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XVI.

Jahreszeiten in Japan – Allerlei Japanisches – Wilde Gänse – Die Geschichte vom reichen Grundbesitzer – Was ist Glück? – Die Kette der Erscheinungen

 

Es regnete in Strömen. Dies darf uns nicht Wunder nehmen, da ja jetzt eigentlich Regenzeit ist. Mein Führer Kawamoto macht ein paar Besorgungen für uns, und ich sitze allein in unserer Glasveranda und schaue in den Regen. Die Hakoneberge sind hinter den niederströmenden Wassermengen ganz umschleiert. Ich bin mißgestimmt. Ich brauche die Sonne. Und wahrscheinlich sehe ich nun während dieses Regenschauers Japan und die Japaner wieder ganz anders, als während ich in der Sonne mit Kawamoto plaudere.

Ich möchte wohl in fünfzig, hundert, hundertfünfzig Jahren einmal wissen, wie sich dieses Land, dieses Volk – eine der drei größten Weltmächte – entwickelt hat. Wird es Krieg mit Amerika führen? Wird es sich China unterwerfen? Und was wird dann das auseinandergeschlagene Europa anfangen? Freilich weiß ich nicht, ob die Japaner jemals stark genug sein werden, sich gegen den Westen aufzulehnen und sich die Welt zu eigen zu machen. Zwar beschäftigen sie sich in ihrem neidischen und eifersüchtigen Geiste wohl mit den materiellen Angelegenheiten Europas, doch im Grunde sind sie ungeschickt, nichts weniger als geschmeidig und viel zu hoffärtig, um nicht zu Fall zu kommen oder zum mindesten große Enttäuschungen zu erleben. Sie haben Heer und Flotte, und ich will gern annehmen, daß beide stark sind; sie haben in Tokio eine nach europäischem Vorbild gebildete Regierung; doch in andern Städten merkt man wenig von europäischem Muster, von Behörde, Ordnung und Sauberkeit. Es wäre vielleicht wünschenswert, daß sie einmal eine starke Demütigung erlitten, damit sie endlich zu richtiger Einschätzung ihrer selbst gelangten.

Es regnet in Strömen. Ich greife nach dem »Japanischen Anzeiger«, den mir Kawamoto jeden Tag bringt. Englische Artikel, hin und wieder auch interessante japanische Übersetzungen, die aus japanischen Zeitungen übernommen sind. O wie gut diese Japaner die Kunst der Reklame verstehen! Sie haben von ihrem zukünftigen Feinde Amerika gelernt, mit Anzeigen zu verblüffen. Ich lasse die Zeitung sinken. Es regnet immer noch – es ist ja auch Regenzeit! Ich möchte hier etwas von den Jahreszeiten in Japan berichten: Bitterkalter Frostwinter mit viel Schnee, der lange anhält (man vergleiche die japanischen Farbdrucke und Holzschnitte aller großen Meister!). Dann im April: Nachwinter, aber … Pflaumenbäume; dann beginnen die Pfirsiche und dann die Kirschen zag und zitternd zu blühen. Dann kommt der Mai, der sogenannte »Lenzmond«: tief herabhängender, stets regenschwerer Himmel; selten mal ein Stückchen Blau zu sehen … Dann der Juni: in den Städten schwül, in den Bergen allenfalls erträglich – da, wo ich jetzt bin. Im Juli und August sengende Hitze. September – sollen wir glauben, daß dieser Monat angenehm ist, und daß im Oktober die Eschenbäume in purpurner Blüte stehen, und daß die Chrysanthemen ungeheure Blüten in Treibhäusern bringen? Mir scheint, man müßte dann erst nach Japan kommen …

Ernsthaft gesprochen: der kalte Monat der Kirschblüte, der leidige Pseudo-Lenz ist wirklich nichts weniger als angenehm. Ich bin einmal von Brindisi nach Rom gereist. Es war Nacht, und der Mond schien. Ich konnte nicht schlafen und schaute aus dem Zuge hinaus, und kilometer- und aber kilometerweit sah ich in dieser Nacht eine feengleiche Landschaft voll dicht blühender Mandelbäume, die der Mond mit seinem Licht übergoß. Diese Schönheit werde ich nie vergessen, doch in keinem Reiseführer steht darüber ein Sterbenswörtchen, und keinem Italiener wird es einfallen, diese Schönheit seiner südlichen Landschaft noch besonders zu verhimmeln. Der Japaner hingegen ist ganz anders. Er empfindet in der Tat etwas für jedes einzelne blühende Kirschbäumchen. Stehen irgendwo gar ihrer fünf oder sechs beisammen, so macht er gern eine stundenlange Bahnfahrt, um sie zu sehen. Das ist sympathisch, hat aber auch seine Schattenseiten: er macht so viel von seinen Kirsch- oder anderen Bäumen her, daß dann der Reisende nur enttäuscht werden kann. Ich gestehe es unumwunden ein, daß mir von der italienischen Mandelblüte in jener Mondnacht ein entzückenderer Eindruck geblieben ist als von den blühenden Kirschbäumen in Japan …

