Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölfter Tag.

Der Meißner und die Sage von der Frau Holler. Die Psychologie der Weiber. Göttinger Gedenktafeln, Hunde und Studenten. Wie bei mir die afrikanische Schlafkrankheit ausbrach, nebst dem rettenden Sturz durch das Fenster.

 

Westlich von Albungen liegt der vielbesuchte Meißner, ein interessantes und aussichtreiches Gebirge, von dem ja auch der berühmte Meißner Porzellan herstammt. Jedoch scheinen die Bewohner dieser Gegend auf die Porzellanindustrie gar nicht so besonders stolz zu sein. Kein Wirt erwähnte sie, und kein Burgportier hielt mir darüber einen Vortrag. Dafür haben sich aber die Leute, die dort vom Touristengewerbe leben, mit Erfolg auf die Sage von der Frau Holler geworfen und jeden Stein und jeden versteinerten Ameisenhaufen nach dieser doch immerhin antiquierten Dame benannt. Schon gleich unten, in dem sonst so schönen, von der Berka durchflossenen Hölletal geriet ich in ein Gasthaus zur Frau Holler, wo man mir die abgedroschenste Kleinekindergeschichte erzählen wollte. Aber ich fertigte diesen Wirt in überlegener und geistvoller Weise ab.

»Erzählen Sie so was Ihrer Waschfrau!« sagte ich – mir fallen immer blitzartig solche witzigen Paraden ein. »Aber nicht mir. Wenn Sie eine richtig gehende Rittersage mit Mord und Totschlag haben – schön, die will ich anhören. Das Märchen von der Frau – wie hieß sie doch? – Frau Holler, das sparen Sie sich auf, bis ich einmal meine Kinder in die Gegend mitbringe.«

Dann wollte er mir den Backofen der Frau Holler zeigen.

»Hab ich schon gesehen!« sagte ich. »Heute morgen in Albungen.«

Er sperrte vor Erstaunen den Mund auf. »Nicht möglich!« meinte er.

»Nicht möglich! sagen Sie? Meinen Sie, den Albungern wäre das egal, daß alles hier den Berg hinaufwandert, den Teich oder Brunnen der Frau Holler bewundert und sein Geld bei der Konkurrenz verzehrt, während man alle diese Dinge und überhaupt das ganze Andersensche Märchen viel bequemer in Albungen selbst errichten und zur Anlockung von Touristen benutzen kann. Ich sage Ihnen, einen alten Backofen haben sie jetzt schon hergerichtet, er war großartig – ganz schwarz von dem Qualm der Jahrhunderte. Und eine goldene Jungfrau, eine Pechmarie und einen Kikerikihahn werden sie sich auch noch zulegen, dann können Sie sich hier im Höllental und auf dem Meißner begraben lassen. Kein Mensch klettert mehr diesen langweiligen Berg hinauf.«

Ich habe nie einen so bestürzten Wirt gesehen. Er vergaß sogar, sich von mir die Zeche bezahlen zu lassen – was mir gar nicht unlieb war, und schwur im übrigen, er würde dem Wirt, der in Albungen den Frau Hollerbackofen eingerichtet hatte, den Hals umzudrehen. Ob er es wirklich getan hat, weiß ich ja nicht, aber als ich oben auf der schönen Kuppe, der sogenannten Kalbe, stand, konstatierte ich mit Befriedigung, daß der berühmte Frau Hollerteich, den der Verkehrsverein da mit großen Kosten angelegt hatte, vollständig ausgetrocknet war. Trotzdem standen harmlose Reisende beiderlei Geschlechts um einen Führer herum und hörten wohl zum zehnten Male dieses kindische Ammenmärchen, dem doch der Stempel der Erfindung deutlich an der Stirne geschrieben stand.

Hier von der Kalbe herab hatte ich noch einmal eine schöne Aussicht auf die Rhön und den Thüringer Wald, von denen ich nunmehr Abschied nehmen mußte. Aber im Norden grüßte mich ja schon der Harz, schwer und geheimnisvoll wie – wie eine – schade, hier müßte mir nun ein schwungvoller poetischer Vergleich einfallen! Hm, etwas wie ›hingehaucht‹ schwebt mir auch vor, aber – na, es kann sich ja schließlich jeder selber denken, wie der Harz an diesem Morgen ausgesehen hat. Diese poetischen Bemerkungen in meinem Buche strengen mich doch immer an!

