Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In Krugs Apotheke

Als der berühmte Hibbs am nächsten Tage wieder die Apotheke des Mystikers, Altertumsforschers und Chemikers Krug aufsuchte, fand er den Verkaufsraum ganz in orientalischem Stil verändert. Und in dieser orientalischen Aufmachung saß bereits Mr. Levyson.

Ein verteufelter Hexenkessel, warf Levyson hin.

Es ist die sich immer wiederholende Tragik im Leben eines Diplomaten, daß er niemals ein Wissen oder Nichtwissen um eine Sache zeigen darf, und darum sagte Hibbs nur: Sie meinen die Lage im allgemeinen?

Nein, ich meine die besondere Lage in dieser Wirtshausangelegenheit, versetzte Levyson ungeduldig.

Ich verstehe, sagte Hibbs und ließ seine Stimme bis zu einer gewissen Feierlichkeit herabsinken, wie wenn er in alles eingeweiht wäre – das läßt sich aber alles machen, meinen Sie nicht auch?

Selbstverständlich kann alles gemacht werden, sagte der andere mit einem Ausdruck von Unbeirrbarkeit, aber es scheint Ihnen ebensowenig aufzufallen, wie es dem Lord aufgefallen ist, daß das neue Gesetzesamendement eine schwache Stelle hat: es ist allzu unauffällig durchgebracht worden. Man wollte die Opposition nicht auf dieses unpopuläre Gesetz stoßen, aber andererseits kann man auch nicht diejenigen darauf stoßen, die sich darnach richten sollen. Es ist für einen gewiegten Politiker leichter, ein Gesetz durchzupeitschen, als einen ganz gewöhnlichen Polizisten hinter ihm herzujagen.

Aber wie die Dinge liegen, sollte das nicht unmöglich sein, sagte Hibbs.

Es ist aber bei Gott so, sagte Levyson und zog aus seiner Tasche einen Pack Zeitungen heraus, kleine Lokalblätter, die nur Nachrichten und Zuschriften bringen – hören Sie nur hier: »Ein seltsamer Zwischenfall ereignete sich gestern vormittag in Poltwall in der Grafschaft Surrey. In einen dortigen Bäckerladen drang plötzlich ein Haufen von Leuten aus den untersten Klassen und verlangte Bier anstatt Brot, und sie begründeten ihr Verlangen mit dem Hinweis auf ein gewisses Schild, das vor dem Laden aufgerichtet stand, und das sie als ein Wirtsschild im Sinne des Gesetzes ansahen.« –

Oder was sagen Sie zu folgendem:

»In eine Apotheke zu Pimlico drang plötzlich ein großer Menschenhaufen ein und verlangte Bier. Der Apotheker kannte natürlich das Gesetz und den Zusatz, allein das Vorhandensein eines äußeren Schildes erweckte in der Bevölkerung ungesetzliche Vorstellungen und führte teilweise sogar die Polizei irre.« – Was sagen Sie dazu?

Ist es nicht klar, daß das fliegende Wirtshaus vor uns hergeflogen ist, wie Lügen es gewöhnlich machen?

Darauf entstand ein diplomatisches Schweigen, dann fragte der ratlose Levyson den noch immer zweifelnden Hibbs:

Welchen Reim machen Sie sich darauf?

Wer mit der Begrenztheit des menschlichen Hirns etwas vertraut ist, der wird sich leicht vorstellen können, daß Hibbs daraus nicht viel machen konnte. Indessen wurde seine Erklärung, oder vielmehr seine Unfähigkeit für Erklärungen ziemlich auffällig durch ein positives Zeugnis bewiesen. Denn in diesem Augenblicke kam Lord Ivywood in die Apotheke herein:

Guten Tag, meine Herren, grüßte Ivywood und sah die beiden an mit einem Blick, der sie ein wenig aus der Fassung brachte –

Guten Morgen, Mr. Krug, ich habe Ihnen hier einen berühmten Besuch mitgebracht – und damit stellte er den anmaßend lächelnden Misysra vor.

Das Gesicht des Propheten schien zu glänzen wie bei einem Fest: Unsere Sache macht Fortschritte, überall macht sie Fortschritte – haben Sie die schöne Rede des Lords gelesen?

