich auch schon aus der Ferne das altersgraue Grafenschloß von Laubach, und mein Herz wurde stark in dem Gefühl, daß ich mein persönliches Glück dem deutschen Publikum opfern müßte.

Ich bin immer so ein Schaf gewesen!


 << zurück weiter >>