Gegen Mittag war ich in der Nähe von Eichenberg und kehrte in einem ländlichen, kleinen Gasthause ein, dessen Namen ich aber lieber nicht nennen will, da ich unmöglich für die Folgen aufkommen kann. Sieben heiratsfähige Töchter gab es nämlich hier, eine immer bildhübscher als die andere, und sie hatten auch die schönsten Namen, die man sich denken kann, Felicitas, Engelbertha, Raphaele, Pulcheria, Dolores, Illona und Adelgunde.

Nach Tisch kam ich mit dem Wirt in ein Gespräch und fragte ihn, ob er schon lange dieses Gasthaus hätte, denn nach den vornehmen Namen seiner Töchter schien es mir wenig wahrscheinlich, daß er immer nur ein gewöhnlicher Gastwirt gewesen sei.

»Erst seit zwei Jahren,« antwortete er. »Früher war ich Maurer.«

»Maurer?« rief ich erstaunt. »Aber dann sind Sie ja von Haus aus ein ganz einfacher Mann. Wie kamen Sie denn nur auf die Idee, Ihren Töchtern solche poetische Namen zu geben?«

»Ich bin nicht Schuld daran!« sagte er, und ein Schatten legte sich auf sein Gesicht. »Aber meine Frau die liest immer solche Romane: ›Zehn Jahre unter der Erde‹, und dergleichen. Jede Woche bringt der Kolporteur für zehn Pfennige ein Heft. Und natürlich, wenn wir eine Tochter bekamen, die mußte immer nach der Heldin genannt werden.«

»Sie sind wohl sehr glücklich in der Ehe?« fragte ich ihn.

»Glücklich?!« entgegnete er und wurde wütend. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, heiraten Sie nie. Wie hab ich mich als junger Mensch nach einem Haushalt gesehnt! Die schlechteste Frau, dachte ich, ist bester als gar keine. Und heute sage ich: ohne Frau ist man tausendmal glücklicher als mit der besten. Wen Gott züchtigen will, dem gibt er Glück in der Liebe.«

In diesem Augenblick rief eine weibliche Stimme aus dem Nebenzimmer: »Hugo!«

»Meine Frau!« sagte der Wirt und verschwand mit einer Geschwindigkeit, die mir bemerkenswert vorkam. Später legten dann verschiedene seiner Töchter Beschlag auf ihn, und ich gelangte zu keinem weiteren Gespräch mit ihm. Eigentlich tat mir das leid, denn der Mann interessierte mich. Er wußte ja auch noch gar nicht, daß ich ebenfalls verheiratet war, und ich hätte ihm so gerne etwas aus meiner eigenen Ehe erzählt.

Gott ja, die Weiber – ich kann mich glücklicherweise offen über sie aussprechen, denn meine Frau liest dieses Buch doch niemals. Sie liest nur richtige Romane mit heldenhaften Gardeoffizieren und übermütigen Dollarprinzessen – über meine Art zu schreiben hat sie ihr vernichtendes Urteil oft und deutlich genug abgegeben. Also früher erstarb ich ja auch in Anbetung vor jedem jungen weiblichen Wesen, und schon auf der Schule ärgerte ich mich über Schillers Ausspruch in seinem Handschuh: »Die Dame, danke, begehr ich nicht!« Ich hätte so etwas nie von einer Dame gesagt. Als ich damals in die Welt wanderte, was war ich da noch für ein stolzer, frischer Kerl! Aber schon mancher ist wie Saul ausgezogen, sich ein Königreich zu suchen, und er brachte nur eine Eselin nach Hause. O, wie schön dachte ich mir die Ehe. Meine Frau sollte mir die beste Freundin sein, und sie war doch nur meine intimste Feindin. Doch wir Männer sind ja alle Kamele. Wir laden uns die schwersten Lasten auf, ohne daß es uns schadet, und an einer feinen, zierlichen Frau schleppen wir uns schließlich zu Tode. Denn die meisten Ehen sind ja nur eine Verurteilung zu lebenslänglichem Zuhaus. Ohne Frau dünkt man sich auf einem schlechten Wege, mit einer Frau aber hat man überhaupt keinen Weg mehr vor sich, höchstens noch den ihrigen.

