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Die Tarantella.

 

I.

Am Tage vor dem Beginn der Weihnachtsferien arbeitete der Dorfschullehrer in Moscharowka, Nikolaj Nilytsch Turbin, sehr ungern. Die Klasse war halb leer, und mit Mühe unterrichtete er bis um halb zwei. In letzter Zeit hielt er sich in den vielen Unannehmlichkeiten und in der angreifenden Arbeit durch die gespannte Erwartung der Ferien und die Hoffnung auf eine Heimreise aufrecht. Aber schließlich kam es, daß er kein Reisegeld hatte. Turbin hatte zwar schon längst eingesehen, daß es mit der Reise nichts sei, doch er zögerte noch immer, dies sich offen einzugestehen. Vor allem wollte er jetzt allein bleiben. »Wir wollen es uns überlegen, wollen es uns überlegen!« dachte er unruhig, und daraus, daß er jetzt die Augen schloß, sahen die Schulkinder schon, daß er entweder müde oder übel gelaunt war. Und wirklich gegen Ende des Unterrichts bekam er auf der linken Seite Kopfschmerzen.

Als die Schule sich leerte, schlug Turbin voller Wut die Tür des Vorflurs zu und ging hastig in sein Zimmer. Dort setzte er sich auf eine Truhe und lehnte sich an die Wand.

»Meinetwegen,« sagte er endlich langsam, und zog finster den Rock aus. Dann erhob er sich träge, hängte ihn unter den Vorhang an die Wand und warf einen langen Pelz um die Schulter. Im Pelze legte er sich aufs Bett und schloß die Augen.

»Der nächtliche Zephir durchweht den Äther …« sang er sich wiegend. Im Kopfe schwirrte ihm immer dasselbe »Meinetwegen!«, was eigentlich bedeuten sollte »Hol's der Teufel, wenn ich nicht fahren kann, fahre ich eben nicht … Ist auch furchtbar wichtig!« In seiner Seele aber war es trüb, er wollte sich nicht zum Diakon schleppen zum Mittagessen. Auf der linken Seite war noch immer der Kopfschmerz, er rückte sich das Kissen bequem unter die Schulter und versuchte stille zu liegen.

Im Halbschlummer hörte er den Wächter Pawel kommen, sich den Schnee von den Bastschuhen klopfen, prustend vor Kälte sich die Nase schnäuzen und mit den Eimern rasseln; er sah durch die halbgeschlossenen Lider das Zimmer sich im Glanz der Abendsonne erhellen; er fühlte wie die Beine und die Nasenspitze ihm vor Kälte erfrieren … und plötzlich wacht er auf und schaut sich verständnislos um: »Ah was?« fragt er verwirrt; bald aber steckte er den Kopf wieder ins Kissen und schlief ein …

 

II.

Turbin stand im vierundzwanzigsten Lebensjahre. Er war blond, hochgewachsen, hager und infolge seiner Schüchternheit sehr ungeschickt; das Gepräge seiner notleidenden Lage machte sich in seinem ganzen Äußern bemerkbar. Er war der Sohn eines Dorfdiakonus, studierte im Seminar, das er aber nicht absolvierte; infolge seiner Armut mußte er nach Hause zurückkehren; zu Hause bestellte er sich Vorlesungsverzeichnisse, um bald die Kadettenschule, bald die Geometerschule zu besuchen, machte schließlich ein Dorfschullehrerexamen und war sehr froh darüber. Zu Hause zu leben fiel ihm schwer. Der Mutter konnte er sich nicht mehr erinnern und der Vater war eine krankhaft düstere Natur. Sein Gesicht glich den Mönchen auf den alten Heiligenbildern, – dunkel und hölzern – eine strenge, hagere, hohe und gebeugte Gestalt; er sprach in hohlem Baßton, hustete immer, wobei er die langen grauen Haarzöpfe hinter das Ohr strich. Sogar der Ton seines Gespräches war immer derselbe, derart, daß er sich immer bemühte, zu erklären, auszulegen und einen zur Vernunft zu bringen.

Nachdem jedoch Nikolaj Nilytsch ein Jahr einsam verbracht hatte, begann er sich voll Sehnsucht und Weichheit des Vaters zu erinnern als des einzigen, ihm nahestehenden Menschen und träumte Tag und Nacht von der Fahrt nach Hause. Wie es immer zu geschehen pflegt, betrog er sich mit den Hoffnungen auf die Zukunft: Laß dir nur Zeit, hieß es und dann … wird schon alles werden. Den Sommer verbrachte er als Hauslehrer, nur für Wohnung und Kost, bei einem reichen Holzhändler und wollte im August nach Hause fahren, wenigstens auf zwei Wochen. Aber er mußte sich einen Pelz für den Winter anschaffen. Im Herbst hoffte er, es um Weihnachten ausführen zu können. Er stellte sich in aller Ausführlichkeit vor, wie er nach Hause kommen würde … z. B. gegen Abend … Lange wird er diesen Abend mit dem Vater beim Samoware sitzen, in der wohlvertrauten, reinen, warmen Stube. Voll Vertrauen wird er mit ihm bis in die späte Nacht sprechen … dann wird er in das große Handelsdorf zur Cousine fahren; bei ihr werden jeden Abend Gäste sein, Mädchen und junge Herren von der Fabrik, es wird lebhaft, lustig, heiter zugehen. »Man muß auf alle Fälle die Guitarre mitnehmen,« dachte Turbin.

Um Geld zu sparen, ging er zum Mittagessen und Abendbrot zum Diakon, anstatt zum Pfarrer.

Aber im November schrieb ihm der Vater, daß er in eine Gouvernementsstadt zur Kur fahren müßte und bat um Geld. Um einer Absage vorzubeugen, war der Brief streng und gebieterisch. Unten war ein Vermerk: »Und mein letztes Wort ist: Vergiß nicht Gott und dein Gewissen, habe Mitleid mit meinem Alter.« Und der Schullehrer schickte alle seine Ersparnisse. Es blieb die Hoffnung, eine bedeutende Summe mit Korrespondenzen zu verdienen. Er begann fast täglich unter dem Titel »heimatliche Stimmen« Artikel in die Gouvernementsstadt zu schicken, die er mit »Ariel« zeichnete. Aber davon wurden nur zwei Notizen genommen, – vom Regen und von einem Unglücksfalle auf einer Branntweinbrennerei.

Turbin verfiel in Schwermut …

 

III.