Ich habe so viele ausgezeichnete Reden Sr. Lordschaft gelesen, sagte Hibbs untertänig, daß ich nicht weiß – –

Der Prophet meint, was ich über die Novelle zum Wahlgesetz sagte, bemerkte Ivywood nebenher. Es scheint mir nämlich das ABC der Staatskunst der Gegenwart zu sein, daß das große britische Reich im Orient als ein fest eingefügter Teil des Vereinigten Königreiches in der Heimat betrachtet werden muß. Sehen Sie hinein in unsere Universitäten: die muhammedanischen Studenten werden bald in der Mehrzahl sein. Sollen wir aber nun – und das sagte er viel leiser – unser Volksvertretungssystem weiter behalten oder eine andere Regierungsform wählen? Sie wissen, daß ich keinen Wert darauf lege, als ein Anhänger der Demokratie zu gelten, aber dennoch glaube ich, daß es zu Unzuträglichkeiten führen würde, wenn wir die Mitwirkung des Volkes bei der Gesetzgebung ganz ausschließen würden. Wenn wir aber den Muhammedanern das britische Volksvertretungssystem geben, so dürfen wir nicht denselben Fehler machen, den wir bei der militärischen Organisation in Indien gemacht haben, das würde gleicherweise zum Aufruhr verleiten. Wir können von ihnen nicht verlangen, ihre Wahlzettel mit drei Kreuzen zu unterzeichnen. Ob es gleich eine geringfügige Kleinigkeit ist, so würde es doch die Leute vor den Kopf stoßen. Deswegen habe ich einen Gesetzesvorschlag eingebracht, daß man ein Mittelding einführen solle zwischen Kreuz und Halbmond, ich glaube auch, daß es sich auch technisch viel leichter ausführen ließe und allgemeine Zustimmung finden würde.

Der kleine, leichter zu machende Bogen, fiel strahlend der alte Türke ein, der für das schwierige, umständliche, aus zwei Strichen bestehende Kreuz gesetzt werden muß, ist auch eine hygienische Vereinfachung. Denn Sie müssen wissen, und unsere sarazenischen, arabischen und türkischen Ärzte werden Ihnen das bestätigen, welche ja bessere Ärzte sind als die europäischen, daß alles aus dem Orient gekommen ist, daß die Heilmittel gegen die Schäden des Körpers aus dem Morgenlande stammen.

Das ist richtig, sagte Krug, mit einem wissenden Unterton, ich denke z. B. an das Areninpulver von Bhoze, der dafür zum Lord Helvally erhoben wurde, und der es zuerst an den Vögeln versuchte: es ist reiner Wüstensand. Und so ist es auch mit Canabis Indiensis, den unsere orientalischen Brüder viel verständlicher als Hanf bezeichnen.

Ja, der Halbmond ist hygienischer als das Kreuz, sagte Misysra und zog mit seiner braunen Hand Striche in die Luft wie ein Mesmerist. Der Halbmond ist wie eine Welle, wie ein Blatt, wie eine kleine gekrümmte Feder – und dabei zeichnete er die Kurven auf den orientalischen Draperien nach, die auf den Wunsch Lord Ivywoods in einigen Verkaufsläden angebracht waren – aber wenn Sie ein Kreuz machen, so müssen Sie zuerst mit der Hand so machen und dann so, und davon werden Sie müde und krank – dabei zog der Prophet Linien, die sich in der Unendlichkeit verloren.

Was ich sagen wollte, Mr. Krug, sagte Levyson mit seiner gewöhnlichen Höflichkeit, ich habe den Propheten zu Ihnen gebracht als die beste Autorität für die Sache, die Sie eben selbst erwähnt haben, ich meine den Genuß von Haschisch, ich bin mir nämlich noch nicht klar, ob dieses Genuß- und Reizmittel ebenso unter das allgemeine Verbot fallen soll wie die übrigen Volksgifte. Man hört von schrecklichen Rauschvorstellungen, von Wahnsinnserscheinungen, von Assassinen und dem Alten der Berge. Aber man muß andererseits auch in Betracht ziehen, daß viel Übertreibung und Vernichtungsfanatismus vonseiten der Christen verbreitet wird über die Gewohnheiten der orientalischen Völker. Sind Sie der Meinung, daß der Genuß von Haschisch in so hohem Grade schädlich ist? fragte er zuerst den Propheten.

