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XXV.

Das Nô-Spiel vom Blinden Prinzen und der Prinzessin Rauhhaar – Jahrhunderte alte Kunst – Die Posse von den sechs Iizo-Bildnissen – Der Fuchs mit den neun Schweifen

 

In der Nähe eines buddhistischen Klosters, wo in sehr strenger Schule der Entbehrung, der Armut und des Fastens, junge Leute, die Priester werden wollen, nach wiederholter Prüfung aufgenommen und vorbereitet werden, befand sich der Saal oder die Halle, darin wir dem Nô-Spiel zusehen sollten. Es war ein etwas trüber Sommernachmittag; der Himmel leicht verschleiert; vielleicht gab das bessere Stimmung, mystischen, buddhistischen Spielen zuzuschauen, als wenn es ein strahlend heller Tag gewesen wäre. Denn im Buddhismus und allem, was mit seiner Lehre und seinem Gottesdienst zusammenhängt, lebt doch bei aller unendlichen Schönheit und Zartheit etwas Trauriges, zu mindestens etwas Wehmütiges. Das Bewußtsein der Nichtigkeit des irdischen Lebens lastet schwer auf den Seelen der buddhistischen Gläubigen. Das grausame Gesetz des Karma – wonach man während des irdischen Lebens für Missetaten und Sünden bestraft wird, die man in einem früheren Dasein begangen hat, dessen man sich nicht einmal entsinnen kann – erscheint mir äußerst ungerecht. Was kann denn ich dafür, daß ich dereinst in einem längst vergangenen und vergessenen Leben als König oder Bettler eine Sünde beging? Und warum muß ich dafür jetzt bestraft werden? Niemals indessen wird ein echter Buddhist durch so aufrührerische Gedanken beunruhigt.

Der Lehrer der Nô-Spieler empfing uns, als wir uns durch unseren Führer anmelden ließen, und führte uns in die Halle hinein, wo bereits hier und dort Besucher schweigend auf Polstern kauerten. Das Licht war gedämpft und zart. Es fiel mir auf, daß die Besucher – es waren ihrer nur eine kleine Zahl – gleichviel, ob sie europäische oder japanische Gewandung trugen, alle in religiös-erwartungsvoller Stimmung waren, wie in einem Tempel. Die Anwesenden stellten eine Auslese allerfeinster japanischer Geistigkeit dar: nur die sublimsten Geister interessieren sich überhaupt für das Nô-Spiel, dem sogar die Gelehrtesten unter ihnen oft nur schwer zu folgen vermögen. Die Spiele, die dort zur Aufführung gelangen, sind Jahrhunderte alt, und ihre Darstellung ist durch jahrhundertealte Tradition sozusagen geheiligt.

siehe Bildunterschrift

22. Geishas, einen altjapanischen Tanz aufführend

Einige der Besucher hatten sich die Texte mitgebracht, andere sogar auch die Musik. Unser Eintreten verursachte keinerlei Unruhe. Der Lehrer führte uns in eine Art improvisierter Loge, in der wir auf europäische Art sitzen konnten. Dann verschwand er, nachdem er sich mehrmals verneigt und uns durch den Führer zum Ausdruck gebracht hatte, wie das Interesse der Fremden ihn aufs tiefste rühre.

Schweigend warteten wir – ich glaube, sehr lange. Ich hatte mir aber vorgenommen, nicht ungeduldig zu werden, und versuchte, mich daher während dieser halben Stunde im Geist und in Gedanken vorzubereiten. Ich wollte diese stillen Menschen, die dort gleich mir wartend saßen oder in ihrem japanischen Text lasen und mit gerunzelten Brauen die höchst schwierige, äußerst gewählte und altertümliche dichterische Sprache zu begreifen versuchten, weder ansprechen noch beobachten.