Es war ein großes Dorf. Die Schule stand einsam auf einem Berge. Links war die Kirche und der Kirchhof, der einem verödeten Garten glich, rechts war ein Abhang. Der Weg dorthin führte an den Feldern und der Schule vorüber, links unterhalb des Berges. Unter dem Berge, tiefer als der Friedhof, wohnten die Geistlichen, ihnen gegenüber über den Weg war ein Laden und die Schenke Gribakins. Auf der anderen Seite hinter dem Flusse lag das Landgut Lintwarjows, mit großen hölzernen Gebäuden und langweilig bläulichen Tannenreihen davor. Die Schnapsbrennerei rauchte ewig, abseits über dem Flusse. Daneben lagen sonderbare Fabrikgebäude – Keller und Gärungsräume – und kleine Häuschen in der Art der Wärterbuden an den Eisenbahnen. Das Dorf war links vom Gute. Von der Fabrik kamen zu Gribakin zu Gast der alte, herrschaftliche Koch, der von allen wegen seiner Fahrt nach Jerusalem geachtet war, von der er immer voll Demut und Wichtigkeit erzählte, ebenso wegen seiner Kenntnis über das intime Leben seiner Herrschaft; dann Kontoristen, Kellermeister, Destillateure und der Messingschmied. Das war ein Volk, das der Krämer brauchte. Am Abend spielten sie Karten oder auf einer deutschen Harmonika. Turbin mied diese Abende, denn er wurde zum Spiel genötigt und liebte es nicht, Geld zu verlieren. Außerdem behandelte ihn Gribakin zwar höflich, aber kalt. Im Frühling merkte dieser, daß seine Frau, die frech, schön und jung war mit dem Lehrer besondere Gespräche zu führen begann, aber er ließ, ohne etwas merken zu lassen, zuerst der Sache »freien Lauf«: Er war ein wohlgestalteter, höflicher, alter Herr in einem sauberen Pelz. Und wirklich, der Lehrer gefiel der Krämersfrau. Die erste Zeit geriet er selbst in Aufregung, wenn er ihr junges Gesicht mit den geblähten Nasenflügeln und den lachenden Augen unter den gebrannten Ponys sah. Zugleich war ihm etwas unangenehm an ihr. Er suchte ihr mit Seminaristenwitzen aus dem Wege zu gehen.

Anna Sergejewna behandelte ihn zuerst etwas barsch – »Das fehlte noch!« Dann fing sie an, ihn zu Spaziergängen über den Friedhof einzuladen und immer häufiger mit verhaltener Leidenschaft, wobei sie die Augen mit der Hand schloß, wie vor Erschöpfung, zu singen:

»Vergiß die wilden Träume,
Bald gehe ich fort von hier,
Vergiß mich und meine Augen
Und meine Liebe zu dir.«

Da begann Turbin sich abends in die Felder zu verlieren. Außer dem unwillkürlichen Gefühle, das sich gegen diese Liebe sträubte, hielt ihn noch die Furcht vor einer solchen Geschichte zurück. »Da kommt das Geschwätz,« dachte er, »verschiedene Unannehmlichkeiten … unmöglich!« Als Anna Sergejewna dies merkte, sagte sie ihm bei Begegnungen Frechheiten und schimpfte vor dem Manne in übertriebener Weise auf ihn.

»So,« dachte Gribakin, »das Zünglein hat sich gedreht!«

Während des ganzen Winters und des folgenden Frühlings war der Lehrer nur drei- oder viermal bei den Leuten aus der Fabrik und dem Destillateur Taubkin zu Gast. Taubkin, ein junger Jude, rothaarig, skrophulös, mit einer goldenen Brille für kurzsichtige, war ein sehr gastfreundlicher Herr und stets fand sich bei ihm eine große Gesellschaft. Aber auch dort knüpften sich keine Beziehungen zu dem Lehrer. Er hielt sich fern, während die Leute aus der Fabrik sehr mit einander verbrüdert waren – sie lebten solidarisch miteinander und hatten gemeinsame Interessen. Alle hatten viel zu tun und erledigten zwar ihre Geschäfte, aber es schien immer, daß sie viel Muße hatten: Kamen oft zu einander zu Gast, tranken Portwein und aßen Sardellen dazu, tanzten unter Begleitung eines Aristons, dann spielten sie Sechsundsechzig, die Damen inbegriffen. Die älteren Arbeiter in der Fabrik und den Gärungskammern, gesunde Muschiks in Schürzen, zeichneten sich in allem durch ihre rohe Entschlossenheit, cynischen Redensarten und Selbstgefühl aus. Der Lehrer fürchtete sogar einige von ihnen, z. B. den Postboten. Wenn dieser ihm die Briefe brachte, siezte ihn der Lehrer, gab ihm Trinkgelder, aber der Bote frappierte ihn doch durch seine verachtungsvolle Ruhe.

 

IV.

Der Herbst setzte mit frischen und heiteren Sonnentagen ein.

Am Sonntag ging Turbin vom frühen Morgen an ins Feld, dahin, wo am Horizonte die Station und die Telegraphenpfähle, die einer nach dem andern in die Ferne entschwanden, sichtbar waren. Es zog ihn dahin, denn nach dieser Richtung mußte ihn der Zug nach Hause bringen.

Früh morgens war es ganz besonders frisch, hell und still. Die tiefstehende Sonne schien blendend hernieder. Der weiße, kalte Nebel verschlang den Fluß. Der weiße Dunst schmolz in den Sonnenstrahlen über den Dächern der Hütten und entschwand in den azurblauen Himmel. In dem herrschaftlichen Park, durchweht von nächtlicher Feuchte, standen tiefblaue, kalte Schatten und es roch nach faulem Laub und Äpfeln. Aus den Feldern schimmerten im Sonnenglanze Spinngewebe und unbeweglich standen die Ahornbäume in hellrotem Gold. Der schrille Ruf der Drossel unterbrach manchmal diese Stille. Die Blätter, von der Sonne durchwärmt, regten sich leise und fielen auf die dunklen, feuchten Stege. Der Garten wurde kahl und öde; weithinaus sah man in ihm das halb geöffnete, verlassene Zelt des Gärtners.

Gemächlich ging der Lehrer den Berg hinauf. Das Dorf lag malerisch in einem weiten Kessel. Gleichmäßig und langsam stieg der Rauch der Fabrik in die Höhe; im hellen, blauen Herbsthimmel kreisten und schimmerten weiß die Tauben. Überall im Dorfe wurde das Stroh gelber und gelber; man hörte Gespräche, über die Brücke rasselte donnernd ein leerer Wagen. Und im freien Felde, – besonders in der Sonne gen Süden schimmerte und strahlte alles, während gen Norden der Horizont dunkel und schwer war und in scharfer Schieferfarbe sich von dem gelben Tuche des Stoppelfeldes abhob. Von Ferne konnte man die Gestalten der auf den Kartoffeläckern arbeitenden Frauen, der über das Feld fahrenden Muschiks unterscheiden. Die Holzfeuer in den Waldgründen flackerten in goldenen Flammen auf, die Dächer der ziegelfarbenen Landgüter wurden sichtbar. Gespannt blickte der Lehrer nach ihnen hin. Die Unruhe der Einsamkeit erfaßte ihn, zog ihn in diesen neuen, unbekannten Kreis, eine neue Umgebung, wo das Leben frei, leicht und lustig dahinfließt. Und in Gedanken über das Leben der Gutsherren sah er die Schönheit nicht, die um ihn war. So weit und still war es in den Feldern! Sogar der gelichtete Wald machte keinen traurigen Eindruck. Jetzt schimmerten weiße Späne an Stelle des Waldes, Holzstöße waren aufgeschichtet inmitten abgeschlagener Äste und verwelkter Blätter, und drei lange, feine Birken mit erhaltenen Kronen erhoben sich dort. Ihre Umrisse harmonierten so schön mit der offenen Weite!