Nun, vielleicht wollen das grade die meisten Männer. Ich für meine Person war wenigstens stets davon überzeugt, daß sich Simson freiwillig die Haare hat schneiden lassen. Delila brauchte gar nicht zu warten, bis er eingeschlafen war. Und von der Circe war es auch kein so schwieriges Kunststück, die Genossen des Odysseus in Schweine zu verwandeln. Vielleicht sahen sie die ganze Prozedur nicht einmal für ein Unglück an. Denn darüber muß man sich nicht täuschen: die andere Klasse der Männer, die Egoistischen und Energischen, die grob ausgedrückt auf dem Standpunkt stehen: »Liebe mich, oder ich zerhack die Kommode!« – die sind sehr selten. Die meisten Männer bleiben ihr Leben lang heillose Schwärmer und Kindsköpfe, die es als den Zweck ihres Daseins betrachten, sich für ihre Familie zu opfern. Daß der Mann zunächst auch einmal für sich selber leben soll, der Gedanke kommt ihnen überhaupt nicht.

Dichter faseln gerne von der Sphinx im Weibe, und ich habe auch noch keine Frau getroffen, die nicht so tut, als sei ihre Seele ein mehr oder minder interessantes Geheimnis. Aber ich glaube, das Geheimnis der Frauen besteht nur darin, daß sie in Wirklichkeit gar kein Geheimnis haben. Und wenn Sie dir erzählen, ihre Seele sei so tief, daß schon ein Dutzend Kamele darin ertrunken sei, laß dich nicht verblüffen, du kannst selbst als Schaf ruhig hindurchwaten, es passiert dir nichts. Sie sind allerdings unberechenbar. Morgens stehen sie noch fidel und munter auf und am Abend kaufen sie sich schon einen Revolver, um ihren Kanarienvogel totzuschießen. Auf jeden Fall aber, ob du die Weiber wie die Heringe gesalzen oder eingemacht am liebsten hast, oder ob sie dir wie der Sauerkohl aufgewärmt am besten schmecken, vergiß nie, daß bei ihnen die Kunst (oder muß es heißen die Gunst?) nach Brot geht, und daß sie nur einen neuen Mantel nach dem Winde drehen.

Eins dagegen muß man zum Lobe der Frauen unbedingt sagen – der bekannte Ausspruch Nietzsches: »Die Männer sind alle entweder komisch oder unanständig!« paßt durchaus nicht auf das zarte Geschlecht. Denn erstens wird man auf der ganzen Welt keine wirklich komische Frau finden (es fehlt ihnen überhaupt der Sinn dafür), und zweitens triefen sie alle nur so von edlen Empfindungen und hohen Gefühlen, sodaß ein Weib, dem zufällig jede äußerliche Schönheit fehlt, umso mehr von ihren inneren Vorzügen erzählen wird. Ein frommer Muselmann allerdings, der auch mit einer solchen Frau von nur innerer Schönheit gesegnet war, bat eines Tages Allah, er möchte sie doch wenden, wie man wohl einen Rock wendet, der außen abgetragen, aber innen noch schön ist. Da er so dringend flehte, erhörte der Herr seine Bitte, worauf der fromme Muselmann in seinem ganzen Leben niemals mehr zu Allah gebetet hat, so groß war die Enttäuschung, die er erlebte. Aber die Sache ließ sich nicht mehr rückgängig machen.

Als ich noch jung und ein Dichter war (solange man sich nur nach den Frauen sehnt und sie noch nicht kennt, ist man immer ein Dichter), schrieb ich einmal: ›Man liebt niemals den Körper einer Frau. Der Leib ist nur ein Symbol für die Seele.‹ Und ich hatte eigentlich recht, denn schließlich ist alles Körperliche nur ein Symbol des Seelischen. Aber, so frage ich zum Schluß dieser Betrachtung – man liebt doch die Frauen so sehr, das heißt ihre Seelen – kann man denn nun wirklich das Garnichtvorhandene lieben?