Man sieht zuerst Moscheen, viele Moscheen und immer mehr und größere Moscheen, gestand der Seher in einer Verzückung, und diese Moscheen reichen hoch bis an den Mond, und man hört dann eine furchtbare Stimme von der Spitze der Moschee herab wie das Rufen des Muezzin. Dann sieht man Weiber, viele, viele Weiber, viel mehr Weiber, als Sie je gesehen haben. Dann fühlt man sich schweben auf einem rosafarbenen Meere unter vielen, vielen Weibern, und dann schlafen Sie fest ein. Ich habe es nur ein einziges Mal gekostet, schloß der Prophet mit Milde auf seinem Gesicht.

Und was denken Sie über den Haschisch, Mr. Krug? fragte Ivywood nachdenklich.

Ich denke, es ist vorne Hanf und hinten Hanf, antwortete der Apotheker.

Ich glaube, ich habe nicht recht verstanden, sagte Ivywood fragend.

Ich meine, zuerst steckt man Hanf in den Hals, dann begeht man im Wahnsinn einen Mord und bekommt dafür Hanf um den Hals, sagte einfach der Apotheker.

Das ist wahr, sagte Ivywood sehr nachdenklich, die ganze Sache ist ja aber auch nicht echt türkischer Herkunft, man ist dort ja stets gegen die Assassinen. Und natürlich sind die Erfahrungen, die man bei der Weltausstellung in St. Louis gemacht hat, keine große Empfehlung. – – Sie verkaufen es also auch nicht besonders häufig? fragte der Lord nach einer kleinen Pause.

Nein, ich verkaufe es nicht vorzugsweise, antwortete Krug, indem er den Lord fest ansah.

In diesem Augenblicke beteiligte sich eine ganz fremde Stimme an der Unterhaltung, wenn sie auch noch eine Weile unverständlich blieb. Der Sprecher, der jetzt erschien und offenbar zu der mächtigen Zunft der Straßenpflasterer gehörte, hatte sich an den buntgekleideten Orientalen gewandt und ihn anscheinend für eine kleine Kellnerin gehalten:

Na, kleines Mädel, hast ein hübsches Kleid, hoffentlich schmeckt dein Schnaps auch so gut, gib einen Bittern.

Ivywood sah auf den Mann mit einem steinernen Ausdruck im Gesicht, wodurch er sehr bedeutend wirkte. Aber Levyson konnte sich zu dieser Höhe der Selbstversteinerung nicht emporschwingen. In seiner Seele tauchte sofort eine Erinnerung auf. Er sah zwei andere hinter dem Straßenpflasterer stehen, von denen der eine anscheinend den ersten zurückzuhalten suchte. Das alles schien Levyson Unheil anzukündigen. Und er erhob seine Augen und sah etwas, was alle seine Befürchtungen übertraf. Durch das Glas des Schaufensters sah er eine dichtgedrängte Menschenmenge, die in der Dunkelheit durch die rötliche Beleuchtung in der Apotheke etwas Gespenstisches hatte. Die ersten standen ganz nahe am Fenster und drückten ihre Nasen gegen die Scheiben. Dann sah Levyson auch etwas Weißes hochaufgerichtet stehen wie eine Tafel, aber er konnte nicht lesen, was auf der Tafel stand, er brauchte es auch nicht zu lesen.

Wer Lord Ivywood in solchen Augenblicken sah, verstand sogleich, warum er bedeutend wirkte, trotz seines eingefrorenen Gesichtes und trotz seiner phantastischen Theorien. Er besaß all die negative Vornehmheit, deren ein Mann nur immer fähig ist. Im Gegensatze zu Nelson und den übrigen Heroen der Vergangenheit kannte er keine Furcht. Er konnte niemals überrascht werden. Er blieb kalt und gesammelt, wenn alle andern Menschen Kopf und Nerven verloren hatten.

Ich will Ihnen nicht vorenthalten, sagte der Lord, daß ich dies erwartet habe. Ich will Ihnen auch nicht weiter vorenthalten, daß ich die Aufmerksamkeit Mr. Krugs so lange in Anspruch genommen habe, um Sie hier zu erwarten. Ich bitte deshalb Mr. Krug, es zu ermöglichen, daß sich diese Leute in möglichst großer Zahl in diesem Raume hier versammeln. Ich hatte die Absicht, so bald wie möglich und so vielen wie möglich die Mitteilung zu machen von einer Gesetzesänderung, die dem Wahnsinn mit dem fliegenden Wirtshause ein für allemal ein Ende machen wird. Treten Sie näher, bitte, damit Sie alles hören können.