Turbin erinnerte sich immer beim Anblick dieser Birke, daß er hier der Frau Lintwarjow begegnete. Er wurde mit ihr und ihrem Manne bekannt und traf sie einige Male auf der Station. Sie benahmen sich ihm gegenüber ohne Förmlichkeiten, sogar freundlich, besonders der Gatte; außerdem hörte man, daß Lintwarjow die Universität absolviert hatte, sich für die Verhältnisse auf dem Land interessierte und besonders für die gewerbliche Bildung daselbst. All das, wozu überdies ihr Reichtum und ihre Vornehmheit kam, flößte Turbin eine große Achtung vor Lintwarjow ein. Als ihm Frau Lintwarjow in dem gelichteten Walde begegnete, lächelte sie ihm so freundlich zu und erschien ihm so elegant und aristokratisch in ihrem schwarzen Kleide und ihrem zylinderförmigen Hute, daß der Lehrer vor Freude errötete und sich entschloß, unbedingt sie aufzusuchen und nähere Bekanntschaft zu machen. Lange schaute er ihrer englischen Equipage nach, die mit zwei dunklen, kleinen Pferden bespannt war und die sie selbst lenkte, während der Kutscher, auch ganz in Schwarz, mit einer langen Peitsche hinter ihr saß. Der Lehrer sah nicht, wohin er ging und malte sich mit Vergnügen aus, wie er bei Lintwarjow auf dem Balkon gleich den andern Gästen sitzen würde, ein interessantes, lebhaftes Gespräch führen, vorzüglichen Tee trinken, eine teure Zigarette rauchen … und sogar manchmal an einem Frühlingsabend an der Seite einer jungen, schlanken Fremden, die bei Lintwarjow zu Gast, hinter dem Dorfe ins Feld, in die dunkle Weite ausreiten würde …

 

V.

Gegen Ende September änderte sich das Wetter schroff. Der Regen strömte in Güssen vom Morgen bis in die Nacht. Die Lintwarjows waren verreist. Der Garten wurde schwarz, gleichsam niedriger und kleiner. Das Dorf nahm ein dunkles, jammervolles Aussehen an. Der kalte Wind umspannte die Umgebung mit einem nebligen Regennetz. In der Schule roch es nach der säuerlichen Feuchte des Ofens, es wurde kalt, dunkel und ungemütlich.

Turbin stand auf, wobei er noch das Licht anzünden mußte, zu jener unangenehmen Zeit, wenn nach der düsteren Regennacht, der blasse Tag über den schmutzigen Feldern, Fußstegen voll Wasser, grämlich zu grauen beginnt. Mit Tagesanbruch wurde es noch ungemütlicher und kälter. Den Lehrer weckte das Knarren der Türe. Die Kinder schleppten den Schmutz von ihren Bastschuhen in das Vorzimmer, schnäuzten sich, lärmten, stampften und schrieen. Durch die ausgehende Tür wehte eisige Feuchtigkeit. Klappernd vor Kälte ging der Lehrer zum Waschtisch, trank dann eilig den dünnen, heißen Tee, den Zucker im Munde, und löschte das Lämpchen. Nach seinem gelben Lichte war im Zimmer eine blaue, kalte Morgendämmerung. In dieser Dämmerung trat der Lehrer in die Klasse und in einen Pelz gehüllt, den er an den Knieen zusammenzog, setzte er sich an seinen Tisch. Es begann die hartnäckige Arbeit. Zuerst wurde er hitzig, gab sich alle Mühe deutlicher und zurückhaltender zu sprechen; dann schaute er wie der Regen schräg an die Scheiben schlug und wie die Wagen nach der Fabrik ziehn; die Bauern patschten im Schmutze, mit Matten bedeckt. Die schweißtriefenden, dunkel gewordenen Pferde rauchten. Und der Lehrer stellte sich immer vor, wie er im Wagen zum Bahnhof fährt: Der Wagen wackelt langsam, patscht auf dem mit schmutzigem Wasser bedeckten Wege, der Regen peitscht und der Wind ergeht sich in Klagen, beugt die einsame, kahle Birke im Felde …

Er wurde etwas lebhafter, wenn die Schüler schreiend und lärmend die Schulstube verließen.

»Gießt es sehr?« fragte er den Pawel, indem er die Füße in alte, große Gummischuhe steckte.

»Es scheint nachzulassen,« entgegnete Pawel jeden Tag.

»Auf dem Meere wie auf dem Lande« – sagte ihm jeden Tag der Krämer, unter dem Vordach seiner Schenke stehend und lachte väterlich.

Turbin, der immer in diesem Momente von dem Laden auf die andere, weniger schmutzige Seite des Weges ging, machte nur lachend wie zur Antwort eine Handbewegung und tat mit seinen langen Füßen einen riesenhaften, verzweifelten Schritt. Mit der Galosche patschte er in die Pfütze, und als er bemerkte, wie sich ob dieses Sprunges die mit einem Nähzeug hinter dem Fenster sitzende Krämersfrau vor Lachen wälzte, schlich er mit einem schiefen Lächeln längs des Zaunes weiter.

»Sind keine Briefe da, Iwan Filimonowitsch?« schrie er dem Krämer aus der Ferne zu.

»Man schreibt noch!«

»Das ist aber ein Tölpel,« sagte die Krämersfrau, wie bedauernd, indem sie den Zwirnsfaden abbiß …

Der Diakon Skrjabin war der jammervollste Mensch im Dorfe. Schwerlich hätte man einen häßlicheren und dümmeren finden können.

Die trübe, vertrocknete Nase, der spärliche Zopf, die triefenden Augen – alles erinnerte in ihm an ein altes Weib. Es war ein trauriger Anblick, wie er im Frühling bei Tauwetter oder im Herbst unter dem Regen aus der Viehweide in großen, zerzausten, innen mit Stroh vollgestopften Pelzstiefeln herumschlenderte! Auf dem Altare las und sang er mit gebrochener Stimme, als wäre er betrunken oder als phantasierte er. In seiner Hütte war es wie bei den meisten Geistlichen ziemlich sauber und heimisch, aber sieben Kinder drückten sich da herum. Niemand beachtete sie. Trotz seines Elends dachten Skrjabin und seine Frau vom Morgen bis in die Nacht nur ans Essen. Skrjabin aß bei jeder Gelegenheit: Bald suchte er im Ofen nach Kartoffeln, bald kochte er sich ein Ei, bald goß er sich eine halbe Stunde nach dem Mittagessen eine halbe Tasse Suppe ein, bald kaute er Brot. Drei- oder viermal im Tage machte er sich mit dem Samowar zu schaffen, sammelte Späne, blies das Feuer an mit dem Munde oder mit einem alten Stiefelschaft. Die Frau Skrjabin hatte ein sehr freundliches, offenes und demutsvolles Gesicht, aber es schien in ihrem Herzen und ihrem Kopfe nicht alles in Ordnung zu sein. Jämmerlich und unangenehm war ihre Zärtlichkeit, mit der sie, die von den Kindern und der Hauswirtschaft Geplagte, immer wieder sich um den faulen Diakon sorgte, ihm immer wieder Überraschungen bereitete, – irgend eine wunderliche Speise ihm auftischte. Die Überraschung mißlang meistenteils und die Diakonsfrau nahm schuldbewußt und traurig verlegen lächelnd die Speise vom Tisch und steckte sie irgendwo hin unter die Bank.

»Was ist denn das …?« sagte Skrjabin mit kreischender, wütender Stimme: – »Was ist denn das, bei Gott!« …

»Ich will dir lieber Schinken bringen, Aljoscha …«

»Ich krepiere vor Hunger,« fuhr der Diakon brummend, fast weinend fort.

Das machte sogar auf den an Armut und Elend gewöhnten Lehrer einen erdrückenden Eindruck.

