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Das Schild des alten Schiffes

Nur über wenige Menschenkinder hat das Schicksal den Namen Pump gestreut, und unter diesen wenigen sind noch weniger Eltern so wahnsinnig gewesen, ihr Kind Humphrey zu nennen. Diese äußerste Grenze des Unverstandes haben Vater und Mutter des Gastwirts zum Alten Schiff erreicht, so daß ihr Junge zuguterletzt von ihnen und seinen Freunden Hump, von einem alten Türken mit einem grünen Regenschirm Pump genannt wurde. All das, oder wenigstens alles, was er zu hören bekam, ertrug Humphrey Pump mit einem sauren Lächeln; denn er besaß ein reichliches Maß von Gleichmut.

Humphrey Pump stand vor seinem Wirtshaus, das vor dem Meere nur durch eine Reihe von verkrüppelten, vom Seewind verrenkten und versalzenen Apfelbäumen geschützt wurde. Davor war ein hoch abgedämmter Rasenplatz, von dem das übrige Land schroff abfiel; ein steiler, sich überstürzender Weg lief hinein in das Geheimnis und die Dunkelheit eines Waldes. Auf dem Rasenplatze stand aufgerichtet ein Wirtsschild; an einer weißangestrichenen Stange war ein weißangestrichenes Brett angenagelt, worauf ein übertrieben absonderliches blaues Schiff gemalt war wie ein Kind eins zeichnen würde – und Pump hatte in seinem Patriotismus noch ein unverhältnismäßig großes Sankt Georgskreuz dazu gemalt.

Mister Humphrey Pump war mittelgroß, hatte sehr breite Schultern und steckte in einer Art Jagdanzug mit Gamaschen. Er war gerade mit dem Reinigen und Laden einer doppelläufigen Flinte beschäftigt, eines kurzen aber kräftig gebauten Schießprügels eigener Erfindung oder doch wenigstens eigener Verbesserung. Und obgleich diese Flinte, verglichen mit anderen Gewehren neuerer Konstruktion, seltsam genug aussah, so konnte man sie doch nicht gänzlich veraltet nennen, denn Pump war einer von jenen vielgewandten Menschen, welche hundert Hände zu haben scheinen wie Briareus: er machte fast alles selber, und alles in seinem Hause sah um einen Schatten anders aus als dieselben Dinge in anderer Leute Häuser. Er war so verschlagen wie Pan oder ein Wilddieb und kannte alles, was wie ein Vogel, Fisch, Baum oder Strauch aussah. Sein Hirn war ausgefüllt von Erinnerungen und Überlieferungen, und er hatte eine seltsame Art des Schwatzens: so voller Anspielungen, daß es beinahe wie Verschwiegenheit aussah. Er setzt immer voraus, ein jeder kenne die Landschaft und die Geschichten seiner engsten Umgebung so genau wie er selbst, und er konnte die geheimnisvollsten und erstaunlichsten Dinge erzählen, ohne einen Muskel seines Gesichtes zu verändern, das aus knorrigem Holze gehackt zu sein schien. Seine braunen Haare endigten in zwei kümmerliche Backenbärtchen, die ihm ein leichtlich sportmäßiges Aussehen gaben, wenn auch das eines Sportsmannes älteren Stils. Sein Lächeln schien immer ein wenig schief und sauer, seine braunen Augen waren gütig und mild. Für gewöhnlich waren seine Bewegungen schnell, indes verrieten sie ziemlich viel Überlegung. Aber in diesem Augenblicke legte er seine Flinte etwas heftig auf den Tisch und machte einige Schritte vorwärts, klatschte den Staub von seinen Händen mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit, die sogar eine gewisse Ehrerbietung im Unterton hatte. Hinter den elfengrünen Apfelbäumen und abgehoben gegen das Meer war die helle Gestalt einer Frau in einem kupferfarbenen Kleide und mit einem schattigen Hute erschienen. Das Gesicht unter diesem Hute war von ernster Schönheit, auch ein wenig gebräunt. Sie schüttelte Pump die Hand, der sehr feierlich einen Stuhl vor sie hinstellte und sie Lady Joan nannte.

Ich glaubte, ich sollte wieder einmal den alten Platz aufsuchen, sagte sie, wo wir eine glückliche Zeit verlebt haben, als wir noch Kinder waren, und Sie werden wohl selten genug einen Ihrer alten Freunde wieder zu Gesicht bekommen.