siehe Bildunterschrift

23. Schwesterchen Brüderchen

Als Bühne diente ein großes viereckiges Podium, das von der Seite her bestiegen werden konnte. Den Hintergrund bildete ein einziger Pinienbaum, der zwischen einige Felsblöcke auf ein hölzernes Paneel gemalt war. Auf der Seite der Bühne saßen zweimal vier Personen am Boden: das war der Chor, der mit schleppender Melodie, die Handlung hin und wieder unterbrechend, Geschehenes erklären oder Kommendes voraussagen sollte. Im Vordergrunde, dem Publikum gegenüber, saß das »Orchester«: eine Flöte und zwei Tamburine!

siehe Bildunterschrift

24. Auf dem Feld

Es begann. Wir sollten das Spiel vom Blinden Prinzen sehen! – eines der beliebtesten und rührendsten Stücke. Der Prinz Semu Maru wird am Hofe des Königs, seines Vaters, erzogen. Allein seine Blindheit ist ein Unheil, das über die Seinen sowie das ganze Land Unglück bringt. Er wird ins Gebirge verbannt. Wir sehen ihn auftreten: dabei ist vorauszusetzen, daß er sich nun in seine Verbannung begibt. Zwei Diener tragen über seinem Kopfe eine Art von Baldachin – vielleicht soll es auch seine Sänfte vorstellen, die er verschmäht. Vor dem Antlitz trägt er eine Maske; aber außerordentlich rührend und schön wirkt seine ganze Erscheinung durch sein langsam abgemessenes Einherschreiten. Er sagt und singt von seinem Schmerz, seiner Blindheit, seiner Verbannung. Er erklimmt den einsamen Berggipfel. Obwohl er verstoßen ward, ist doch sein Gewand prächtig – so schreibt es die Nô-Spieltradition vor. Über der Blindenmaske trägt er eine spitze Prinzenmütze. Er geht wankenden Schrittes in sehr schleppendem Rhythmus; seine ganze Gestalt ist in ein langes, viereckiges Gewand gehüllt. Die herabhängenden Ärmel sind gleichfalls viereckig und sehr weit geschnitten. Seine Stimme klingt sehr hoch, oftmals schrill und zitternd; er redet sehr müde und langsam. Das alles ist seltsam, aufs äußerste verfeinert, ja: raffiniert, und man wundert sich nur darüber, daß diese Kunst schon Jahrhunderte alt sein soll. Es ist aber wirklich so. – Der Prinz gibt seinem Schmerz Ausdruck, aber er lehnt sich nicht gegen sein Geschick auf. Er hat nun den Berggipfel erreicht, auf dem er fortan beten wird, daß er von seiner Blindheit erlöst werde – wenn nicht in diesem, so doch in einem späteren Leben. Seitlich ist durch Bambusstämme und einige Blätterzweige seine Laubhütte angedeutet: nur ein verschwommener Umriß: Stilbühne! Das soll seine Einsiedlerhütte sein. Er setzt sich resigniert nieder und betet.

Seine Bewegungen, wie seine mit schriller Stimme ausgesprochene Klage ist von Flöte und Tamburinen begleitet worden. Nun singt der Chor einen Psalm. – Es klingt sehr hoch und schrill; ist das schön? Vielleicht offenbart es sich unserem europäischen Ohr nicht gleich als Schönheit. – Dennoch empfinde ich es als etwas sehr Besonderes, als einen Ausdruck höchster Kunst. Einfach ist es sicherlich nicht. In der japanischen Seele, die dieses Spiel nach Gebühr zu würdigen weiß, muß doch ein Verständnis für die antike Sprache – die ihr wohl im einzelnen manchmal unverständlich bleiben mag – sowie für die antike Poesie liegen, vielleicht auch namentlich für die buddhistische Weltanschauung, die sich ja hier im Symbol wiederfindet.

Wie der Blinde nun dort in seiner Laubhütte sitzt, als ein Eremit, rührt uns sein Anblick, obwohl er das Antlitz mit der Maske bedeckt hat.

