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XXVI.

Das Ideogramm – Sprachschwierigkeiten – Fünf Schreibweisen – Zusammengestellte Schriftzeichen – Das Japanische Kind

 

In einem fremden Lande, das man durchreist, fallen einem allerlei fremdartige Dinge auf, und man versucht, sich mit ihnen vertraut zu machen. In europäischen Ländern fühlt sich der kultivierte Reisende, sofern er nur ein wenig sprachengewandt ist, nie so völlig verloren zwischen allen ihm anfangs doch auch unbekannten Dingen, er kommt ihnen vielmehr verhältnismäßig rasch näher – je nach dem Grade seines Anpassungsvermögens. Im Osten hingegen ist das ganz anders. Zwischen der östlichen und westlichen Seele liegt ein beinahe unüberbrückbarer Abgrund, und viele unbekannte Dinge können den Europäer zur Verzweiflung treiben. Bereist er China und Japan, ohne chinesisch oder japanisch zu können, so wird er häufig ratlos dastehen. – Und was ihn so ratlos macht, ist das »Ideogramm!« in diesen beiden Sprachen. Es ist ein verzweiflungsvolles Gefühl, die Lettern, die überall um einen herum sichtbar sind, – in der aufgeschlagenen Zeitung, die der chinesische Kaufmann auf der Schwelle seines Ladens oder der japanische Ricksha-Mann an seinem Halteplatz liest, in den Straßen, in Aufschriften auf Reklameschildern usw. – nicht lesen zu können. Nie etwas lesen und infolgedessen nie beurteilen zu können, was ringsumher um einen geschrieben steht: das kann einen zur Verzweiflung treiben! Aber es wäre doch nicht gut möglich, diese schwierige Sprache und ihre Lettern, die »Ideogramme«, die einem geheimnisvoll entgegenstarren, für einen nur wenige Monate dauernden Aufenthalt in dem fernen Osten erst zu lernen.

Die Schriftzeichen in Japan sind von einem ganz anderen Typus als die in China. In China schienen sie mir eleganter und graziöser, wie sie so golden und bunt auf lange Aushängeschilder in den Geschäftsstraßen von Kanton, Hongkong und Shanghai aufgepinselt waren, machten auf mich den Eindruck goldener oder vielfarbiger Spinnen. Nun ist eine Spinne für mich ein sehr interessantes Tier, und ich vermag sie mit mindestens dem gleichen Interesse zu betrachten, wie ich in China ein chinesisches Ideogramm betrachtete: nur mit dem Unterschied, daß ich nach langem Anstarren von der Spinne etwas begreife: ihre Ausdauer, ihren Eifer, ihre Grausamkeit, ihre Mordlust, ihren Kampf ums Dasein … Allein vom chinesischen Ideogramm begriff ich nichts! Und in Japan erging es mir nicht besser: Ich begriff nichts, aber auch nichts vom japanischen Ideogramm, und das machte mich rasend! Nur eines glaubte ich feststellen zu können, wie ich schon sagte: Japanische Schriftzeichen erschienen mir nicht so elegant, nicht so graziös, nicht so zierlich wie die chinesischen. Sie kamen mir sehr stilisiert vor und erinnerten mich immer an kleine Häuschen, an kleine Pforten, an Tische, Stühle, Schränke, an stilisierten Hausrat, lauter Dinge, die in langen Reihen aneinander gefügt waren. Warum aber unterscheidet sich die japanische Schrift nun so sehr von der chinesischen, der sie doch, wie ich gehört hatte, ursprünglich entstammte?

Ich zog Erkundigungen ein und erfuhr alsbald, daß das, was wir Europäer mit den 25 Schriftzeichen unseres praktischen Alphabetes erreichen, im Orient völlig anders gehandhabt wird. Und zwar, wie mir schien, viel tiefsinniger und philosophischer, beinahe möchte ich sagen edler; aber dafür auch sozusagen unergründlicher für den Durchschnittsmenschen, der nicht »Schriftgelehrter« ist. Im Verlauf der Jahrhunderte – so alt sind ja die Schriftzeichen! – wird wohl auch der mittelmäßige Gebildete mit seinen Ideogrammen vertrauter geworden sein, und die alltäglichsten und einfachsten Dinge vermögen nun wohl alle zu lesen.