Danke sehr, sagte ein Mann, der nach gewissen äußeren Anzeichen augenscheinlich mit Autobussen zu tun hatte.

Danke Ihnen sehr, sagte ein kleiner beweglicher Uhrmacher, der unmittelbar darnach folgte.

Danke, brummte nach diesem ein mürrisch aussehender Buchhalter.

Ich danke auch, sagte Dorian Wimpole, der unvermutet in dieser Prozession erschien mit einem großen Käse unter dem Arm.

Sehr verbunden, grüßte Patrick Dalroy, der mit einem Tönnchen Rum folgte.

Meinen ergebensten Dank, brachte Humphrey Pump vor, der dann in den Apothekerladen eintrat mit dem Schild zum Alten Schiff.

Die Menge, die nachdrängte, fühlte sich augenscheinlich nicht mehr verpflichtet, für die Erlaubnis einzutreten noch besonders zu danken. Der Laden füllte sich bis auf den letzten Platz, aber dennoch schien dem staunenden Levyson die Menge, die durch das Fenster hereinsah, nicht abzunehmen.

Meine Herren, fing Ivywood an, aller Scherz hat schließlich eine Grenze, aber dieser ist über alle Grenzen hinausgegangen. Es würde mir vielleicht unmöglich geworden sein, die öffentliche Meinung aufzuklären und dem gesetzestreuen Teile der Bevölkerung den wirklichen Stand der Gesetzgebung mitzuteilen, wenn ich nicht, wie jetzt, in die Lage versetzt wäre, an einer so wichtigen Stelle zu einer so zahlreichen Zuhörerschaft zu sprechen. Es kann im Augenblick nicht meine Aufgabe sein, Ihnen mitzuteilen, was ich über den Scherz denke, den Kapitän Dalroy und seine Freunde sich mit Ihnen während der letzten Wochen zu spielen erlaubt haben. Aber selbst Kapitän Dalroy wird Ihnen bestätigen können, daß ich in diesem Augenblicke an diesem Scherz keinen Anteil habe.

So wahr ich hier stehe, sagte Dalroy mit einem ungewöhnlichen, fast befremdlichen Ernst, und setzte dann nach einem tiefen Atemholen hinzu: Und Sie sagten auch ganz richtig, daß mein Scherz zu einem Ende gekommen ist.

Dieses Holzschild, sagte Ivywood und zeigte auf das blaue Schiff, können Sie zu Brennholz zerhacken, es wird anständige Bürger nicht länger mehr nasführen. Nehmen Sie es sich jetzt gut zu Herzen, oder Sie werden es im Gefängnis lernen. Wir leben jetzt unter einem neuen Gesetz, und unter diesem neuen Gesetz hat das Schild keine Bedeutung mehr. Unter diesem Aushängeschild können Sie keinen Alkohol mehr kaufen und verkaufen, es gibt Ihnen nicht mehr Recht als ein Laternenpfahl.

Wollen Sie vielleicht sagen, brachte der Straßenpflasterer heraus, und man sah auf seinem Gesicht etwas heraufkriechen wie eine furchtbare Ahnung, wollen Sie etwa sagen, daß ich keinen Bittern krieg?

Da nimm einen Rum, sagte Dalroy beschwichtigend.

Kapitän Dalroy, sagte Ivywood scharf, wenn Sie diesem Manne einen Tropfen aus Ihrem Tönnchen geben, dann verstoßen Sie gegen das Gesetz, und Sie schlafen heute Nacht schon im Gefängnis.

Sind Sie dessen so ganz sicher? fragte Dalroy mit einer zweifelhaften Ängstlichkeit, es ist doch wohl möglich, daß sie mich nicht erwischen?

Seien Sie ganz unbesorgt, ich habe der Polizei draußen die erforderlichen Instruktionen gegeben, diese Geschichte muß heute ein Ende haben.

Wenn ich den Polizisten finde, der mir gesagt hat, daß ich hier einen Schluck kriegen kann, so treibe ich ihm seinen Helm ein, daß er bis ins Genick rutscht, schrie der Straßenpflasterer, warum kriegt das Volk nicht zu wissen, was Gesetz ist und was nicht?

Sie haben kein Recht, das Gesetz so zu ändern, daß es kein Mensch mehr versteht, sagte der Uhrmacher, es ist ein ganz verfluchtes Gesetz.