Selten genug, gab Pump zur Antwort, und rieb nachdenklich an seinem Backenbärtchen. Lord Ivywood ist fast gänzlich Methodistenprediger geworden, er reißt mit beiden Händen alle Wirtschaften um. Den Charles haben sie nach Australien geschickt, weil er beim Begräbnis seiner Tante sich platt auf den Bauch legte. Es war nicht ganz richtig, glaube ich, aber die alte Dame war ein Scheusal.

Hören Sie manchmal etwas von dem Irländer, dem Kapitän Dalroy, fragte Lady Joan Brett nebenhin.

Ja, öfter als von den übrigen, antwortete der Wirt, er scheint Wundertaten verübt zu haben in dem griechischen Geschäft. Ja, er war ein Verlust für unsere Flotte.

Man hatte sein Heimatland beleidigt, sagte die Lady und sah über das Meer hinaus mit einem Schatten mehr Farbe im Gesicht. Irland war sein Land trotz alledem, und er hatte das Recht es übelzunehmen, wenn man etwas gegen Irland sagte.

Ja damals, als sie den fanden, den er grün angestrichen hatte, fuhr Pump fort.

Was hatte er gemacht? fragte Lady Joan.

Er hatte den Kapitän Dawson grün angestrichen, ergänzte Pump tonlos. Kapitän Dawson hatte gesagt, grün sei die Farbe der irischen Verräter, und darum strich ihn Dalroy mit grüner Farbe an. Ich muß zugestehen, daß die Versuchung dazu sehr groß war: der Zaun wurde gerade angestrichen, und der Eimer mit Farbe stand da, aber natürlich hatte das alles eine sehr unangenehme Folge für sein Fortkommen in der Marine.

Was für eine außerordentliche Geschichte Sie da erzählen, sagte Lady Joan, die vor sich hinstarrte und in ein ziemlich freudloses Lachen ausbrach, sie sollte aufgezeichnet werden in der Ortsgeschichte, ich hatte niemals zuvor davon gehört, sie könnte sogar der Ursprung sein zu dem »Grünen Mann« da drüben in der Stadt.

O nein, sagte Pump ohne jede Erregung, der geht zurück bis auf die Tage von Waterloo. Der arme alte Noyle saß darauf, bis sie ihn herausjagten. Sie erinnern sich doch noch des alten Noyle, Lady Joan, er lebt noch immer, wie ich höre, und schreibt noch immer Liebesbriefe an die Königin Victoria, nur können sie natürlich nicht mehr befördert werden.

Haben Sie in der letzten Zeit noch von Ihrem irländischen Freunde gehört? fragte Lady Joan und sah dabei starr nach dem Horizont.

Ja, vorige Woche habe ich einen Brief bekommen, antwortete der Wirt, es ist nicht unwahrscheinlich, daß er wieder nach England zurückkommt. Er hat die Friedensunterhandlungen für eine dieser griechischen Inseln geführt, und sie scheinen zu Ende zu sein. Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß der Lord gerade der englische Gesandte war.

Sie meinen Lord Ivywood, sagte Lady Joan ziemlich kühl, ja, er hat augenscheinlich noch eine große Laufbahn vor sich.

Ich wünschte, er würde sein Messer nicht so tief in uns hineinstecken, brummte Pump, es wird schwerlich noch ein Wirtshaus übrig bleiben in England. Aber die Ivywoods waren alle verrückt, und er ist dabei noch nicht so schlimm, wenn Sie an seinen Großvater denken.

Ich finde es sehr unritterlich von Ihnen, sagte Lady Joan mit trübem Lächeln, eine Frau zu bitten, sich an jemandes Großvater zu erinnern.

Sie wissen doch, was ich meine, Lady Joan, sagte Pump gutmütig. Ich habe diesen Fall niemals sehr streng beurteilt. Wir haben ja alle unsere kleinen Eigenheiten. Ich würde das freilich mit meinem Schweine nicht gemacht haben. Allein ich sehe nicht ein, ich sehe wirklich nicht ein, warum jemand nicht ein Schwein mit in seine Kirchenbank nehmen darf, wenn es ihm Spaß macht; es war ja doch kein Platz für jedermann, es war ja die Bank seiner Familie.

Lady Joan brach wiederum in Lachen aus: Was für schreckliche Dinge Sie da gehört haben! Aber ich muß gehen, Mister Pump, ich nenne Sie immer Mister Pump, früher habe ich Sie Hump genannt – – – Ach Hump, glauben Sie, daß je wieder einer von uns so glücklich sein wird wie wir früher waren?

Das steht bei der Vorsehung, sagte Hump und sah über das Meer.

Oh, sagen Sie noch einmal Vorsehung, rief sie, es hört sich so an wie: Vordermann fertig!

