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XX.

Die »treibenden Wogen« – Interessante Einzelheiten – Wettessen – Pilgerscharen – Gemischte Eindrücke

 

Tokio beschert uns noch den »Tempel der siebenundvierzig Ro-nins«. Sind es historische Helden, diese Samurais, die gewissermaßen »auf den Wogen des Lebens treibenden Ritter«, die selber wie »Wogen« sind, weil herrenlos, willenlos und getrieben, und die sich in Scharen aufopferten, um ihren Daimyo zu retten, der nichts anderes verbrochen hatte, als daß er bei seinem Aufenthalt in Tokio einen Formfehler gegenüber dem Botschafter des Kaisers gemacht hatte! Ich weiß es nicht, wie weit sie »historisch beglaubigt« sind. Ich weiß aber, daß sich um sie viele Legenden gebildet haben – und daß auch eine sehr weitschweifige Tragödie von ihnen handelt, die beim japanischen Theaterpublikum außerordentlich beliebt ist. Diese siebenundvierzig sind ihrem Herrn getreu bis über den Tod hinaus, sie sind sozusagen die traditionellen Wächter der Treue. Ich möchte nicht all ihre Abenteuer berichten. Nur soviel: Die Daimyos waren zwar hochmütige Prinzen, aber im Grunde genommen doch keine »Höflinge«, sondern vielmehr Männer, die aus dem Kriege kamen und sich dann in ihren Schlössern festsetzten, wofern nicht gerade ein Shogùn sie zwang, mindestens während einer gewissen Zeit ihre Paläste in Yeddo (wie Tokio früher hieß) zu bewohnen, damit ihre Angehörigen ihm als Geiseln dienen könnten. Und nun ist eine endlos lange Geschichte im Schwange, wonach einer dieser Daimyos, Asano, durch einen von ihm nicht genügend bezahlten Ratgeber darüber falsch unterrichtet worden war, in welchem Ornat er den kaiserlichen Botschafter zu empfangen habe. So wurde der feierliche Empfang von dem Abgesandten des Mikado als Beleidigung empfunden: hatte er doch noch niemals einen so rustikalen, in jedem höfischen Zeremoniell unbewanderten Daimyo gesehen! Die Folge: Todfeindschaft zwischen dem Daimyo Asano und seinem habgierigen Ratgeber Kira, der ihn solcher »Achtlosigkeit« hatte schuldig werden lassen. Und der einfache Landedelmann fühlt, da er im Palast des Shogùn dem falschen Kira entgegentritt, wie ihm das Blut kocht, und verwundet ihn. Daß aber in diesem Palaste zwischen zwei Edelleuten Blut geflossen ist, wird wieder als schwere Missetat erachtet: Asanos Güter werden für verfallen erklärt. Er verkündet seinen siebenundvierzig treuen Gefolgsmannen, daß er sie nicht länger in seinen Diensten halten könne, und daß sie von nun an herrenlos wären wie die »treibenden Wogen« – herrenlos, denn Asano wird durch den Shogùn dazu gezwungen, »Harakiri« zu begehen.

Die »treibenden Wogen« wollen nun ihren Herrn rächen. Das Drama der Treue beginnt. Die Ro-nins halten ihren Plan geheim. Kira indessen zittert in Angst vor ihnen und sendet Späher aus, die ihm beruhigende Botschaft bringen: Die Ro-nins und ihr Oberster, Oishi, kaufen Grund und Boden, bauen ein großes Haus darauf und begeben sich im übrigen jede Nacht ins Yoshiwara, das »Stadtviertel der Freuden«, wo in den grünen Häusern schöne und gefällige Mädchen wohnen.

Kira atmet auf: die Ro-nins denken also nicht an Rache! Er täuscht sich aber! Heimlich suchen sie mittlerweile in Erfahrung zu bringen, wie Kiras Wohnung gebaut ist, in die sie einzudringen beabsichtigen. Einer der Ro-nins vermählt sich mit der Tochter des Baumeisters, der das Haus aufgerichtet hat, und bekommt so den Plan in die Hände. Während eines ganzen Jahres bereiten die siebenundvierzig ihren Plan vor – keiner vermutet so Ernstes hinter dem vorgetäuschten Leichtsinn in dem sie dahinleben. Endlich ist die entscheidende Nacht da, ist die Stunde gekommen. Sie dringen in Kiras Haus ein – sie finden sein »Futon« – das aus seidenen Matratzen hergestellte Lager – noch warm, er selber aber ist fort! Sie stechen hierhin und dorthin mit ihren langen Speeren. Endlich finden sie ihn in dem Kohlenverschlag und zerren ihn hervor. Der den Tod ihres Herrn verschuldet hat, soll nun selber »Harakiri« machen. Kira aber weigert sich; der Feigling versucht zu entfliehen – und nun schlägt Oishi ihm den Kopf ab. Und mit diesem Kopf auf dem Speer durchziehen die Ro-nins die Straßen von Yeddo. Das Volk strömt herzu, um sie zu sehen. Sie begeben sich in den Tempel, wo eine Gedenktafel mit Asanos Zeichen nach Shintoweise verehrt wird. Sie halten Kiras Kopf vor diese Tafel und jubeln laut darüber, daß ihr toter Herr nun gerächt ist.