Wie heißt denn das neue Gesetz? fragte der Buchhalter.

Der Wortlaut des kürzlich neu erlassenen Gesetzes ist wie folgt, sagte Lord Ivywood mit der kalten Höflichkeit eines Eroberers: Alkohol kann nur an einer Stelle verkauft werden, wo er an den drei vorhergehenden Tagen gelagert hat, das Vorhandensein eines Wirtsschildes ist dabei gänzlich irrelevant. Ich glaube nicht, Kapitän Dalroy, daß Ihr Rumfaß drei Tage zuvor bereits in diesem Laden gewesen ist, und ich befehle Ihnen, das Fäßchen zu verschließen und fortzustellen.

Gut, sagte Patrick mit einem unschuldigen Ausdruck im Gesicht und sah dabei wohlwollend über die Menge, dann wird es das beste sein, ich warte die drei Tage hier in dieser Apotheke ab, und in der Zwischenzeit lernen wir uns dann alle besser kennen.

Sie werden das nicht tun, sagte der Lord mit plötzlicher Wut.

Nun, dann werde ich eben wiederkommen, wenn ich Lust habe, sagte Dalroy müde, ich will jetzt nur noch einen Abschiedsschluck nehmen und dann heim zu Bett gehen wie ein guter kleiner Junge.

Die Polizei wird Sie verhaften, drohte Ivywood.

Na, Sie scheinen aber heute mit nichts zufrieden zu sein, sagte Dalroy überrascht, ich muß Ihnen aber doch danken für die so eingehende Erklärung des neuen Gesetzes. Also, wenn er drei Tage gelagert hat – ich werde es mir merken – Sie haben nur eine einzige kleine Lücke übersehen: die Polizei wird mich nämlich nicht verhaften.

Warum nicht? fragte der Lord aufgeregt.

Weil ich, schrie Dalroy wie ein Posaunensolo, bevor das Orchester einsetzen soll – weil ich das Gesetz nicht verletzt habe, weil die letzten drei Tage hier Alkohol gelagert hat – vielleicht länger als 3 Monate, weil dies hier ein ganz gewöhnlicher Schnapsausschank ist, mein lieber Philipp Ivywood, weil der Mann hinter dem Ladentisch nur davon lebt, daß er Alkohol an all die Feiglinge und Heuchler verkauft, wenn sie nur reich genug sind, einen schuftigen Arzt zu bestechen, daß er Ihnen Alkohol verschreibt. –

Und indem er auf das kleine Medizinglas auf dem Tische neben Hibbs und Levyson zeigte, fragte er: Was glauben Sie, was jener dort trinkt?

Hibbs wollte das Glas schnell verstecken, aber der unnachsichtige Uhrmacher hatte es schneller erwischt und durch seine Gurgel laufen lassen.

Skotch Whisky ist es, sagte er und zerschmetterte das Glas auf dem Fußboden zu Atomen.

Recht gemacht, brüllte der Straßenpflasterer und erwischte mit jeder Hand eine Medizinflasche, ich glaube, wir können uns jetzt einen kleinen Spaß machen. Was ist in jener dicken roten Pulle dort – ich glaube, Portwein – Hol sie mal runter.

Das ist eine Lüge, rief Ivywood mit stählerner Stimme.

Es ist die Wahrheit, antwortete Krug und sah mit unbeweglicher Ruhe auf den Lord. Glauben Sie vielleicht, Sie haben die Welt gemacht und Sie können jeden Tag daran herumpfuschen?

Die Welt war nicht gut gemacht, und ich will sie besser machen, sagte Philipp Ivywood dumpf.

Kaum hatte er das gesagt, so brach die große Fensterscheibe nach innen, und auf den Scheiben glitzerte der Mondschein.

Und durch das offene Fenster kam ein ungeheuerliches Stimmengewirr, das schrecklicher klang als ein Zusammenprall der Elemente. Es war wie ein gequälter Menschheitsschrei. Und alle Scheiben der ganzen vornehmen Straße brachen unter dem gleichen Schrei zusammen. Ströme von goldenen und purpurnen Weinen flossen über das Pflaster.