Von der Seite her ist inzwischen die zweite Person des Spieles aufgetreten: die Schwester des Prinzen, Rauhhaar mit Namen; auch sie wurde verbannt, weil ihr struppiges Haar so wie ihres Bruders Blindheit Verderben über Hof und Stadt bringen sollte, und weil es an Hexen erinnerte. Ist es ein Zufall – oder nicht? – daß man diese verbannte Prinzessin auf dem Berggipfel ihrem Bruder begegnen läßt? Der Ort ihrer Verbannung war nicht der gleiche! Sie erkennt ihn; er erkennt ihre verzweiflungsvoll klagende Stimme. Er tritt aus der Hütte hinaus; sie umarmen sich: breite, langsame Bewegung. Ihre Verzweiflung ist grenzenlos. Übrigens wird die Prinzessin Rauhhaar von einem jungen Manne dargestellt, der ein reiches, schleppendes, dunkles Gewand und eine Maske trägt, aus der dunkles Haar zum Vorschein kommt. Der Blinde, der selber schon zur Resignation gelangt ist, tröstet die Schwester. Ihrer beider Verbannung bedeute eine Strafe, so meint er, aber keine ungerechte. Auch sei sie ihnen nicht wegen einer Missetat auferlegt, die sie in diesem Leben begangen hätten, sondern für ein sündiges Tun, dessen sie sich, ihnen selber unbekannt, sicherlich in einem früheren Dasein schuldig gemacht hätten. Er büßt gleich ihr. Er ermahnt sie, zu seiner eigenen Resignation zu gelangen und fromm sich dem Gesetz zu unterwerfen, das ihnen diese Strafe auferlegt hätte.

Der Prinzessin Schmerz legt sich allmählich bei dieser brüderlichen Ermahnung. Sie schreit nicht mehr, sie stöhnt nur noch wie ein trauriges Tier. Ihre Stimme klingt wie die einer leidenden Katze, während die zitternde Flöte sie begleitet und die Tamburine immer wieder den rhythmischen Schlag hören lassen. Dann nehmen die beiden Abschied. Sie will weiterziehen an den ihr bestimmten Verbannungsort. Sie schreitet immer und immer wieder über die Szene, dann verschwindet sie langsam hinter Pinienbaum und Felsen, und der Blinde, der im dunkelnden Abend in seiner Laubhütte allein geblieben ist, nimmt seine Biwa oder Flöte und singt, kündet seine Resignation in schleppenden Rezitativen, indes das Maskenhaupt ihm auf die Brust herabsinkt. Dies alles atmete tiefe Trauer und war dabei sehr rührend. Es dauerte sehr lange, aber das Publikum regte sich nicht, starrte wie gebannt. Dann war das Spiel zu Ende; alles blieb totenstill.

Auf ein so ernstes Spiel folgte eine Posse – aber keine derbe, vielmehr bewegte sich der Tradition gemäß auch dieses possenhafte Spiel auf hohem Kothurn. Es handelte von den sechs Iizos. Da bestellt ein Grundbesitzer sechs Iizobildnisse, damit seine Ländereien behütet würden. Ein Bildhauer hat den Auftrag erhalten, sie binnen kurzem zu liefern. Und er nimmt sich nun sechs Diener, die diese Bildnisse vorstellen sollen; sie sitzen zeitweilig in der vorgeschriebenen Haltung da, laufen dann aber immer wieder davon, bis der Betrogene endlich merkt, daß diese Iizo-Bildnisse aus menschlichem Fleisch und Bein bestehen …

Weiter sahen wir noch »Wind in den Pinien« und »Herbstregen«. Das sind die Namen zweier Schwestern, die beide den gleichen Pilger lieben. Nachdem er gegangen, sterben sie, und ihre Geister feiern tanzend ihre Auferstehung. War das ein buddhistisches Tendenzstück über himmlische und irdische Liebe?

Nach dem Spiel vom Blinden Prinzen konnte ich – müde und abgespannt – nicht länger aufmerksam zuschauen. Wieviele Stunden hatten wir auch bereits dagesessen! Aber das japanische Publikum rührte sich noch immer nicht, schien in frommer Andacht geradezu erstarrt zu sein.