[Spätere Einschiebung: Natürlich, so was kann nur mir passieren! Da sieht man wieder, wie die Weiber sind! Meine Frau, die sonst nie eine Zeile von mir liest, weil sie, wie sie sagt, nicht vor Langeweile sterben will, sie muß zufällig dieses Manuskript finden und diesen ganzen Erguß einer schönen, aber gekränkten Männerseele lesen. Ich nehme daher nach einer Auseinandersetzung mit meiner lieben Gattin auf ihren Wunsch meine geistreichen Äußerungen über das weibliche Geschlecht mit dem aufrichtigen Bedauern zurück, daß leider nicht das Gegenteil der Fall ist, und außerdem erkläre ich hiermit die Frauen nach wie vor für die Krone der Schröpfung. P. S. Meine Frau gibt sich mit dieser Erklärung zufrieden, obgleich ich, wie sie sagt, mich etwas gewunden ausgedrückt hätte. Außerdem ist sie nicht ganz sicher, ob Schröpfung nicht ein Druckfehler sei. Sie spräche das Wort immer Schöpfung aus. Na, meinetwegen also Schröpfung!]

Von Eichenberg aus hatte ich nach Göttingen ein Telegramm geschickt an meinen Freund und Landsmann Alois Knochenmuß, und als ich dort gegen Abend ankam, saß er schon in einem Wirtshaus vor der Stadt am offenen Fenster und wartete auf. »Mensch!« schrie er ganz begeistert. »Du siehst ja aus wie Tante Anna ohne Zopf!« Was natürlich in seiner Sprache, die immer das Gegenteil von dem ausdrückte, was ihre Worte besagen wollten, eine Schmeichelei war. Auch sonst hatte er sich nicht sehr verändert, er war noch immer ein prächtiges Exemplar eines Menschen in Schweinsledereinband, die wie die alten Bücher jetzt leider so selten geworden sind, er trug auch noch immer die Studentenmütze, diese Raupentracht des späteren Philisters, und man sah es ihm auf den ersten Blick an, daß er sich in erbaulicher Weise einem beschaulichen, ich wollte sagen, verdaulichen Lebenswandel widmete.

Wir gingen zunächst in ein Gasthaus, wo ich ein Zimmer bestellte und etwas aß. Doch damit hielten wir uns nicht lange auf, denn Herr stud. med. Knochenmuß brannte darauf, mir noch vor Eintritt der Dunkelheit ein Bild von den Schönheiten und Seltsamkeiten der Stadt Göttingen zu geben. Und er war wirklich ein gediegener Führer. Er langweilte mich nicht mit sogenannten Sehenswürdigkeiten, mit alten Brunnen und verrosteten Reiterstandbildern, aber er zeigte mir das Wichtigste, die Hauptstraßen, und als wir die einmal durchgegangen waren, sagte ich: »Halt! Wir können jetzt in deine Kneipe gehen. Über Göttingen weiß ich ausreichend Bescheid!«

Also diese Stadt besteht aus tausend Häusern, zweitausend Studenten, dreitausend Hunden und zwanzigtausend Gedenktafeln, welche letztere an den Häusern angebracht sind. Die übrige Bevölkerung habe ich nicht gezählt. Die Gedenktafeln sind wohl das wichtigste an der ganzen Stadt, und sie bilden eine einzigartige und vollständige Kulturgeschichte Deutschlands von der Gründung der Universität durch Karl den Großen im Jahre 813 angefangen bis auf unsere Tage. Kein berühmter Mann hat jemals hier studiert, ohne daß nicht eine Tafel mit genauem Datum an seinem früheren Wohnhause daran erinnert. Es müssen zu allen Zeiten wahre Völkerwanderungen von großen und berühmten Männern aus allen Teilen der Welt nach Göttingen stattgefunden haben. Buddha, Confucius, Wilhelm der Eroberer, Napoleon und Bebel haben hier studiert, um später als Staatsanwälte oder Geburtshelfer dem Vaterlande ihre kostbaren Dienste zu leisten. Einzelne, wie Schiller, Göte und Shakespeare müssen sich hier nicht nur Jahre lang aufgehalten, sondern auch fortwährend ihre Wohnungen gewechselt haben, denn fast an jedem Hause findet man ihre Namen. Es scheint überhaupt der einzige Stolz der Göttinger zu sein, ein Haus mit möglichst vielen Gedenktafeln zu haben. Je nach der Zahl derselben kann man dort bei der Stadtratswahl erster, zweiter oder dritter Klasse wählen, und wer die meisten Tafeln hat, wird Bürgermeister. Selbst die Göttingerinnen achten streng auf diese Dinge, und sie betrachten es als eine schnöde Mesalliance, wenn eine von ihnen in eine Familie hineinheiratet, die nicht so viele und nicht so berühmte Schilder hat wie ihre eigene.