Der Shogùn bewundert sie: aber sie haben einen seiner Höflinge ermordet, und darum wird ihnen befohlen, allen siebenundvierzig, »Harakiri« zu begehen. – Und sie gehorchen. Sie töten sich selbst.

Legende oder Geschichte? Wohl beides. Und nun liegen in dem buddhistischen Tempel zu Sengakuji diese siebenundvierzig Helden begraben, und ihre letzte Ruhestätte ist noch immer das Ziel der Pilgerfahrten von Hunderten von Japanern. Plötzlich wird man so mitten in Tokio von etwas gar Seltsamem, fast Unglaublichem gefesselt. Vor den einfachen Gräbern der Siebenundvierzig brennt wie ewiges Feuer der Weihrauch, – an jedem Tage, zu jeder Stunde, in jedem Augenblick wird er neu aufgeschüttet und frisch entzündet. Nicht von Priestern, sondern von den Tausenden von Besuchern. Diese Ruhestätte der siebenundvierzig Getreuen ist nur klein, und der Tempel macht einen etwas verwahrlosten Eindruck. Aber es liegt eine seltsame Stimmung darüber, die mit allem modernen japanischen Wesen nichts gemein hat.

In einem Saale sieht man auf Estraden, die bunt bemalten, hölzernen, sehr verstaubten, sehr verwahrlosten, keineswegs schönen Bildnisse dieser Ro-nins; sie frappieren durchweg durch ihre dramatische Haltung: einige sitzen, andere stehen, ein paar sind gerade im Begriff, sich den Säbel in den Leib zu stoßen …

Während ich mir dieses Panoptikum ansah, kam – um auch ja alle Stimmung wieder zunichte zu machen! – langsam hinter einem der Ro-nins eine große Ratte zum Vorschein, die dann gleich wieder hinter einem der anderen Bildnisse verschwand. Und das Ganze blieb mir ein seltsames Rätsel: draußen auf der Grabstätte dieser unaufhaltsame Weihrauch und hier drinnen diese staubigen, verwahrlosten Bilder und diese gräßliche Ratte!

Zufällig trafen wir noch ein paar gute Freunde in Tokio, als schon alles im Begriff war, die Sommerreise nach Chuzenji, in Karnitzawa oder sonst irgendwohin ins Gebirge anzutreten. Diese erzählten uns so obenhin mancherlei, was ich ebenso »en passant« wiedergeben möchte – als »Fragmente aus unseren Unterhaltungen« gewissermaßen:

Spionage? Alle Gesandtschaften und Konsulate in Tokio wissen, daß kein Brief einläuft oder abgeht, der nicht von irgendeinem ihrer Angestellten gelesen wird; die meisten davon sind Spione. Papierkörbe werden geleert und durchsucht; zerrissene Briefe werden zusammengesetzt und wieder geklebt. Aus diesem Grunde vertrauen die Gesandten und Botschafter wichtige Aktenstücke nur ihren Geheimkurieren an. Im übrigen aber beruhigt man sich damit, daß weniger wichtige Briefe und Aktenstücke, bevor man sie bekommt, mittels einer besonderen Art vorsichtiger Öffnung, für die sogar ein Spezialkursus eingerichtet ist, stets doch schon überall bekannt sind, wo man es für wichtig und notwendig erachtet …

Ferner: Keinem Kaiser oder Prinzen ist es gestattet, an einem anderen Ort zu sterben als in seinem Palast in Tokio. Als nun der letzte Kaiser auf einem seiner Landsitze verstarb, verheimlichte man seinen Tod, kleidete die Leiche in seine Uniform und überführte sie so auf der Bahn. Zwei Adjudanten stützten sie: und so hatte es den Anschein, als ob der Tote noch lebe. Im kaiserlichen Landauer wurde dann der Herrscher, allem Volke sichtbar, in den Palast zu Tokio gefahren – und dort erst durfte der schon seit zwei Tagen verschiedene Kaiser offiziell »sterben«.