Wie überwältigend aber muß es auf den einfältigen Leser wirken, wenn er sich dessen bewußt wird, daß zweitausend Ideogramme – die anfangs offiziell als für die niedrigen Schulen »genügend« anerkannt wurden, sich als unzureichend erwiesen und daß nicht weniger als 4000 Ideogramme für die Tageszeitungen und für die Schüler höherer Institute benötigt wurden! Daß sechstausend Ideogramme für den modernen japanischen Romanschriftsteller, vielleicht sogar zehntausend für technische Buchwerke verlangt werden, und daß sechzig- bis achtzigtausend Ideogramme den beinahe mythischen Schatz chinesischer Philosophie und Poesie bilden, die unzähligen Eigennamen mit einbegriffen!! Der Europäer ist dann dankbar für sein »primitives« Alphabet und legt sich wohl manchmal die Frage vor, ob denn ein Japaner jemals überhaupt wirklich lesen könne? Ja, er kann es; vorausgesetzt, daß er einen gewissen Bildungsgrad erreicht hat und mindestens seine sechstausend Ideogramme beherrscht. Uns andern aber erscheint das schier unglaublich!

Man bedenke hierbei noch, daß neben der ideographischen Schrift, in der jedes Ideogramm ein Symbol ist, die Silbenschrift besteht, die mit lauter Zusammensetzungen arbeitet. Eine endlose Zahl von Begriffen mußten zu Anfang der Sprachbildung, vor Jahrhunderten, durch eine beschränkte Anzahl von Lauten und Lautverbindungen ausgedrückt werden, und diese Laute und Lautverbindungen erhielten lediglich durch verschiedenartige Aussprache auch immer wieder verschiedenartige Bedeutungen. Es wird also in der Schriftsprache oft vorkommen, daß ein japanisches Ideogramm lediglich aus der Bedeutung des ganzen Satzes erklärbar wird, und daß es dann erst vom Leser mit der erforderlichen Betonung richtig ausgesprochen werden kann. Diese Feinheiten wird ein europäischer Mund wohl kaum jemals zu beherrschen vermögen.

Schreiben kann man auf mindestens fünferlei Art. Da gibt es die feierlich hingepinselte »Siegelschrift«, die nur für Siegel und Stempel verwendet wird; dann die stilisierte viereckige Druckschrift, und es wollte mir scheinen, daß diese, die auch für Aufschriften in den Straßen gebraucht wird, immer an Schränkchen, Stühlchen, Tischchen, Türen und Häuser erinnert. Es gibt drittens eine Schrift für die einfacheren Leute, die man »Bedientenschrift« nennt, und es gibt viertens eine »laufende Schrift«, die in Schulbüchern und auch überall sonst Verwendung findet, wo Deutlichkeit erwünscht ist, ohne daß die Stilisierung der Druckschrift vonnöten wäre. Und dann gibt es endlich noch die Schrift, die »gleich dem wachsenden Gras« ist. Das ist die zierlichste Schrift, die Kalligraphie der Dichter, die sich die Freiheit nehmen, ihre poetischen Schriftzeichen selber zu malen – zierlich, wild und ungebunden wie Grashalme, die sich im Winde neigen. Daß all diese und noch mehrere verschiedene Schriftarten nicht einmal von dem Japaner mit einer guten Durchschnittsbildung gelesen werden können, bewies mir mein Führer Kawamoto, der Jura studiert und sich hierauf in seine besten Klassiker vertieft hat, und nun doch nicht imstande war, mir im Museum zu Nikko verschiedene Aufschriften an Nô-Masken und Kostümen zu erklären. Frank und frei gestand er das ein, und ich fand dieses »Manko« verzeihlich! Man rechnet es ja auch einem gebildeten Europäer nicht als Verbrechen an, wenn er nicht gleich imstande ist, Griechisch, Hebräisch oder Assyrisch zu entziffern …

Wie entstand, wie entsteht die japanische Sprache, und wie wird sie geschrieben? Nun: die moderne Sprache entsteht zweifellos auf sehr natürliche, oft naive, jedenfalls plastische und bildkräftige Art: ein Automobil ist ji-do-sha, das heißt »der Wagen, der sich von selber bewegt«. Ji = selbst; do = bewegen; sha = Wagen.) Feiner ist es, wenn man »ki-sha« sagt; das heißt der Wagen, der »durch Dampf« oder »Geist« in Bewegung gesetzt wird. (Sha = Wagen, Karre; ki = Dampf, Geist.)