Und als im Oktober die Diakonsfrau vor der Entbindung starb, konnte er lange Zeit ihre unglückselige Familie nicht ohne Erschütterung sehn …

Meistenteils besuchte Turbin nach dem Mittagessen den Pfarrer Feodor Rokotow. Der Pfarrer kam verschlafen aus seinem Hinterzimmer, mit hellen, vom Schlafe tränenden Augen und roten Streifen auf der Schläfe von dem gestreiften Kissen. Er lächelte und sagte in gutmütig väterlichem Tone gegen seine Schwäche: »Auf einen Augenblick legte ich mich hin und bin eingeschlafen wie ein Murmeltier« …

Abends spielte man Karten um Nüsse. Manchmal spielte der Lehrer mit der Frau des Popen auf zwei Guitarren »Im tiefen engen Tale des Darjals,« – »Der sinnende Voltaire« oder nach der Melodie eines kleinrussischen Kosakentanzes »In die Hütte kamen Kinder …« Sehnsuchtsvolle Schwermut tönten die Saiten der Guitarre und alle Melodieen. Der Pfarrer machte seine Witze, auf Kosten der Magerkeit Turbins und seiner Länge. Und obwohl Turbin immer dabei lachte, nach seiner Manier den Mund mit der Hand bedeckend, scheuchten die Witze des Pfarrers doch nur für kurze Zeit die Langeweile.

 

VI.

Wenn das Dorf tiefer und tiefer in die feuchte Dämmerung versank, die Lichter in der Fabrik aufflammten und der Samowar rauchte, der immer den Gedanken an den langen Familienabend im warmen Winkel wachruft, patschte der Lehrer im klebrigen Schmutze und quälte sich langsam den Berg hinauf. Finsternis, Kälte und der Geruch des qualmenden Ofens und die Einsamkeit empfingen ihn in der schweigenden Schulstube. Die erste Zeit machte sich Turbin nichts daraus. Das erste Jahr in der Schule ging so wunderbar schnell vorüber. Er hatte keine Zeit zum Nachdenken. Als junger Seminarist träumte er in seiner Abgeschlossenheit von vielem – er wollte Missionar, Stadtpfarrer werden, kurzum sich zu einem besseren, freieren Dasein emporarbeiten. Wunderbar klar sah er sich als Pfarrer Nikolaus in einer Gouvernementsstadt, in einem seidenen, blauen Talar, auf den die wohlgepflegten Locken niederfallen, sogar, er wußte nicht warum, in goldenen Brillen, wie der Domprobst, er träumte von Wohlleben, dachte vornehme Bekanntschaften zu machen, ein aufgeklärter Mensch zu sein, der die Wissenschaften, die Politik verfolgt. Diese Träume sind vollkommen zunichte geworden. Bei seinem Antritt als Lehrer war er voll Eifer, sofort die Arbeit zu beginnen, seine Schule mustergültig zu gestalten, ein hervorragender Lehrer zu werden, Aufsätze über Volksbildung zu schreiben und Lehrbücher zu verfassen. Tag für Tag schwanden auch diese Träume. In Mascharowka brachte ihn die Nähe der Fabrik auf den Gedanken, in den Accisendienst einzutreten und zwar so, daß er in zehn Jahren drei- oder viertausend Rubel Gehalt beziehen könnte, – waren doch Beispiele dafür da. Das war eine Sache der Zukunft. Vorläufig jedoch wollte er so schnell als möglich sein gegenwärtiges Leben erneuern und heben. Ihn quälte eine heiße, wenn auch unbestimmte Sehnsucht nach Glück.

Vor allem muß man sich mit der Selbstbildung beschäftigen, dachte er, das ist die Hauptsache, – Bekanntschaften machen, sich als Mensch fühlen. Laß nur den Herbst vorübergehn! Ich fahre nach Hause, und wenn ich zurückkehre, beginne ich den Lintwarjow zu besuchen und werde, gebe es Gott, mit echten, lebendigen Menschen in Fühlung kommen …

Und sich hin und her wiegend ging Nikolaj Nilytsch auf und ab in seinem Zimmer, erregt und voller Gedanken über eine bessere Zukunft … Dann nahm er unentschlossen das Heft einer Zeitschrift, das er noch als Seminarist sich von einem Kollegen ausgeliehen und wollte den Artikel: »Ein Blick auf das russische Gerichtswesen und Gerichtsverfahren« lesen. Der Artikel aber war nicht unterhaltend. Nachdem er einige Seiten überwunden hatte, ließ er das Buch fallen, schloß die Augen und überließ sich wieder seinen Gedanken … Bald malte er sich das Bild seiner Bekanntschaft mit Lintwarjow aus und in seine Seele schlich sich Freude und Befangenheit zugleich. Bald wollte er so schnell als möglich nach Hause, um sich zu erholen und auszuruhen. Manchmal in später Nacht, bewegt von der Liebe zum Vater, von Erinnerungen und Hoffnungen, schrieb Turbin lange, lange an ihn, lange, lyrische Briefe; aber am Morgen kamen sie ihm schwülstig, phrasenhaft vor und er schickte sie nicht ab … Als es sich herausstellte, daß er kein Reisegeld hatte, veränderten sich die Abende. Er begann sie in unruhvoller Sehnsucht und mit allen möglichen Reiseplänen zu verbringen. Manchmal sogar wollte er zum letzten Mittel greifen, Geld zu borgen, aber bald kam er davon ab. »Undenkbar, Schulden ist dein Verderben!« Die unlustigsten Gedanken drängten sich ihm in unendlicher Reihe auf, aber er hatte niemanden, dem er nur einen davon hätte anvertrauen können. Im Geiste sich, die Finsternis, die Schule verfluchend, machte er sich auf den Weg zum Abendessen bei dem Diakon. Nach der Rückkehr wickelte er sich in seinen Pelz und legte sich sofort zu Bett. Die ganze Langweile und Kälte der Herbsttage ergriff ihn dann, die schwarze Nacht schaute in die Fenster. Auf dem Dorfe im Dunklen gähnten die Lichter der Fabrik; feurige Funken sprühten ihre hohen Schornsteine. Und wenn in schwerem Fluge der Wind heranbrauste, peitschte der Regen heftiger die Scheiben der Fenster und noch klagender summte es im Ohr.

Wie von der fernen Ferne, tönte vom Dorfe her der langgezogene Schrei der Hähne vor Tagesanbruch. – Langsam, langsam nach langer Nacht erwachte das Leben. Der Regen ließ nach, es wurde kälter; der Wind trieb unter dem kalten Morgenhimmel die weißen Wolkenfetzen dahin. Über dem Dorfe, über den kahlen, öden Feldern brach der neue, öde Tag herein …

Dann kamen die Sturmwinde, sie überschütteten die Hütten mit Schnee, verklebten die Fensterscheiben. Das weißgewordene Dorf wurde noch öder und stummer – sogar die Hunde verkrochen sich in den Flur der Häuser. Nur der Sturmwind brauste darüber vom Morgen bis in die Nacht und der ganze Tag stand in trüber Dämmerung. Weißer Staub verschlang die Fabrik und die Kirche. In klagenden Lauten hallte der Wind wieder auf dem Glockenturme …

 

VII.

Gegen 6 Uhr raschelte Pawel mit dem Stroh, indem er ein Bündel durch die Tür zu bringen suchte, und ließ dabei das Bund krachend auf den Boden fallen. Um seine Ungeschicktheit zu vertuschen, prustete und schnalzte er mit den Lippen: »Ist das aber jetzt draußen eine Kälte – und ein Sternhimmel ist das!«

»Zähle lieber die Kahlköpfe hier unten!« ertönte aus dem Dunkel die ruhige Stimme des Lehrers.