Wie ich schon wiederholt sagte: sehr gemischte Eindrücke. Darf ich einmal ein anderes Urteil zitieren – und zwar das des Ludovic Naudeau? Ein paar Stellen aus seinem ziemlich scharfen, dabei doch immer verbindlich geschriebenem Buch:

»Le Japon est un peuple, qui pose devant l'univers.«

Das stimmt: Japan »posiert« mit seinen Kirschblüten, mit seiner mächtigen Flotte und seinem starken Heer, mit seiner den Europäern nachgeahmten Eleganz.

Und weiter: »Pour que le Japon étonne l'Occident, les sujets du Mikado sont prêts à se faire écharper.«

Wahr, absolut richtig. Dieser Ausspruch spricht dem Japaner ohne weiteres eine gewisse Heldhaftigkeit zu, aber der Grund …? »Der Westen soll in Erstaunen gesetzt werden.«

Wie freut es mich, daß ich nicht der einzige bin, der in die lyrischen Hymnen englischer Schwärmer nicht einzustimmen vermag; wie wohltuend berührt einen dieses feine, richtige französische Urteil, das den Nagel auf den Kopf trifft!

Glücklicherweise kommt in diesem Augenblick gerade Kawamoto mit seinem freundlichen Lächeln herein. Er liest in meinen Zügen.

»Sie sind wohl heute nicht sehr »buddhistisch« aufgelegt?« sagte er scherzend. »Mir scheint, daß Sie über allerhand Japanisches verstimmt sind.«

»Wenn es so wäre, Kawamoto,« antwortete ich, »so doch nur über dieses »moderne Japan«. Dafür kann ich mich nun einmal nicht begeistern. Aber seit Sie mein Führer sind, habe ich wenigstens in Japan schönere Dinge zu sehen bekommen als in der ersten Zeit, die ich hier war. Obendrein sind Sie nicht nur mein Führer und mein Lehrer, sondern auch mein »Geschichtenerzähler«. Also bitte, erzählen Sie etwas!«

Kawamoto lächelte, dann folgte er meiner Einladung, auf dem Stuhl neben meiner Chaiselongue Platz zu nehmen. Es würde ihm niemals einfallen, sich zu setzen, bevor ich ihn dazu aufgefordert hätte; wenngleich doch zwischen ihm und mir schon eine gewisse Intimität besteht.

»Was soll ich Ihnen denn erzählen?« fragte er. »Von unseren Ärzten? Es gibt in Japan drei Klassen von Ärzten: die gelehrtesten, die das Vaterland heilen könnten; die weniger gelehrten, die das Volk heilen – ich meine: besser machen könnten, und dann noch die anderen, die den Menschen von seinen Krankheiten kurieren können.«

»Kawamoto, ich war jetzt so lange krank und habe genug von den Ärzten. Reden wir von etwas anderem!«

Er deutete auf den breiten Wandschirm vor der Türe: mit Sepia sind auf hellem Grund wilde Gänse gemalt, die aus hohem Schilf auffliegen.