Hinaus ins Freie! schrie Dalroy und drängte die Menge mit dem Schild hinaus, während Dorian und Humphrey und Quudel folgten. –

Gute Nacht, Lord, das nächste Mal – dann wirds ein anderer Fall – dann kommt der ganze Troß zu dir hinaus aufs Schloß – Kommt Freunde, laßt das Zusammenschlagen jetzt – wir müssen uns jetzt auf den Weg machen.

Wohin solls gehen? fragte der Straßenpflasterer.

Wir gehen jetzt zum Parlament, sagte der Kapitän und stellte sich an die Spitze des Zuges.

Als der Haufe um zwei oder drei Straßenecken war, sah Dorian Wimpole, der am Schlusse des Zuges ging, wieder den mächtigen Turm von St. Stephan mit seinem großen goldenen Auge, das er schon in jener Nacht gesehen hatte, in welcher ihn der Schlaf und ein Freund betrogen hatte. Und an der Spitze des Zuges konnte er das Schild sehen mit dem Schiff und dem Kreuz und konnte eine Stimme hören, die sang:

Wir wollen Männer sein – wer geht nach Hause?
Pauken und Posaunen schallen – wer geht nach Hause?
Die Abschiedsstunde schlägt – wer geht nach Hause?
Der Tag der Freiheit ruft – wer geht nach Hause?

Jener Geist, der im Sturme brennt, im Adlerflug der Freiheit, der überall in einer Menge die plötzlich geborene Massenseele ist, war über London herabgestiegen, nachdem er lange vorher in den übrigen Hauptstädten das Licht angezündet hatte. Die unmittelbare Veranlassung kann gemacht oder eine symbolische Handlung oder geradezu lustig sein: irgendeiner schießt eine Pistole ab oder zeigt sich in einem etwas ungewöhnlichen Äußeren oder hält mit übergeschnappter Stimme eine Rede, oder irgendeiner nimmt irgendwo den Hut ab – oder einer nimmt seinen Hut nicht ab – und noch bevor der Tag zu Ende geht, hat die Plünderung der Stadt begonnen.

Nachdem die immer mehr anschwellende Menge alle Fenster der Krugschen Apotheke eingeschlagen hatte, zog sie nach allen Plätzen, welche für die Menge eine beständige Herausforderung sind. Zuerst nach dem Parlament, aber es war gerade keine Sitzung, aber es waren auch gerade keine faulen Eier da, um es zu bewerfen. Dann nach dem Tower, wo die Menge sich schon benahm wie Vettern vom Lande, die sich die Sehenswürdigkeiten ansehen wollen, sie nahmen ein paar überflüssige Hellebarden mit, die sie indes auch bald wieder wegwarfen, da sie für die heutigen Menschen ganz zwecklos sind. Dann nahmen sie den Weg nach dem Strande – aus der Stadt heraus. Warum sie das taten, könnten vielleicht die Soziologen in den Kohlenkellern ihres Denkens erklären, aber es fehlt ihnen auch an inneren und äußeren Vorbedingungen, und darum sind ihre Erklärungen gänzlich unbefriedigend. Ohne Zweifel hatte die ganz gewöhnliche Betrunkenheit vieler auch etwas dabei zu tun, die den Äskulap mit dem Bacchus verwechselten und die Straßen entlang brüllten, aber die meisten von diesen waren vielleicht schon zwanzigmal und stärker betrunken gewesen, ohne daß sie an Aufruhr gedacht hätten – kurz es wird sich über die Beweggründe wohl niemals ein aufhellendes Licht breiten lassen. Die nächstliegende Erklärung ist wohl die, daß die Menge eine wilde Wut erfaßt hatte über die Gemeinheit der mächtigen Beschützer von Krugs Apotheke, wo diese stets Alkohol bekommen konnten, der für die weniger glücklichen Sterblichen unerreichbar blieb.

Und wohin gehen wir jetzt? fragte Wimpole den Kapitän.

Ich darf meine Vettern vom Lande nicht langweilen, ich werde ihnen nun etwas sehr Hübsches zeigen, rief Dalroy mit selbstbewußtem Stolz, ich will ihnen jetzt den schönsten Landsitz von ganz England zeigen, wir marschieren jetzt nach Ivywood, nicht weit von der großen Seestadt Pebblewick.

Und nach kurzem Schweigen fuhr er zu Pump gewendet fort, indem er aus einem braunen Papier etwas herauswickelte, das wie ein Musikinstrument aussah: Wir werden dort ein Ständchen bringen!



 << zurück weiter >>