Da, wo wir von einer Liquidation sprechen – und auch in diesem Wort ist ein gewisses »fließen« nicht zu verkennen, wenn auch nur im finanziellen Sinn – redet der Japaner von »Sen« – das heißt »Fontäne«, wenn er vom Münzwesen spricht. In vielen Fällen läßt sich das Ideogramm noch plastisch als primitives Symbol oder stilisiertes kleines Bild erkennen, doch in der Regel hat es sich im Laufe der Jahrhunderte zu stark verändert und ist so kompliziert geworden, daß man diese primitive plastische Form nicht mehr herausfindet. Ich möchte einmal beispielsmäßig nachweisen, daß sich ein Ideogramm bis zu seiner ursprünglichen Form verfolgen läßt, indem ich feststelle, wie das Ideogramm für »Ameise« entstanden ist: neben das Ideogramm, das ganz allgemein »Insekt« kennzeichnet, wurde das für »Schaf« sowie »ich« oder »mein« gesetzt, und diese beiden wurden mit »Einsicht«, »Gerechtigkeit« oder »Verstand« kombiniert. Diese Zusammenstellung, die unserem europäischen Empfinden wohl sehr fremdartig erscheint, gibt also in dem Ideogramm »Ameise« das Tier wieder, das als Insekt über Besitz verfügt, Einsicht oder Verstand hat, denn … »Schaf« plus »mein« ergibt den Begriff des »Besitzens«: ein »Besitzender« ist derjenige, der Schafe hat! Diese naiven Zusammenstellungen kommen in der japanischen Schrift sehr häufig vor. Die Katze wird durch zwei Schriftzeichen ideographiert: sie ist »der Hund, der miau sagt«. Der »Stotterer« hat einen »Mund«, in dem das Wort »innen« bleibt: »Mund« plus »innen« geben also das »Stottern« wieder. »Reis« plus »Feuer« ergibt »Herbst«: das heißt diejenige Periode, in der die Stoppelfelder, auf denen der Reis wuchs, in Brand gesteckt werden.

Das alles ist noch ziemlich deutlich; undeutlich wird es erst, wenn zum Beispiel die drei Ideogramme für »Netz« (mit zwei Fischen darin), »Wort« und »Messer« zu einem komplizierten Schriftzeichen verbunden werden … und dann »Strafe«, oder noch besser gesagt »Todesstrafe« bedeuten. In den drei Ideogrammen läßt sich dann vielleicht das Gefängnis (das Netz); die Verhandlung vor Gericht (das Wort) und die Verurteilung (das Messer) erkennen.

Drei nebeneinanderstehende Frauen ergeben das Ideogramm »verleumden«; eine Frau zwischen zwei Männern bedeutet »zur Last fallen«; ein Mann zwischen zwei Frauen bedeutet »foppen, anführen«. Die Ideogramme für »Mann« und »Frau« sind nicht besonders plastisch, mögen es aber zu Anfang, als die Letternschrift erfunden wurde, in höherem Maße gewesen sein. »Pferd« plus »Floh (Insekt mit vier Beinen) plus »sich bäumen« bildet ein Ideogramm, das in seiner Abstraktion bedeutet: »sich aufregen«. Ganz klar! Das durch einen vier- (oder mehr-)füßigen Floh gestochene Pferd, das sich aufbäumt, wird zweifellos aufgeregt und nervös sein!

Und so gestaltet sich für den Japaner das Lesen, das er in ältesten Zeiten von den Chinesen erlernte, folgendermaßen: Es kommt darauf an, mit dem Geist sehr rasch mehr oder weniger plastische, allmählich völlig unkenntlich gewordene Symbole richtig zu erfassen, umzudeuten und zu den abstraktesten Begriffen hinzuführen. Und die japanische Schrift ist zu einem zierlichen Hinpinseln oder flüchtigen Zeichnen von Schriftzeichen oder von Kombinationen solcher Schriftzeichen geworden, die einst und gesondert eine ganz andere Bedeutung hatten als jetzt in der Kombination – wobei der Leser oder Schreiber an die ursprüngliche Bedeutung der einzelnen Teile aber überhaupt nicht mehr denkt.

Die japanische Methode erscheint mir doch erheblich schwieriger als das Lesen oder Schreiben nach unserem Alphabet, und insbesondere bedaure ich das japanische Kind, die japanischen Schüler. Hinwiederum ist nicht zu vergessen, daß Vererbung und Gewöhnung viel bedeuten, und was uns Europäern als unüberwindliche Schwierigkeit erscheint, – viertausend oder sechstausend Ideogramme lernen zu müssen – das ist vermutlich für das japanische Kind so einfach und selbstverständlich, daß es schon damit anfängt, während es noch mit seinen Papierkarpfen und seinen zierlichen Püppchen spielt, und daß es dann dereinst, wenn es erwachsen ist, leichtlich seine sechzig- bis achtzigtausend Ideogramme beherrscht, falls es überhaupt irgendeine Neigung zur Beschäftigung mit klassischen, poetischen oder philosophischen Schriften hat.


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