Eine schöne Überraschung bereitete mir Knochenmuß, indem er mich plötzlich vor meine eigene Gedenktafel hinführte, die dicht neben einer solchen Bismarcks hing. Nur um mir diese Freude zu machen, hatte er die Leute auf meine dichterische und wissenschaftliche Bedeutung aufmerksam gemacht, worauf sie sich natürlich beeilten, mich in ihre Sammlung hervorragender Persönlichkeiten aufzunehmen. Knochenmuß teilte mir noch mit, er brauche nur ein wenig für mich Reklame zu machen, und ich käme hier in Göttingen in Mode und würde an zwanzig oder dreißig Häusern gleichzeitig aufgehängt. Also, wenn ich irgendwie Lust dazu hätte, sollte ich es ihm nur sagen.

Ich fühlte, daß ich Knochenmuß wieder einmal über meinen Charakter belehren mußte. »Lust?« fragte ich. »Du scheinst danach anzunehmen, ich machte mir etwas besonderes daraus, wenn diese guten Leute meinen Namen an ihren Häusern anbringen. Nichts ist mir so gleichgültig! Aber immerhin, es wäre doch wichtig, wenn hier möglichst viele Tafeln mit meinem Namen angebracht würden. Die Stadt scheint mir bisher in der Auswahl ihrer großen Männer zu kritiklos gewesen zu sein. Ich habe ja hier Namen gelesen, Namen, neben denen zu hängen für mich keine Ehre ist. Ich will nicht deutlicher werden, aber du solltest doch dafür sorgen, daß man solche Mißstände beseitigt und alle Tafeln von Leuten, die in Göttingen nichts verloren haben, rücksichtslos entfernt.«

Knochenmuß versprach mir, in meinem Sinne zu wirken. Er sei mit einflußreichen Leuten bekannt, sagte er, und er würde dafür sorgen, daß mein Name –

»Halt!« unterbrach ich ihn. »Wenn du wirklich die Göttinger Oberbonzen kennst, warum sorgst du nicht, daß die Sache überhaupt auf eine andere Basis gebracht wird? Wozu immer nur Tafeln, warum keine Denkmäler? Ich bin nicht eitel, ich will mich nicht vordrängen – ihr könnt also ruhig eure Lieblingsberühmtheiten zuerst aushauen. Ich selbst werde mit fünf oder sechs Reiterstatuen von mir, die auf den Hauptplätzen aufgestellt werden, zufrieden sein. Meine Photographie will ich dem Bildhauer gerne gratis zusenden. Das übrige: Haltung, Pferd, Panzerkostüm und dergleichen überlasse ich seiner künstlerischen Phantasie.«

Ich hatte mit Feuer gesprochen, aber natürlich wollte Knochenmuß, dieser Esel, zuerst auf meine Idee nicht anbeißen. Er sagte, Gedenktafeln seien billiger, und die Göttinger ließen sich den Ruhm ihrer Stadt sowieso schon genug Geld kosten.

»Was redest du von Geld?« fuhr ich ihn an, denn ich kann solche philisterhafte Gesinnung nicht leiden. »Wenn Schiller oder ich oder Bismarck erst einmal hier in Bronce oder Marmor stehen – hast du denn eine Ahnung, was das für einen Fremdenzustrom gibt? Da kommen die Kosten zehnmal raus. Aber natürlich, da redest du von Geld! Und dich habe ich nun für einen Freund gehalten!«

Knochenmuß knickte zusammen, er gehört nicht zu den Leuten, die der nachdrücklichen Rede eines überlegenen Geistes widerstehen können. Ob aber heute, da ich diese Zeilen schreibe, mein Reiterstandbild auf dem Markt vor dem Rathaus schon steht, weiß ich nicht. Aber in Arbeit ist mindestens ein Dutzend, und ich kann nur jedem Leser dieses Buches empfehlen, einmal nach Göttingen zu reisen und sich die Sache anzusehen. Er wird es nicht bereuen und einen Eindruck fürs Leben davontragen.