Mein Führer meinte, daß wir wohl ruhig gehen könnten. Draußen war es Nacht. Wir sahen noch einmal den Dai-Buddha, den ungeheuren Buddha, dessen kolossales Bronzebildnis mich so wenig an Amida erinnerte. Auch jetzt, in dem dämmerigen Lichtschein einer klaren, blauen Sommernacht, durch die nur wenige bleiche Sterne leuchteten, war nichts Weiches in diesen Zügen. Für mich blieb es ein unnahbarer Buddha, und ich stand entsetzt vor dieser der Erde entstiegenen Ungerührtheit, vor diesem Götterantlitz, das zum Widerschein des stillen ewigen Traumes geworden war und für die Welt nie mehr erwachen sollte …

Und ich war traurig, fast zag gestimmt in dieser Nacht. Über den Hügeln war alles still und leer, die Felder breiteten sich im Scheine der bleichen Sterne weithin. Eine gespenstische Atmosphäre. Ich weiß nicht, warum ich an Füchse denken mußte. Ich habe ja schon von den Füchsen erzählt, die sich in die Körper der Menschen eindrängen, bis diese ganz von ihnen besessen sind. Nun erinnerte ich mich eines schönen schlafenden Fuchses, den Tetsuzan gemalt hat; er schläft – oder stellt sich wenigstens schlafend. Seine Schnauze ist spitz, das eine Auge hat etwas Lauerndes. Er schläft nicht – er will sich wohl in ein menschliches Opfer eindrängen. Ich dachte weiter an das Gemälde des Hiroshigè, aus dem eine furchtbare Erregung spricht: Füchse streifen durch die Nacht, ihrer viele, und sie sind weiß, alle ganz weiß wie Schemen; sie sind auf einem Feld zusammengekommen; es ist der reine Sabbath der Füchse. In der Ferne tauchen ein paar Bauernhöfe auf, in denen die unschuldigen Bedrohten schlafen. Ein bleicher Schimmer erhellt die Nacht, die Sterne leuchten nur matt, und die gespenstischen Füchse, die vielen weißen Füchse beraten und stöhnen und ächzen, und bald werden sie sich in einen Bauernhof einschleichen, durch das Dach und die geschlossenen Läden dringen, und die unschuldigen Schläfer zum Opfer erlesen, bis sie alle besessen sind.

Und nun erklang auch noch neben mir die Stimme meines Führers:

»Kennen Sie die Geschichte vom weißen Fuchs mit den neun Schweifen? Es war einmal eine böse chinesische Prinzessin; die war eine Hexe, und die stellte dem Kaiser von Japan nach, Tenjo oder Toba-no-In. Sie wollte ihn soweit bringen, bis er besessen wäre. Sie kam in verführerischer Frauengestalt; kaum daß die Spitze eines ihrer neun Schweife unter den weiten Gewändern sichtbar war.

Sie war wie die Sünde selber. Als Fuchs war sie weiß und als Frau war sie weiß. Allein ein Priester erkannte sie in dem heiligen Spiegel, der die Wahrheit widerspiegelt, und er sah sie in ihrer wahren Fuchsgestalt, weiß wie Schnee und mit den neun Schweifen, und seltsames Funkeln blitzte ihr aus den Fuchsaugen und glitzerte aus ihrem schneeweißen Fuchsfell. Da nannte der Priester die schöne Prinzessin eine böse Sünderin, einen Fuchs, hieß sie das Fuchsgespenst mit den neun Schweifen. Und die Fuchshexe entfloh nach dem Süden des Landes, nach Nasu, und verwandelte sich dort in einen Felsen, oder verbarg sich vielleicht in einer Felsenhöhle. Ein Pilger schlief während der Nacht neben dem Felsen, und der hörte aus dem Gestein eine Stimme seufzen und klagen: es war die Stimme der Hexe – und der Prinzessin – die eins geworden waren. Der fromme Pilger betete für ihre Seele und entzauberte sie – und sie verlor ihre Schweife und ihre schönes weißes Fell, und Buddha half ihr einzugehen in das Paradies.«


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