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Eine Fahrt ohne Zweck und Ziel

Patrick Dalroy sah halb verlegen, halb belustigt auf den Eindringling und sagte nur: Ich habe Ihren Wagen nicht gestohlen, ich habe es auch nicht tun wollen.

O nein, gab Dorian zurück, ich weiß alles, und da Sie sozusagen die angeklagte Partei sind, so möchte ich Ihnen nur versichern, daß es mir eine Genugtuung ist, Ihnen zu sagen, daß ich in Ihrer Sache nicht einer Meinung mit Ivywood bin, oder richtiger gesagt, Ivywood ist nicht einer Meinung mit mir. Er hat mich im Verdacht seit dem Tage, als ich nach einem Austernessen aufwachte und mich im Parlamentsgebäude wiederfand, um mich herum Polizisten, die laut riefen: Wer geht nach Hause?

Rufen die Diener im Parlament wirklich: Wer geht nach Hause? fragte Dalroy interessiert und zog seine buschigen Augenbrauen verschmitzt zusammen.

Ja, antwortete Wimpole gleichgültig, es ist dies eine alte Sitte und stammt aus der Zeit, als man die Parlamentarier auf der Straße verprügelte.

Warum verprügelte man sie denn auf offner Straße? fragte Dalroy nachdenklich.

Wimpole gab keine Antwort.

Endlich sagte der Kapitän: Es scheint mir eine große heilige Sache gewesen zu sein, aber der Ruf: wer geht nach Hause, ist ganz ungewöhnlich gut.

Obschon der Kapitän den Dichter mit aller erdenklichen Freundlichkeit und Genugtuung in den Wagen hereingenommen hatte, schien es dem Dichter doch, als sei der Kapitän ein wenig geistesabwesend. Als sie an dem Steinhaufen von Süd-London vorüberkamen, sah er, daß die großen blauen Augen unter den roten Haaren beständig suchend herumsahen, und nach langem Schweigen kam ganz unvermutet die Frage, ob es nicht auffällig sei, daß in London die Zahl der Apotheker beständig zunehme.

Sie haben recht, sagte Wimpole, hier sind sogar zwei Apotheker ganz nahe beieinander.

Ja, und sie haben zufällig sogar denselben Namen Krug.

Ich sah heute bereits einmal einen Apotheker Krug ein paar Straßen zurück, es scheint dieser Name eine überallgegenwärtige Gottheit zu sein, sagte Dalroy.

Ich vermute eher ein großes Geschäftsunternehmen mit Filialen, meinte Wimpole.

Aber was mögen nur die Leute in zwei Geschäften so viel kaufen, die nur ein paar Schritte von einander entfernt sind?

Vielleicht kaufen sie in dem einen Laden Essig und in dem anderen Natron, um eine Brause zu machen? Oder führen die Menschen ein Doppelleben?

Vielleicht ist dieser Krug sehr beliebt und berühmt, oder er führt vielleicht ganz besondere Spezialitäten, meinte Wimpole.

Das hätte doch bei einem Apotheker seine natürlichen Grenzen. Man kann mehr Tabak verkaufen, weil bei gutem Tabak mehr geraucht wird, aber ich kann mir nicht denken, daß jemand mehr Lebertran trinkt, nur weil der Lebertran von guter Qualität ist. Auch der Verbrauch von Rizinusöl hat seine natürlichen Beschränkungen.

Willst du nicht einen Augenblick hier halten, sagte Dalroy zu Pump.

Das kann ich schon tun, gab Pump zurück, aber nichts sonst an dieser Stelle. Doch bevor Pump und der neue Gefährte ein Wort wechseln konnten, war Dalroy wieder zurück, auf seinem Gesicht aber lag ein Zug von Sicherheit, besonders um die Mundwinkel.

Mr. Wimpole, sagte Dalroy freundlich, würden Sie uns das Vergnügen machen, heute Abend mit uns zu speisen. Mancher würde diese Einladung zu einer ganz unkonventionellen Mahlzeit, vielleicht unter einem Strauche oder auf einem Baume, etwas befremdlich finden, doch Sie sind ein Mensch von Geschmack, und vor Menschen von Geschmack kann sich Humps Rum und Käse schon ruhig sehen lassen. Wir werden essen und trinken, so gut es eben geht. Ich weiß nur nicht, ob wir beide, Sie und ich, Freunde oder Feinde sind, aber für heute wenigstens soll Friede sein zwischen uns.

Ich hoffe, wir sind Freunde, sagte lächelnd der Dichter, warum aber soll gerade heute Abend Frieden herrschen?

Weil morgen Krieg sein wird, antwortete Patrick Dalroy, Sie mögen stehen, auf welcher Seite Sie wollen. Ich habe eben eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht.

Und wieder versank er in Schweigen, als der Wagen das Weichbild von London verließ und in Wald und Hügel kam. Selbst Quudel schlief, und was Humphrey anlangte, so sprach er nur sehr selten ein Wort, wenn er etwas anderes zu tun hatte. Landschaftsbilder flogen vorüber wie beim Blättern eines Bilderbuches. Das Gold und Grün des Abends war zum satten Blau einer Hochsommernacht geworden. Dunkle Nadelwälder wechselten mit grünem Laubwald ab. Dann schien über Dalroy eine romantische Erinnerung zu kommen, und Humphrey Pump spürte schon lange an dem Atmen der Landschaft die Nähe der Heimat.