Was mir außer den Gedenktafeln in Göttingen besonders aufgefallen ist, waren dann die Hunde und die Studenten. Seltsame Hunde liefen in dieser Abendstunde in den Straßen umher. Hunde, die wie Igel aussahen, Bernardinerhunde mit Dachsbeinen, gelbe Pudel mit Hahnenschwänzen. Besonders gefiel mir eine langhaarige, kleine Rasse, vollständig ohne Beine, mit spitzen Ohren und hochemporstehendem Schwanz. Sie sausten mit unheimlicher Geschwindigkeit über das Pflaster und fegten wie kleine Straßenkehrmaschinen den Schmutz zur Seite. Wie sie das fertig bekamen, weiß ich nicht. Aber ich schlug Knochenmuß vor, ihnen Räder unter den Bauch zu schnallen und sie als Rohrpost zu benutzen.

Aber die Hunde waren trotz aller Anstrengung doch lange nicht so komisch wie die Studenten, die in Herden und kleineren Rudeln durch die Straßen zogen und einen unbeschreiblichen Lärm machten. Knochenmuß aber sagte mir, das sei noch gar nichts, des Nachts um zwölf Uhr würde ich erst etwas erleben. Er teilte mir auch mit, daß noch kürzlich im Stadtrat der Antrag verhandelt sei, die Kirchhöfe weit hinaus vor die Stadt zu verlegen, da man immer wieder befürchtete, die Toten möchten eines Tages von dem Lärm erwachen. Aber die Toten haben sich wohl längst daran gewöhnt, grade so wie sich ja auch ein Lebender ans Hängen gewöhnt.

Knochenmuß führte mich jetzt in seine Kneipe, wo ein ganzes Dutzend von diesen Studenten um einen Tisch versammelt waren. Ich freute mich sehr, denn eine Gesellschaft wirklich komischer Menschen ist ja so selten. Sie schienen mir Überbleibsel von alten, sonst ausgestorbenen Völkern zu sein. Sie erzählten von Vandalen, Sueven und andern römischen Stämmen und sprachen ein fremdartiges Gemisch von Deutsch und Latein mit wilder schnarrender Betonung. Sie trugen Armbänder und bunten Zierrat, wie man es ja bei wilden Völkerschaften öfters findet (ob sie Ringe in den Nasen hatten, weiß ich nicht mehr bestimmt, ich will aber auch das Gegenteil nicht beschwören). Nach den furchtbaren Narben in ihren Gesichtern (Bißwunden?) müssen sie blutige Kämpfe untereinander ausfechten. Aufgefallen ist mir noch an ihnen, daß sie scharfriechende Parfüms außerordentlich liebten. Einige hatten sich ihre frisch verbundenen Gesichter mit einer Essenz besprengt, die sie Jodoform nannten. Ob sie das nur aus Eitelkeit taten, kann ich allerdings nicht sagen.

Das waren also Knochenmuß' Freunde, und wie schon gesagt, äußerlich und auf den ersten Augenblick schienen sie ja komisch genug zu sein, und ich konnte sie gut leiden, aber mit der Zeit machte sich dann doch bei mir eine immer stärker werdende Enttäuschung bemerkbar. Seltsam – ich, dessen geistige Trägheit einfach phänomenal ist, der ich mich stundenlang amüsiere, indem ich meinen eigenen Stumpfsinn beobachte, ich fühlte in ihrer Gesellschaft eine gewaltige, geistige Leere mich überkommen, die mich schließlich sogar zum Gähnen brachte. War es die geistvolle Unterhaltung, die sie führten? War es ihr ganzes Wesen, das sie ausstrahlten? Ich weiß es nicht. »Knochenmuß!« sagte ich zu meinem Freunde. »Ich werde so scheußlich müde!«

Aber er lachte gutmütig. »Das geht jedem so, der zum ersten Mal in unsere Gesellschaft kommt. Ich selbst bin anfangs in Göttingen fast im Stehen eingeschlafen, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt, und ich fühle mich sehr wohl. Ordentlich dick wird man dabei.«