Nach diesen sinnlosen Worten ging sie wieder den Weg nach den Apfelbäumen und nach dem Strande von Pebblewick zurück.

Das Wirtshaus zum Alten Schiff lag ein wenig ab von dem alten Fischerdorfe Pebblewick, und dieses wieder war durch einen halbmeilenbreiten unbebauten Landstreifen von dem nahen Badeort Pebblewick getrennt. Die dunkelgebräunte Frau schritt unbeirrt auf einer Art Promenade weiter, die sich von Ost nach West hinzog und dem allgemeinen Optimismus der Seebäder ihre Entstehung verdankte. Und als sie sich dem belebteren Teile des Strandes näherte, suchte sie immer aufmerksamer unter den Gruppen am Strande. Die meisten waren noch dieselben vom Monat zuvor: die Wahrheitsucher versammelten sich noch immer jeden Tag, um zu erfahren, was der Mann mit den Papierschachteln machen würde – – aber sie erfuhren es niemals, sie wurden aber gleichwohl niemals dieser intellektuellen Wallfahrten müde. Dem donnernden Atheisten wurden noch immer Geldstücke zugeworfen, um ihn für seine unaufhörlichen Schmähungen zu belohnen. Und das alles war umso seltsamer, als die Menge offenbar gänzlich teilnahmslos war und der Atheist offenbar ganz ehrlich. Der Mann mit dem langen Halse, welcher puritanische Kirchenlieder mit einer kleinen hölzernen Kinderschaufel dirigierte, war jedoch verschwunden, denn Kindergottesdienste solcher Art sind gewöhnlich sehr bewegliche Feste. Aber der Mann, dessen einziger Vorzug war, daß er Karotten um seinen Hut hatte, war noch da und schien noch mehr Geld zusammenzuraffen als früher. Nur von dem kleinen alten Mann mit dem Fez konnte sie keine Spur mehr entdecken, sie konnte nur vermuten, daß er gar keinen Anhang gefunden hatte. Und da sie ein wenig verärgert darüber war, so sagte sie sich mit bitterm Eingeständnis, daß er vielleicht gerade deswegen das Rennen hatte aufgeben müssen, weil in seinem Geschwätz ein Hauch jener unirdischen und übersinnlichen Klarheit war, deren alle diese gewöhnlichen Idioten gänzlich ermangelten. Sie wurde sich nicht bewußt, daß das, was den Mann in dem Fez und den andern Mann in dem Wirtshaus so anziehend machte, der Gegenstand war, über den beide sprachen.

Während sie weiterging auf dem Promenadenwege, kam ihr ein junges, schwarzgekleidetes Mädchen mit selten schönem Haar und einem eigentümlichen Flackern im Gesicht entgegen, das sie sicherlich schon einmal gesehen haben mußte. Sie nahm alle ihre Erziehung zusammen, welche die Aristokratin besitzt, wenn sie sich einer Bürgerlichen erinnert, und gewann es über sich, sich zu erinnern, daß es Miß Browning war, die vor ein oder zwei Jahren für sie Schreibmaschinenarbeit gemacht hatte. Und unvermittelt ging sie auf die Kleine zu und begrüßte sie, teils aus einem Gefühle echter Gutmütigkeit, teils aus dem Drange, sich von trüben Gedanken los zu machen. Ihr Ton war hoheitsvoll offen und freundlich, so daß das schwarzgekleidete Fräulein allen Mut ihrer Gesellschaftsklasse zusammennehmen mußte und sagte:

Ich habe Sie schon so oft zu meiner Schwester bringen wollen, die viel klüger ist als ich, obschon sie immer zu Hause lebt, wo es ziemlich altmodisch ist. Sie kennt viele Menschen von Verstand, und jetzt verkehrt sie mit dem Propheten des Mondes, der jetzt das Gespräch in allen Gesellschaften ist.

Lady Joan Brett hatte viele Mond- und andere Propheten kennen gelernt, aber sie besaß die angeborene Höflichkeit ihrer Gesellschaftsklasse, welche Unarten sogleich wieder gutmacht, und folgte Miß Browning zu einem Sitze am Strande. Sie begrüßte mit gehobener Zuvorkommenheit Miß Brownings Schwester, und das muß zu ihren Gunsten angerechnet werden, denn es wurde ihr sehr schwer, Miß Brownings Schwester überhaupt anzusehen. Denn neben ihr saß der alte Türke, der am Strande über Wirtshäuser gepredigt hatte, noch immer mit seinem roten Fez, aber in einem funkelneuen Gehrock und mit allen Merkmalen des Wohlergehens.