Wenn man den Unterschied kurz und rein äußerlich angeben wollte, so würde man sagen: vorher ging es bergauf, bergab, jetzt ging es in beständigem Zickzack. Es schien mehr ein Pfad als ein Weg zu sein, aber je mehr er sich verlor, umso lebendiger wurde er. Die bewaldeten Hügel spitzten sich in dem Dunkel zu in lauter Dome, und um diese Dome herum ging die Fahrt in unzähligen Windungen, und so oft wand sich der Pfad, daß es wie ein Wunder war, daß sie nicht wieder auf denselben Fleck kamen.

Plötzlich brach Dalroy das Schweigen: Der Wagen schüttelt und ruckt etwas.

Mein Wagen ging viel ruhiger, wie Sie vielleicht bemerkt haben werden, sagte Dorian.

Patrick lachte, aber nicht im geringsten verlegen:

Hier würde Ihr schneller Wagen nichts helfen, der unsrige ist aber ein ausgezeichneter Kletterer, und wir müssen jetzt mehr hinauf und hinab, als Weg hinter uns bringen.

Die Wege gehen hier anscheinend sehr unregelmäßig, sagte Dorian nebenhin.

Ja, sagte Patrick mit einer merkwürdigen ungeduldigen Bewegung, Sie sind Engländer, ich nicht. Sie sollten mir eigentlich sagen können, warum die Wege in Ihrem England so unregelmäßig gehen. Bei allen Heiligen, das ist eines der Verbrechen Englands an Irland, daß England es nicht verstehen kann. Aber England will auch sich selber nicht verstehen, und England will uns auch nicht sagen, warum diese Wege hier so durcheinandergehen. Ja, wollen Sie uns das nicht sagen?

Es ist wohl nicht ganz so, sagte Dorian mit ruhiger Ironie.

Dalroy stieß einen lauten Siegesschrei aus.

Pump schien geradezu solche Wege aufzusuchen, die eher für Ziegen als für ein Automobil bestimmt sind, auch wenn es sehr klein ist. Aber das war vielleicht nur eine Übertreibung der beiden andern, die in den letzten Tagen, wenn auch aus verschiedenen Gründen, sich auf ebenem Gelände bewegt hatten. Schließlich schien die Fahrt ein Mittelding zu sein zwischen einem Durchzwängen durch ein Londoner Gewühl und einem spiralartigen Emporklimmen am Belfried zu Brügge.

Dies ist der rechte Weg nach Nirgendwo, rief Dalroy lustig, es ist dies ein sehr gesunder Ort, und Sie können ihn auch nicht verfehlen. Zuerst geht es rechts, dann links, und dann geradeaus um die Ecke und dann wieder zurück. Schreiben Sie ein Gedicht darüber.

Ich wills versuchen, sagte Dorian, aber es ist zu dunkel zum Schreiben, es wird immer dunkler.

Im nächsten Augenblicke waren sie in einem ganz dunklen Walde, wie wenn sie plötzlich in ein Haus eingetreten wären. Und mitten in diesem Walde war eine freie Lichtung, und hier hielt Pump an. Dann kletterten sie über die ungeheuren Wurzeln einer riesigen aber niedrigen Buche, die ihre Äste nach allen Himmelsrichtungen ausstreckte und wie ein tausendfüßiges Ungeheuer aber nicht wie ein Baum aussah. Und in dem Geäst dieses niedrigen Baumes war eine einladende Höhlung, in welcher Humphrey Pump, der Wirt zum »Alten Schiff«, plötzlich und gänzlich verschwand.

Als er wieder sichtbar wurde, hatte er eine Art Strickleiter in der Hand, die er dienstbeflissen festmachte und herunterhängen ließ, damit es die andern bequemer hätten. Doch der Kapitän zog es vor, sich auf einen dieser Oktopus-Ausläufer zu schwingen und kletterte so leicht empor wie ein Schimpanse. Als sich alle zwischen den Ästen eingerichtet hatten, stieg Pump noch einmal hinunter, um die Vorräte zu holen. Der Hund schlief im Wagen weiter.

Du scheinst hier zu Hause zu sein, Hump, sagte Dalroy.

Und Pump antwortete mit gewichtigem Ernst:

Ich bin hier zu Hause, in meinem Alten Schiff. Wie zur Bekräftigung pflanzte er unter dem Baum den Pfahl mit dem Wirtsschild in den Boden, wie zur Einladung an die Vorübergehenden, bei dem Baum einzukehren.

Der Baum stand auf der Spitze eines Hügels, und von ihm aus konnte man die ganze Landschaft übersehen, durch die sie hindurchgefahren waren, und in der die Wege silbern glänzten wie Flußläufe. Humphrey hing eine Autolaterne an einen Ast über den Köpfen, und beim Scheine dieser Lampe teilte er den Käse und Rum aus.