»Soll ich Ihnen etwas von den wilden Gänsen erzählen?«

»Ja, das ist viel schöner. Erzählen Sie mir von den wilden Gänsen.«

»Dann muß ich aber ziemlich weit ausholen, und Sie dürfen nicht ungeduldig werden. Übrigens ist noch kein einziger Buddhist mit Ungeduld und Nervosität in das Nirwana gekommen. Also: Es war einmal ein Daimyo mit Namen Mito Mitsukumi, der außerordentlich gescheit und gelehrt war, und der wünschte, daß seine Untertanen chinesische und japanische Klassiker lesen lernten. Er unternahm inkognito eine Reise durch Japan, auf der ihn ein einziger Samurai begleitete, und am ersten Abend betraten die beiden ein japanisches Gasthaus. Man setzte ihnen Saké und Reis und Yamamafisch vor, und sie aßen, bis der Wandschirm, der rings um sie herum stand, ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Er war von – oder vielleicht nur nach – Tannyu gemalt und stellte wilde Gänse dar, die auf einem Pinienbaum saßen. Die beiden sprachen miteinander darüber, wie denn der Maler wohl auf diese seltsame Zusammenstellung gekommen wäre; in der Regel pflegte man doch wilde Gänse mitten im Schilf und über das Wasser fliegend darzustellen. Als ein reisender Kaufmann dies hörte, der ebenfalls in dem kleinen Wirtshaus speiste, näherte er sich sehr höflich den beiden ihm Unbekannten und fragte, ob sie ihm gestatten wollten, ihm das Motiv des Malers zu erklären: Und er erzählte ihnen, daß im Nordosten Japans, in Oshu, in jedem Herbst große Schwärme wilder Gänse über das Nordmeer dahergeflogen kämen. Jede Gans halte stets in ihrem Schnabel einen Pinienzweig, den sie dazu nutzte, auf den Wogen auszuruhen. Dann wiegten sich die Gänse auf ihren Zweigen, wenn die See auch noch so stürmisch wäre. Hätten sie den Strand von Oshu erreicht, so ließen sie ihre Zweige zurück. Im kommenden Frühjahr zögen sie noch weiter nördlich nach der Insel Ezo und nähmen ihre Zweige mit. Allein viele Zweige blieben zurück, denn viele Gänse würden von Jägern geschossen. Dann beklagte das Volk das Los dieser getöteten Gänse, deren Seelen möglicherweise zu Buddhas bestimmt gewesen wären, und die Priester beteten für sie, und das Volk sammelte die zurückgelassenen Zweige, entzündete ein Feuer und wärmte ein großes japanisches Bad darauf. Und ein Bad in diesem heißen Wasser würde einem jeden angeboten, der es wollte; das wäre »Ganburo«, das Bad der wilden Gänse.

Also erzählte der Kaufmann dem Daimyo und dem Samurai. Den Rest der Erzählung will ich aber lieber nicht berichten: Der Kaufmann nämlich, der einst sehr reich gewesen, war anscheinend auf widerrechtliche Weise um sein ganzes Geld gebracht worden, und der große Daimyo, der ihm dankbar dafür war, daß er nun wußte, warum Tannyu wilde Gänse auf einen Pinienbaum gemalt hatte, vermochte es, durch seinen Einfluß …«

»Nein, Kawamoto, dies hat nichts mehr mit den wilden Gänsen zu tun, die möglicherweise künftige Buddhas waren. Gibt es denn nach buddhistischer Anschauung wirklich keinerlei Unglück und Elend in dieser Welt, Kawamoto?«

»Ein Landbesitzer kaufte einst ein schönes Pferd um wenig Geld. – ›Wie glücklich du bist!‹ – riefen seine Freunde aus. Er zuckte die Achseln. – ›Was ist Glück?‹ – erwiderte er. Am kommenden Tage ritt sein einziger Sohn das Pferd, das sehr wild war und ihn abwarf, so daß er Arme und Beine brach.

›Wie unglücklich bist du!‹ riefen nun die Freunde aus. Der Vater zuckte wieder die Achseln. ›Was ist Unglück?‹ fragte er.

Der Krieg brach aus. Viele junge Männer fielen. Nur der Sohn mit den gebrochenen Gliedern blieb bei seinem Vater.

›Wie glücklich du bist!‹ riefen seine Freunde jubelnd aus. Der Vater aber antwortete: ›Was ist Glück? In diesem Augenblick verlieren wir eine entscheidende Schlacht. Hätte mein Sohn nicht gebrochene Glieder, so würde vielleicht ein Schwertschlag von seiner Hand das Schlachtglück gewendet haben. Liebe Freunde, es gibt hier auf Erden weder Glück noch Unglück. Alles ist so, wie es sein muß: eine Kette miteinander verbundener Erscheinungen, die sich wieder in andere Erscheinungen auflösen. Wenn im Tempel die große Glocke geläutet wird, will das soviel bedeuten wie: Alles auf dieser Erde geht vorüber wie mein Klang, alles ist nur eine Erscheinung, die wieder verschwindet … bis die endliche Ruhe uns umfängt …‹«


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