»Sind Sie wach?«

»Ich habe geschlafen,« antwortete der Schullehrer gähnend.

In seiner Seele war es öde. Er ließ die langen Beine vom Bette herunterhängen und überlegte, ob er zum Diakon gehen sollte. Er wollte aber essen, darum mußte er gehn.

Im Dorfe war es dunkel und still. Es fror. Am dunklen Himmel schimmerten die großen Sterne. Das Bellen des Hündchens von der andern Seite des Dorfes widerhallte laut in der reinen Luft. Die Frische der Winternacht machte ihn munter.

»Pater Alexej, meine Hochachtung!« sagte er scherzend und laut, mit dem Accent auf dem »o«, indem er sich bückte und in die Hütte des Diakons trat: »Ich gratuliere zum Vorhimmel!«

Der Diakon besserte das Kummet aus, wobei er an einem qualmenden Lämpchen auf der Pritsche saß. Er erhob langsam den Kopf und indem er den einen Nasenflügel mit dem Finger zudrückte, blies er nach der Seite. Dann schaute er wieder durch die auf der Nasenspitze sitzende Brille nach Turbin.

»Waren Sie nicht bei einem Diner mit geladenen Gästen?« fragte er mit leisem Lächeln, wobei er die Nase mit dem Rockzipfel abwischte.

»Ja, mit geladenen Gästen, Pater Alexej, mit geladenen Gästen.«

Das älteste Töchterchen des Diakons, ein schiefäugiges, nettes und stilles sechsjähriges Mädchen, deckte, mit den nackten Füßchen über den Boden trippelnd, den Tisch. Turbin begann schweigend die Suppe zu essen.

»Ich will auch etwas zu mir nehmen,« sagte der Diakon, das Kummet beiseite schiebend, und ging zum Wasserhahn, wusch sich die Hände und fing an, die Suppe zu essen.

Das schiefäugige Mädchen stand schweigend am Ofen. Der Diakon schaute sie an und ließ den Kopf sinken. Aber kurz darauf nahm er wieder den Löffel und sagte: »Wie die Geburt unseres Herrn Jesu Christi aus dem Fleische … ja … und die Erinnerung an die Erlösung seiner Kirche und seiner Herrlichkeit … und an die Tage der Feste und das Neujahr … Ich habe vergessen, wann die Sonne aufgeht. Den Sonnenuntergang weiß ich – drei Uhr 44 Minuten, aber der Sonnenaufgang … Wissen Sie es nicht?«

Turbin lachte auf, indem er sich an die Wand lehnte und den Mund mit der Hand bedeckte: »Wozu brauchen Sie ihn, Pater Alexej?«

Das Mädchen trat an den Tisch und begann ernst, die Löffel wegzunehmen. Turbin verstummte und ging bald fort.

»Hahaha,« sagte er, während er berganstieg und traurig den Kopf schüttelte. Auf dem halben Wege hielt er inne und atmete tief die frische, reine Luft … und dann schaute er sich um, als sähe er zum erstenmal in seinem Leben das Dorf. Es kommt vor, daß der Verstand und das Gefühl, die sich lange Zeit den gewohnten Verhältnissen unterwarfen, plötzlich sich davon loslösen und mit einemmal die Möglichkeit erhalten, die verflossene Zeitspanne kritisch zu betrachten, sich darüber zu erheben. Unwillkürlich stellte der Lehrer sein Leben dem des Diakons gegenüber. Und seine Stimmung hob sich, wurde lichter. Er konnte jetzt den ganzen verflossenen Herbst, all seine Unannehmlichkeiten ruhiger betrachten, sich ihnen gegenüber stärker dünken.

»Was hat denn die Schwermut für einen Sinn?«

Er blieb stehen und sagte, die Augen geschlossen – »Gar keinen!«

Und über das Gespräch mit sich selbst lächelnd, ging er nach der Schule.

Zu seinem Erstaunen war in der Schule Licht.

Ist vielleicht der Vater gekommen? Oder etwa einer von den alten Kollegen? Aber dann stünden Pferde vor der Treppe. »Gewiß Sljepuschkin oder Kondrat Semjonitsch.« Turbin machte ein unzufriedenes Gesicht und verlangsamte die Schritte.

 

VIII.

Kondrat Semjonitsch war der Sohn eines verarmten, verbummelten Gutsbesitzers, Namens Kriwzow, erhielt seine Erziehung im Gymnasium, aber brachte es nur bis zur fünften Klasse. Dazu trug ein Beinbruch auf einer Jagd bei. Im selben Herbst starb Kriwzow. Die Mutter Kondrat Semjonitschs behielt nur dreißig Deßjatinen übrig und ein kleines Haus an der Ausfahrt des Dorfes, einen seidenen Strumpf mit zwanzig Kopeken und zerbrochenen Silberlöffeln, eine Stickerei von einer adligen Uniform, ein Porträt Nikolaus I., zwei bronzene Leuchter und eine Reisekiste aus rotem Holze, aus deren verzierten Schubfächern es nach säuerlichem, altmodischem Parfüm roch. Kondrat Semjonitsch schüttelte die zwanzig Kopeken aus dem Strumpfe, überließ den Bauern den Boden zur Halbpacht und ging dann zuerst auf den Jahrmarkt, um ein Dreigespann kirgisischer Pferde zu kaufen. Einen Wallach zum Reiten, täppisch in seiner Magerkeit, hatte ihm Kriwzow noch selbst geschenkt. Dort mietete er sich auch einen Kutscher, einen eingefleischten Jäger und Läufer Waska, von dem er sich nicht mehr trennte.

Kondrat Semjonitsch war fünfundzwanzig Jahre alt, breitschulterig und von kleinem Wuchse, besonders wenn er links mit dem lahmen Fuße auftrat; seine schwarzen Haare kräuselten sich und das sympathische, gebräunte, ziegelfarbene Gesicht wurde von kleinen, lustigen Äuglein belebt; der untere Kiefer trat bei im hervor, was ihm aber einen gutmütigen Ausdruck verlieh; die Spitzen des schwarzen Schnurrbarts auf der kurzen Oberlippe kräuselten sich schneidig in die Höhe. Er plauderte so gutmütig mit seiner heiseren angenehmen Stimme und lachte so lustig auf, daß sogar Turbin, der in Gegenwart eines neuen Menschen sich unbehaglich fühlte, von Anfang an frei und ungezwungen mit ihm verkehrte.

Und wirklich, Kondrat Semjonitsch hatte eine gute, offene Seele. Alles kam bei ihm gutmütig und unmittelbar heraus: Er führte ein sehr ausschweifendes Leben, trank in den Schenken, als Gast und auf der Jagd, log bei jeder Gelegenheit und prahlte mit seinen Weibergeschichten, bis zum Verzweifeln, aber immer so mechanisch, aus Lustigkeit und verhehlte das auch nicht: »Teufel, hab' ich dir gestern was aufgebunden!« Machte Klatschereien ohne böse Absicht – einfach aus Neigung zu einem Freunde, und seine Freunde waren auf dem Dorfe fast alle. Gegen die Herrschaften wie gegen die Bauern benahm er sich auf die gleiche Weise. Auf der Dorfstraße umherschlendernd, begegnete er dem Gutsherrn ebenso freundschaftlich wie er seinen Fuß in das Rad bei einem Muschik steckte, und aus demselben Beutel eine Zigarette von dessen billigem Knaster drehte. Er kleidete sich übrigens wie alle kleinen Gutsherren: In langen Stiefeln, Pumphosen, Mütze und Joppe, die, um das zu bemerken, einen besonderen Geruch ausströmte, den Geruch des Pulvers und des Pferdes; wie sie, liebte er es auch mit seinem Fuchsdreigespann zu prahlen, das, wenn es durch das Dorf dahinsauste, dem russischen Buchstaben ???Æ glich – so schneidig stieben die Füchse nach verschiedenen Richtungen auseinander.