Knochenmuß hatte gut reden. So lange konnte ich mich doch unmöglich in Göttingen aufhalten, bis ich in der Gesellschaft dieser Studenten nicht mehr einschlief. »Knochenmuß!« sagte ich. »Du bist ja ein Mediziner. Ich glaube, ich habe die Schlafkrankheit. Irgend ein Gefühl hat mir schon seit Jahren gesagt, daß ich einmal an dieser Krankheit sterben werde.«

»Unmöglich!« meinte Knochenmuß. »Warst du denn schon mal in Afrika?«

»Selbstverständlich, von mir stammt doch das Nilpferd ab im Zoologischen Garten in Hamburg, ich habe es mitgebracht.« Knochenmuß wunderte sich, aber er wagte nicht, mir zu widersprechen, ich hätte sonst noch ein Giraffe hinzugelogen.

»Schlafkrankheit?« fragten die Studenten erstaunt und kamen ganz von ihrem Gesprächsstoff ab, der Farbe einer Krawatte eines gewissen Herrn, über die sie schon seit zwei Stunden redeten. »Schlafkrankheit?«

Knochenmuß hielt eine medizinische Rede, die damit begann, daß der selige Hippokrates in solchen Fällen Sennesblätter zu verordnen pflegte. Die Sennesblätter waren schon früher Knochenmuß' Steckenpferd, wenn er sonst nichts zu sagen wußte, und er schob auch schon damals dem seligen Hippokrates die Schuld in die Schuhe. Aber es war ganz egal, was Hippokrates in diesem Falle verordnet hätte, denn schon kam bei mir die Krankheit zu einer plötzlichen Krisis.

Das Restaurant, in dem wir uns befanden, war nämlich in der ersten Etage, und ich saß mit dem Rücken gegen eine große Spiegelscheibe, die nach der Straße zeigte. Plötzlich, während ich von dem tausendjährigen Schlaf der Mumien träumte und die versteinerten Saurier beneidete, die ganze Weltepochen hindurchzuschlummern pflegen, kippte ich mit meinem Stuhl nach hinten über, fiel durch die große Scheibe und purzelte auf die Straße.

Als Knochenmuß und die Studenten, die noch immer über die Bedeutung des Wortes Schlafkrankheit nachgrübelten – einer von ihnen hatte vorhin konstatiert, er müsse das Wort irgendwo einmal in einer Zeitung gelesen haben – als sie unten auf der Straße ankamen, fanden sie mich immer noch auf dem Stuhle sitzend im festen Schlafe vor, denn ich war wie eine Katze auf meine Beine, auf die vier Stuhlbeine gefallen.

Knochenmuß wollte mich in einer Droschke nach Hause bringen, aber es war nicht nötig. Die frische Luft verjagte den Anfall von Schlafkrankheit, der mich in der Gesellschaft der Studenten naturgemäß überkommen hatte, vollständig. Ich rief nur immer: »Kellner, zahlen!«, denn ich wähnte mich noch in dem Lokal und von dem Absturz durch das Fenster hatte ich überhaupt nichts bemerkt.

Aber ich verabschiedete mich jetzt von meinen jungen Freunden, die schon wieder friedlich über die Farbe der Krawatte redeten, und ging mit Knochenmuß langsam zum Hotel, wobei uns weiter nichts passierte, als daß ein wildes Exemplar der Studentenrasse wie ein Eber auf uns losstürzte und sein Kriegsgeschrei: »Karte!!« brüllte. Dabei drückte er mir eine Visitenkarte in die Hand, und ich revanchierte mich, indem ich ihm eine Empfehlungskarte des Ochsenwirts von Niederpfaffenhausen verehrte, die ich zufällig noch in der Tasche hatte. Wahrscheinlich war diese Zeremonie ein geheimes Erkennungszeichen befreundeter Stämme, denn er schien befriedigt zu sein und torkelte weiter, um sich ein anderes Opfer zu suchen.

Als ich mich nachher von Knochenmuß verabschiedete, fragte er mich, wie mir seine Freunde gefallen hätten.

»Sehr gut,« sagte ich. »Aber weißt du, der selige Hippokrates würde bei ihnen doch Sennesblätter verordnet haben!«


 << zurück weiter >>