Was für eine ganz ungewöhnliche Nacht ist es doch, sagte Dorian Wimpole plötzlich, ich fühle mich hier in einer köstlichen Geborgenheit. Ich glaube, daß ich in einer solchen Stimmung noch nie zuvor gewesen bin, ein solches Erlebnis ist sicherlich noch niemals gewesen. Wie heilig dieser Käse schmeckt.

Er befindet sich auf einer Pilgerfahrt, gab Dalroy zurück, oder vielmehr auf einem Kreuzzuge, es ist ein Heldenkäse, ein Käse, der auch mitkämpft. Ich kann mir nicht denken, daß dieser Käse von einem so feigen Tier wie einer Kuh kommt, ich glaube, fügte er verschmitzt hinzu, zu diesem Käse hat Hump einen Bullen gemolken. Wissenschafter würden darin sicher den Kern einer keltischen Legende sehen – nein, ich glaube, dieser Käse kommt von der Kuh auf der Heide zu Dunsmore, deren Hörner waren wie die Zähne eines Elefanten, und die so wild war, daß einer der größten Helden der irländischen Ritterschaft mit ihr kämpfen mußte.

Auch der Rum ist gut, fuhr Dalroy fort, ich habe ihn mir durch christliche Demut verdient. Beinahe einen Monat lang habe ich mich zu den Tieren des Feldes erniedrigt und bin beinahe auf allen Vieren gekrochen wie ein Abstinenzler. Hump, laß die Flasche herumgehen, ich meine die Tonne. – – Worüber ich immer klage, das ist, daß Sie alle immer Legenden und Lügen haben wollen, besonders in einer solchen Nacht wie diese und bei einem solchen Rum wie dieser hier. Übrigens, wie finden Sie unsern Rum? fragte er Wimpole.

Dieser Rum auf diesem Baume, in dieser Nacht, sagte Wimpole, ich denke, er ist ein Trank für junge Götter. Aber wenn Sie mich ganz nüchtern fragen, wie ich über diesen Rum hier denke, nun, es ist eben Rum, finde ich.

Sie finden ihn vermutlich ein wenig süß, sagte Dalroy etwas enttäuscht. Sie sind ein Sybarit, um nicht zu sagen Hedonist, weil ich dieses Wort hasse. Leute, die tun und lassen können, was sie wollen, lieben im allgemeinen saure Sachen und keine süßen, sie ziehen bittere wie Kaviar und Curry und ähnliche Dinge vor. Nur die Heiligen lieben Süßigkeiten. Ich kenne wenigstens fünf Frauen, die als Heilige angesprochen werden könnten, und sie alle lieben süßen Champagner über alles. – Hören Sie zu, Wimpole, ich will Ihnen eine alte Legende erzählen, die nur mündlich auf uns gekommen ist, über den Ursprung des Rums. Ich sagte Ihnen ja schon, daß Sie nur Legenden hören wollen, hören Sie gut zu und erzählen Sie die Legende dann Ihren Kindern weiter. Also:

Es war einmal ein Landmann, der hatte drei Söhne. Die drei Jungen kamen auf dem Marktplatz zusammen und hatten jeder einen Zuckerrohrstengel im Munde. Aber es gefiel ihnen nicht zu Hause, und eines Tages machten sie sich auf und gingen davon. Nur einer blieb daheim auf seines Vaters Hofe, weil ihn nach der Erbschaft gelüstete. Der zweite ging nach London, um viel Geld zusammenzuscharren, wie es die Leute noch heute tun in dieser gottverfluchten Stadt. Der dritte ging auf die See. Und die beiden ersten warfen ihren Zuckerrohrstengel bald weg, weil sie sich seiner schämten. Der auf dem Hofe geblieben war, trank statt dessen dünnes und saures Bier, um Geld zu sparen. Und der in der großen Stadt London lebte, trank immer nur teure Weine, damit die Leute sehen sollten, wie reich er war. Aber der dritte, der auf die See gegangen war, lief auch auf dem Schiffe herum mit dem Zuckerrohrstengel im Munde. Und der heilige Petrus oder Andreas oder wer sonst der Patron der Schiffe ist, der berührte das Zuckerrohr und verwandelte es in eine beständige Quelle der Freude für die Seeleute. Das ist eine Seemannserzählung über die Entstehung des Rums.

Ihr Rum begeistert Sie wenigstens zum Märchendichten, sagte Dorian in guter Laune, aber ich glaube, es wäre auch ohne diesen Rum ein hübsches Märchen geworden.

Patrick räkelte sich auf seinem hohen Sitze, lehnte sich fest an den Ast und sah so seltsam auf die andern, wie wenn er einen Tadel bekommen hätte. Dann nahm sein ganzes Gehaben einen Ausdruck an, der jeden beunruhigt hätte, der ihn nicht genau kannte.

Darf ich fragen, meinte Dorian lachend, warum Sie es für notwendig erachten, hier auf diesem Baume den Säbel herauszuziehen?

Weil wir jetzt aufhören, uns wie wilde Tiere hetzen zu lassen, und von nun an den Kampf aufnehmen werden.

Und er zeigte mit dem Säbel nach London, wo ein grauer Schein aufstieg.



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