Turbin war zweimal bei ihm. Er hoffte durch Kondrat Semjonitsch mit vielen Gutsherren bekannt zu werden, aber beide Male wollte jener ihn betrunken machen. Dazu war auch seine Einrichtung nicht so, wie Turbin es sich dachte: Die Treppe vor dem Hause war zerstört; in der Gesindestube sah der Boden wie in einem Schweinestall aus – so beworfen war er von dem Dunge des den ganzen Sommer hier lebenden Geflügels, das beim Eintritt der Menschen sich wie eine Wolke erhob und unter Lärm und Sausen der Flügel das Licht verdunkelte, das durch die von der Zeit regenbogenfarbig gewordenen Scheiben in die Stube drang. In der Ecke des Saales lag Hafer umher; daneben auf dem Stroh winselten, tappten und krochen blinde kleine Jagdhunde herum; eine große, schöne Hündin, die neben ihnen schlief, erfüllte den ganzen Saal mit musikalischem Gebell … Die kahlen Wände des Wohnzimmers waren dunkel vom Tabak und den Fliegen; über dem türkischen Diwan hingen Peitschen, Dolche und gelbe schmutzige Fuchsfelle. Unter den Fenstern, auf einem zerbrochenen Schreibtische lag Knaster in Haufen aufgeschüttet, da stand eine Kiste mit Wagenschmiere, da lag Pferdegeschirr und Stücke feuchter, säuerlich-stinkender Felle; hinter dem Tische stand eine grüne Schnapsflasche. Turbin fühlte sich unbehaglich. Es gefiel ihm auch nicht, daß Kondrat Semjonitsch ihn duzte und »Zirkel« nannte, wobei er unter lustigen Gesten umherhinkte, sang und von seinen Abenteuern erzählte …

Sljepuschkin diente auf der Fabrik bei Lintwarjow als Gehilfe des Brennmeisters; sein Gesicht war dick, aufgedunsen und dunkel wie bei einem ausgesprochenen Alkoholiker, die Stimme dumpf, die Gestalt wie ein Bär, der Rock aus zottigem Tuch und die Hosen aus den Fellen des Kamels. Sljepuschkin trank hauptsächlich Schnaps und Bier oder Bier mit Schnaps gemischt. Dies Getränk wurde »Kaulbarsch« genannt, wahrscheinlich darum, weil man es nicht mit einem Mal hinunterschlucken konnte. Als er bei Turbin zu Gast war, saß er bis drei Uhr in die Nacht und bat ihn oft, einen Zettel an den Krämer zu schreiben, daß er ihm ein kleines Dutzend schicken solle.

»Ich verstehe nicht,« sagte er schläfrig und voller Verachtung, indem er sich mit den Armen auf den Tisch stützte und den Lehrer mit bleiernem Blicke anschaute, »ich verstehe diese Zärtlichkeit nicht: Er wird mir doch nicht glauben … und ich bin doch, hoff' ich, in der Lage, Ihnen diesen unglücklichen Rubel zurückzuzahlen.«

»Selbstverständlich,« sagte Turbin, im Zimmer auf- und abgehend, wobei er verlegen ein Papier in der Hand drehte, – »ich zweifle nicht daran, aber wirklich …«

»Selbstverständlich, selbstverständlich,« machte ihm Sljepuschkin nach, wobei seine Augen noch trüber wurden.

»Meinetwegen,« begann Turbin, »aber die Hauptsache …«

Dann stand Sljepuschkin auf.

»Dieses ›Meinetwegen‹ ertrage ich schon gar nicht,« sagte er, voll aufrichtiger Verachtung …

»Wahrscheinlich werden wir uns nicht so bald wiedersehen« …

 

IX.

Indem er sich all dieser Einzelheiten mit Unbehagen entsann, erreichte Turbin das Schulgebäude und schaute durchs Fenster hinein.

Kondrat Semjonitsch lag mit den Stiefeln auf dem Bett. Taubkin, den gebeugten Rücken streckend und die Hände in den Taschen seiner neumodischen Hosen verborgen, blinzelte schweigend durch die Brille, Sljepuschkin spielte sehr aufmerksam auf der Guitarre, den Kopf zu Boden gesenkt und sich wiegend. Ihn begleitete auf einer Harmonika einer von den Kellermeistern, Mitjka Lislow, ein blonder, bartloser junger Mann, der einem Commis glich. Turbin sah ihn nur einmal bei Taubkin. Den ganzen Abend knackte er Sonnenblumensamen, »belästigte« die Fräuleins, tanzte dann geckenhaft hüpfend mit den zierlichen Beinchen in den geputzten Stiefelchen, mit aufgeknöpfter Joppe und schlug schließlich mit der flachen Hand wuchtig dem Turbin auf die Schenkel: packte das Bein und schüttelte es, unter einem trägen, süßlichen Lächeln. Jetzt spielte er ein »Schmachtendes« und sang mit seinem glückseligen Lächeln im Falsett:

»Allen Mamsellen von der Konfektion
Meine ehrerbietigste Devotion!«

Aber noch einer war da; ein wohlgestalteter Herr mit einem vollständigen Kahlkopf und langem, schwarzen Backenbart, er saß mit dem Rücken gegen das Fenster. Behutsam schlich Turbin an das entgegengesetzte Fenster und sogar seine Hände wurden kalt vor Wut: das war Prochor Matweitsch, der Lakai von Lintwarjow.

Lintwarjow ist also angekommen, dachte Turbin. Was wird das werden, wenn ich ihn besuche, im Saale sitze und plötzlich kommt Prochor Matweitsch herein?

Plötzlich ein Klopfen an der Tür und auf der Treppe wurden Stimmen hörbar. Turbin drückte sich um eine Ecke. Über den Schnee knarrten Schritte, Lislow spielte laut auf der Harmonika. Turbin schlich vorsichtig in die Schulstube. Die Tür auf der Treppe blieb offen; im Zimmer roch es nach Tabak und nach der frischen Winterluft. Turbin machte eine unzufriedene Miene. Plötzlich fiel sein Blick auf den Tisch: Ein Couvert aus festem, englischen Papier! Turbin errötete verlegen und riß es ungeschickt mit einem Metallkamm auf …

 

»Hochverehrter Nikolaj Nilytsch!« stand im Briefe, »entschuldigen Sie die verspätete Antwort. Als ich während meines Hierseins Ihren Brief erhielt, hatte ich keine Zeit, ihn zu beantworten, jetzt möchte ich persönlich mit Ihnen, was Ihre Bitte betrifft, besprechen, weshalb ich hoffe, daß Sie mir das Vergnügen machen werden, Sie am zweiten Feiertage abends bei mir begrüßen zu dürfen.