Er hält Vorträge in der Ethischen Gesellschaft über Alkohol, flüsterte Miß Browning – ja, nur über das Wort Alkohol. Es war ungemein spannend, ihn über Algebra und Arabien und über alles, was aus dem Orient kommt, reden zu hören. Sie würden wirklich großes Interesse haben.

Ich habe bereits Interesse, sagte Lady Joan.

Bedenken Sie nur einmal, sagte der Mann mit dem Fez zu Miß Brownings Schwester, was genau genommen wohl anders die Namen der Wirtshäuser Ihres Landes bedeuten sollten, wenn sie nicht ein Nachklang wären jenes unbegrenzten Einflusses des Islams. Da ist ein sehr beliebtes Wirtshaus in London, ein sehr vornehmes auch, mitten in der Stadt, das heißt »Zum Hufeisen«. Nun meine Freunde, warum sollte jemand das Andenken an ein Hufeisen wachhalten? Es ist nur ein Zubehör eines Geschöpfes von größerer Bedeutung. Aber ich habe Ihnen bereits auseinandergelegt, daß schon die Tatsache, daß Sie in Ihrer Stadt ein Wirtshaus haben, das »Zum Ochsen« heißt – –

Ich möchte fragen, begann Lady Joan plötzlich.

– Ein Wirtshaus, das »Zum Ochsen« heißt, fuhr unbeirrt der Mann mit dem roten Fez fort, taub gegen alle Ablenkung, und ich habe behauptet, daß Ochse mit Verwirrung zusammenhängt, während Og-og-se ein Gefühl der Beruhigung erweckt. Allein selbst Sie, meine Freunde, werden einen Ort nicht nennen nach dem Ringe in der Nase des Ochsen, sondern nach dem Ochsen selbst. Warum also nennen Sie einen solchen Platz nach einem Hufeisen, nach einem aufgenagelten Eisen auf dem Hufe eines Pferdes, und nicht nach dem edlen Pferde selbst? Sicherlich, und das ist klar und offensichtlich, daß der Ausdruck Hufeisen eine verborgene, eine esoterische Bedeutung hat und geprägt wurde in jenen Tagen, als der alte Mosleminenglaube noch nicht verdrängt war durch den Aberglauben der Galiläer. Die gebogene Form, die Rundung der beiden Enden des Hufeisens, weist sie nicht offenbar hin auf den Halbmond, und er streckte beide Arme aus wie damals am Strande – auf den Halbmond des Propheten des einzig wahren Gottes?

Ich möchte fragen, begann Lady Joan wiederum, wie Sie den Namen des Wirtshauses »Zum grünen Mann«, das gerade hinter jener Häuserreihe liegt, erklären wollen.

Ganz richtig, ganz richtig, schrie der Prophet des Mondes in fast sinnloser Erregung, der Wahrheitssucher könnte wahrlich kein vollkommeneres Beispiel finden für seine Theorie. Meine Freunde, wie kann es wohl einen grünen Mann geben? Sie alle kennen grünes Gras, grünen Käse und grünen Chartreuse. Ich frage Sie aber, ob einer von Ihnen jemals mit einem grünen Menschen zusammengekommen ist? Sicherlich, meine Freunde, und das ist ganz klar, sicherlich ist dieses eine unvollkommene Wortübertragung, eine Wortabschleifung, eine Veränderung der eigentlichen Bedeutung. Was kann klarer sein, als daß es ursprünglich in der einzig vernünftigen historischen Bedeutung geheißen haben müßte: »Der Mann im grünen Turban« – ein Hinweis auf das Attribut der Nachkommen des Propheten. Turban gehört gerade zu jener Art von Worten, die fremd und ungewohnt sind, so daß man über sie leicht stocken und sie schließlich ganz fortlassen konnte.

Es gibt in dieser Gegend eine Legende, sagte Lady Joan mit Bestimmtheit, daß ein großer Held, als er hörte, daß man sein geliebtes Land beleidigte, als Antwort die Farbe dieses Landes über seinen Gegner goß.

Eine Legende? Keine Legende! schrie der Mann im Fez mit einem neuen emphatischen und belebten Ausbreiten seiner Hände – ist es nicht offensichtlich, daß dieses nicht wirklich geschehen sein kann?

O doch, es ist wirklich geschehen, sagte die junge Frau leise – es gibt nicht vieles in der Welt, das einem so wohl tut, aber es gibt dennoch einiges – Oh, es ist wirklich geschehen.

Und dann verabschiedete sie sich anmutig von der Gruppe und setzte ihren gedankenlosen Spaziergang am Strande fort.



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