Weiter: es gibt einen Peersklub, dessen Mitglieder hauptsächlich dem Hochadel angehören. Dieser Klub veranstaltet hin und wieder ein Wettessen …

Den Teilnehmern wird erst ein japanisches, dann ein chinesisches und endlich ein europäisches Mahl vorgesetzt. Sie müssen alle drei verzehren, und am Ende werden Preise verteilt. Ich weiß nicht mehr, welche Minister und hohe Beamte das letztemal den ersten und die weiteren Preise gewannen. Der Gewinner des ersten Preises verzehrte alle drei Mahlzeiten bis auf den letzten Bissen; die andern blieben schon bei der chinesischen oder mindestens bei der europäischen stecken. So etwas tun nun die gleichen Japaner, die sonst für die Teezeremonie – cha-no-yu – schwärmen, deren Töchter drei Jahre lang lernen müssen, wie man Blumen so ordnet, daß nicht ein Stiel etwa länger scheint als der andere, und die um die Neujahrszeit auf kaiserlichen Befehl Oden »dichten«. Wer kann das alles miteinander in Einklang bringen? Ich bleibe dabei, daß man eben nur »gemischte« Eindrücke von diesem Land und diesem Volk gewinnen kann …

Noch etwas, das mir typisch scheint: In den Sommermonaten besteigen Millionen von Pilgern nicht nur den Fuji, sondern auch unzählige andere »heilige Berge«. Die meisten Berge in Japan haben ihre besonderen Traditionen, und im Sommer ziehen Millionen von Pilgern durch das ganze Land, schrecken vor keiner Ermüdung zurück und suchen alle die heiligen Stätten auf. Das allein mutet einen schon an wie ein Märchen: wie ein ganzes Volk durch dieses bergreiche Land in Regen oder brennender Sonne auf Pilgerfahrt zieht, an Abgründen entlangschreitet, angeschwollene Flüsse durchwatet, um sich zu Altären und Grotten zu begeben, wo jahrhundertelang Einsiedler gegrübelt haben, und wo unsere Zeitgenossen nun über dieselben Wege schreiten, an denselben Felsen entlang wandeln wollen.

Und nun vergleiche man den japanischen »Business-man« mit diesen frommen Pilgern, die zum großen Teil dem Bauernstande, aber auch allen sonstigen Klassen der Bevölkerung angehören. Man lese »Japan«, die glänzend redigierte Monatsschrift der »Schiffahrts-Gesellschaft Tokio-Kisen-Kaisha«, die über Honolulu nach Amerika fährt; in englischer Sprache herausgegeben, außerordentlich gut geleitet, mit sehr interessanten, auf amtliches Material gestützten Artikeln über japanische Zustände, mit all den lachenden Reisegesichtern, die ihre blitzenden, von amerikanischen Zahnärzten gepflegten Zähne zeigen und rasch einmal eine Fahrt von Amerika nach Japan unternehmen. Eine glänzende Reklame für die japanischen Dampfer! So etwas verstehen sie aus dem FF – haben es von den Yankees gelernt und übertreffen jene schon beinahe! Und wenn man dann einen ihrer Dampfer benützt, das »anmutige Meer«, das »silberne Meer«, das »duftende Meer« oder »das Meer im Morgengrauen« – wir nehmen gar das »Frühlingsmeer« – wird man in Kobe oder Yokohama abgesetzt und dann, falls man keinen ausgezeichneten Führer hat, all den Beschwerlichkeiten preisgegeben, die unvermeidlich sind, weil kein Bahnbeamter oder Hoteldiener auch nur ein Wort Englisch spricht und jede Verständigung unsagbar erschwert ist …

Es gewinnt beinahe den Anschein, als hätten die Japaner es geradezu darauf abgesehen, so »gemischte Eindrücke« hervorzurufen. Es ist unmöglich, in ihre Seele zu schauen – ebenso unmöglich, wie sie die unsere ergründen können. Immer wieder bewundern wir die große, erhabene, jedoch jahrhundertealte östliche Kultur dieses Volkes. Immer wieder fühlen wir uns aber auch abgestoßen von den unsympathischen Dingen, von dem oberflächlich aufgepinselten europäischen Firnis oder dem uns verletzenden Hochmut, der gegen jede wahre, innere Kultur immun zu sein scheint. Oberflächlich aufgetragen, schlechthin Firnis, ist diese ganze europäische Einstellung, die nur dazu dient, mitmachen und sich als eine der drei großen Weltmächte bezeichnen zu können. Barbarische Unkultur: das Wettessen des Peersklub. Moderne Häßlichkeit: das Warenhaus. Gefühllosigkeit: das Herumschleppen des toten Kaisers. Dann aber plötzlich wieder eine schwärmerische Verehrung der alten Götter, rührend der Kult der Eltern und Vorfahren, eine Fülle feinsten Empfindens für poetische Reize, eine buddhistische Abkehr von allen Eitelkeiten der Welt, in der die Japaner selber doch gar zu gern eine der ersten »Rollen« spielen möchten …


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