Ihr ergebener
P. Lintwarjow.«

 

Das war die Antwort auf die Bitte Turbins, ihm in seiner Schule mit Lehrbüchern aushelfen zu wollen. Aber jetzt hatte er keine Gedanken für die Lehrbücher: Er ging auf und ab im Zimmer und murmelte mit strahlendem Gesicht: »Ihr ergebener … bei Gott, ein sonderbarer Mensch« … und in seinem Innern zitterte alles vor freudiger Befangenheit.

 

X.

Die folgenden zwei Tage vergingen unruhig unter der fortwährenden Erwägung, ob er gehen solle oder nicht. Die verschiedensten Antworten gab sich Turbin jeden Augenblick darauf.

Am Morgen des Heiligabends wurde es sehr kühl in seinem Zimmer. Das Wasser in seinem Waschbecken war gefroren. Die Scheiben seiner beiden Fenster waren von oben bis unten mit Reif und vom Frost mit silbernen Palmenblättern und zierreichen Waldfarren bedeckt. Aber Turbin schlief einen tiefen Schlaf und erwachte heiter und gekräftigt, mit der angenehmen Empfindung eines guten Zieles. Er sprang auf und riß das eingefrorene obere Fenster auf. Ein pfeifendes Quietschen der Schlitten tönte über die ganze Viehweide hin: hinter dem Berge zog eine lange Karawane daher, die infolge der Nachtfahrt mit dem Dunge der Felder bedeckt war: Über den Schnauzen der Pferde lag flockiger Reif, während die Muschiks wie weiße Gestalten einherschritten … das Bild des Dorfes blendete durch seine schneeweiße Schönheit. Alles ging unter in den wunderbar zarten und reinen Farben des nordischen Morgens. Die Viehweiden, die Weiden und das ganze Dorf erschien wie aus Schnee gemeißelt – und über allem strahlte schon der Feuerglanz der ausgehenden Sonne. Turbin schaute durch das obere Fenster nach links und sah hinter der Kirche die blendend leuchtende Pracht; der Frostring mit zwei andern Nebensonnen erhöhte noch diesen Glanz.

»Wunderbar!« rief Turbin aus, schlug eilig das obere Fenster zu und huschte unter die Decke. Es war ihm angenehm, sich zu erwärmen, zu schlummern und zu denken: »Die Ohren!« sagte er laut und lachte, indem er sich erinnerte, daß die Bauern diese Nebensonnen »Ohren« heißen.

Die lustige Stimmung verließ ihn auch nicht, als er aufgestanden. Das Vorzimmer, in das er trat, um sich zu waschen, war ganz von der Sonne erhellt. Der Samowar war kalt und verstummt; Pawel war wie gewöhnlich nicht da, aber Turbin beachtete es nicht. Er wusch sich lange und besonders genau mit Borthymolseife, dann schaute er in das Schulzimmer hinein und dort war es jetzt besonders hell, in seiner sonnigen, vorfestlichen Morgenstimmung. »Rausche nicht, du Korn« … begann er aus voller Kehle zu singen … Die Stimme widerhallte dumpf in dem leeren Zimmer und das erinnerte ihn an seine Einsamkeit. Er verstummte und ging ins Vorzimmer, um am Fenster in der Sonne Tee zu trinken. Als er daran dachte, daß er die Messe versäumt hat, freute er sich sogar darüber. Es zog ihn irgendwohin, um etwas zu überlegen, reiflich zu überlegen. Aber er unterdrückte seine innere hast, räumte die Tassen und den Samowar auf, zog seinen neuen städtischen Überrock an und ging hinaus. Zudem er die Augen vor dem blendenden Schimmer der Sonne auf dem schneeigen Brokat, vor den glänzenden wie Elfenbein geschliffenen Wegkrümmungen, fest zudrückte, ging er, tief die kalte Luft einziehend, leisen Schrittes und bewunderte immer das Dorf, die blauen, scharfen Schatten an den Gebäuden und den Horizont des grünlichen Himmels über der weiten Waldung im Schneefelde: Dort gegen den Horizont war der Himmel besonders zart und klar. Der Reif legte sich lind auf die Lider, sein Atem rauchte und die Sonne wärmte seine Wangen. Turbin dachte, daß es jetzt gut ist, in der Sonne auf der stillen Tenne zu liegen, sich in den Garben zu wärmen und in dem frostige Feuchte atmenden Stroh. Und noch besser wäre es, sich in den Schlitten zu lehnen, halb die Augen zu schließen und sich hin- und herwiegend nur zu hören, wie die Glocken des lang eingespannten Dreigespannes summen und verhallen.

Ein Muschik mit einem Wagen holte Turbin auf dem Felde ein. Auf dem Leiterwagen rauchte ein Faß, inmitten duftender Trebern, mit Stroh verstopft.

»Wohl aus der Fabrik, Bursch?« fragte Turbin.

»Aus der Fabrik.«

»Ist der Herr schon lange da?«

»Das wissen wir nicht. Und Sie sind weit her?«

»Aus dem Wunderreich,« antwortete Turbin lachend.

Der Muschik betrachtete erstaunt seine hohe Gestalt. Turbin aber hatte ihn schon vergessen und suchte sich die Sache noch einmal zu überlegen.

»Nun also? Ich gehe also. Oder nein, besser nicht.«

Im Innern hatte Turbin noch gestern beschlossen zu gehen, aber er fürchtete etwas und war aufgeregt. »Ja, so ist's besser,« sagte er sich, »ich gehe am dritten Tage morgens, nur wegen der Angelegenheit und nur für kurze Zeit. Es ist undenkbar, mit einem Mal zu Gast zu kommen … das hat er so … aus Höflichkeit … ich bespreche die Angelegenheit mit ihm und gehe fort. Dann gegen Neujahr, zum Beispiel, da kann man schon einen Abend. Unbedingt, so mach' ich's, gewiß, wie in einer Apotheke.«

Aber unmerklich kam er immer weiter und weiter ins Feld und indem er sich das eine sagte, setzte er sogleich das andere diesem entgegen: »Nun also, wie denn?« … Als er sich seine befangene unbehagliche Lage bei diesem Besuch vorstellte, begann er sofort sich vorzureden, daß es dumm sei, sich alles in üblem Sinne auszumalen, daß er nicht schlimmer als die andern sei …

Schließlich verdarb ihm dies Wirrwarr die Stimmung, ermattete ihn und machte ihn nervös. Eilig ging er zum Mittagessen.

Als er zurückkehrte und sein elendes Zimmer, das zu den Feiertagen aufgeräumt und gewaschen wurde, erblickte, kam er sich ganz einsam vor und begann ruhiger und ernster nachzusinnen. Lange saß er am Tische, das Gesicht in die Hände gestützt und als er den Kopf erhob, war sein Antlitz düster, aber ruhig. Die Gedanken über den Besuch bei Lintwarjow kamen ihm so jämmerlich vor. »Es hat noch Zeit.«

Den ganzen Abend schrieb er Briefe, las und hatte Mitleid mit sich selber.

»Man muß halt leben wie man lebt! …« dachte er ernst.

 

XI.

Die Feiertage kamen heran.

Am ersten Tag fühlte sich Turbin so ganz eigen wie er es von Kindheit auf gewohnt war, sich an großen Feiertagen zu fühlen.

In gemessener Haltung stand er in der Kirche, in gemessener Haltung beging er das Ende der Fasten beim Pfarrer. Zu Hause wußte er nicht, was beginnen und schlenkerte zwecklos in der Klasse umher und schaute durch das Fenster … Die menschenleeren Straßen des Dorfes deuteten den Beginn der Feiertage an: Alle warteten auf etwas, zogen das beste Kleid an und wußten nicht, was tun. Vom Morgen an war es grau und windig. Nachmittag klärte es sich auf, die Sonne kam heraus; der Schnee wurde heller und gelber, der Dung rauchte in feinen Säulen über den Schneehügeln und zerstob in weißem Staube, die Raben flatterten schräg durch den Wind. Ein vorüberfahrender Muschik umwickelte seine Ohren mit einem Tuch und niederknieend trieb er das Pferd an. Der Leiterwagen lief, wobei er die Haufen des trockenen Schnees zerriß auf dem eingefrorenen Wege, rasselnd dahin.

Die Langweile überfiel den Lehrer mit frischen Kräften. Aber abends, als er in der Richtung nach der Fabrik ging, traf er unerwartet mit Lintwarjow zusammen und wurde ganz hilflos vor Befangenheit.

»Vergnügte Feiertage!« sagte er, halb galant und halb scherzend, wobei er sich ganz unnatürlich hin- und herwand.

Lintwarjow war von mittlerer Größe, fünfunddreißig Jahr alt, mit einem einfachen, angenehmen Gesicht, blondem Bärtchen und freundlichen Augen. Er trug eine Pelzjoppe und Filzstiefel und eine Schaffellmütze auf dem Kopf.

»Ah, Nikolaj Nilytsch,« sagte er, auffahrend, in freundlichem, sogar schmeichelhaftem Tone. »Grüß Gott! Grüß Gott! Danke schön … Nun und Sie, ist Ihnen die Zeit nicht lang geworden?«

»Vorläufig noch nicht,« antwortete Turbin errötend, wobei er sich bemühte, in jedes Wort etwas Besonderes oder gar Ironisches hineinzulegen.

»Ja ja …«

Sie standen und wanden sich.

»Nun, wir sehen uns also … auf morgen?«

Turbin verneigte sich wieder, galant und komisch zugleich.

In großer Eile ging er nach Hause. Was soll ich, wo nehm ich ein gestärktes Hemd her, in einem gestickten ist's unmöglich! … Und abends nähte er lange mit großer Mühe die Rückennaht des Stiefels zusammen, beschmierte sie mit Tinte und sein Gesicht war an diesem Abend so gut, offen und heiter. Die Feiertage kamen ihm schon als eine Reihe von lebhaften Abenden vor in der Gesellschaft von klugen und anregenden Menschen, in neuer heiterer Umgebung.

 

XII.

Der Morgen kam und die Sorgen begannen! Den ganzen Morgen lief er von einem Zimmer ins andere, wusch sich, begann einige Male die Stiefel zu putzen, beschmutzte und wusch sich wieder die Hände und dachte immer an das gestärkte Hemd.

»Ich weiß tatsächlich nicht, wie ich es machen soll!« sagte er, mitten im Zimmer stehen bleibend. »Soll ich zu Sljepuschkin schicken? Undenkbar! Da geht das Gerede los … Lintwarjow erfahrt's noch … Scheußlich!«

Aber etwas Ähnliches geschah.

Gegen Mittag fuhr vor der Treppe der Schule das Fuchsgespann Kondrat Semjonitschs vor. Sein Gesicht war vom Froste besonders frisch und dunkel gerötet. Sein Kinn war rasiert, der schwarze, schneidige Schnurrbart glänzte hell. Er trug einen schwarzen Anzug; seinen grauen Bärenpelz legte er im Vorzimmer ab. Breitschulterig, untersetzt – er wird unterwegs nicht zerbrechen, wie man zu sagen pflegt – forsch mit seinem hinkenden Fuß auftretend, ging er hastig zu Turbin hinein, küßte sich kräftig mit ihm, wobei Turbin eine frostige Feuchte und der Geruch des Frühstücks umwehte, und nahm sofort lebhaft teil an seinen Garderobesorgen.

»Nur zu! Bruder! Nur zu! Immer tapfer!«

Turbin betrachtete zwar Kondrat Semjonitsch als einen leeren Menschen, aber er wußte, daß Kondrat Semjonitsch in der »Gesellschaft« gewesen und gute Ratschläge erteilen konnte.

»Wie soll ich denn das …?« sagte er, das Lächeln unterdrückend.

»Da habe ich eine so unangenehme Geschichte, ich hab' kein gestärktes Hemde.«

Kondrat Semjonitsch schüttelte den Kopf.

»Nein, Bruder, das ist übel. In einem gestickten Hemde das erste Mal in ein Haus kommen, ist eine Frechheit!«

»Hm! Was denn dann?« sagte Turbin hilflos.

»I, zum Kuckuck!« sagte Kondrat Semjonitsch, »nur nicht schüchtern sein.«

Und indem er das Fenster öffnete, schrie er mit heiserer Jägerstimme: »… Du Waska … schnell, nach Haus … wie der Wind hol' mir ein gestärktes Hemd … aus der Lade, unter der Sommerjoppe …«

Bis Wassilis das Hemd brachte, erzählte Kondrat Semjonitsch, wo er schon gewesen und mit einem Satyrlächeln, wobei seine kleinen, braunen Augen glänzten, zog er aus dem Ärmel des Pelzes eine Flasche Schnaps.

»Da nimm nur, um dir Mut zu machen! Willst!« sagte er – indem er den Siegellack vom Halse klopfte.

»Nein! nein!«

»Was? Du meinst, man riecht es? Keine Spur! Trink nur Tee darauf. Ach übrigens, hol' dich der Teufel! hast du eine Tasse?«

Als er eins getrunken und einen Zwieback dazu gegessen hatte, begann Kondrat Semjonitsch in vollstem Ernst:

»Du, Bruder, benimm dich doch ein bissel freier, ungezwungener. Sonst sitzt du da, als hättest du 'nen Stock verschluckt.«

»Und wie sind die Hosen? Geht's?« fragte Turbin.

Kondrat Semjonitsch untersuchte sie ganz gewissenhaft und sah nach.

»Es geht schon,« sagte er fest, »bei deiner Seele. Nur ein bissel verknüllt sind sie. Zieh sie aus, wir wollen sie glatt machen.«

»Nein, nein, dummes Zeug,« murmelte Turbin errötend.

»Nun, wie du willst.«

Kondrat Semjonitsch warf sich aufs Bett und begann halblaut zu singen:

»Für Fisch und Krebs das Wasser,
Für Herren und Damen der Wein,
Für Helden aber ist der Schnaps allein.«

Inzwischen brachte Waska das Hemd. Kaum aber hatte Turbin es angezogen, als Kondrat Semjonitsch vor Lachen bersten wollte.

»Nein, du blamierst dich unsterblich,« wieherte er, das Hemd über Turbins Kopf ziehend, – »Unmöglich!«

Das Hemd war auch in der Tat unmöglich. Es war sehr schlecht gestärkt, ganz schmutzigblau und der Kragen war zu weit für Turbin.

»Dekolettiert!« wiederholte Kondrat Semjonitsch unter Lachen.

Turbin errötete von neuem und schwitzte sogar vor Wut.

»Ich bin doch kein Hanswurst für Sie,« schrie er in toller Wut.

Da fühlte sich Kondrat Semjonitsch seinerseits unbehaglich.

»Warum bist du denn böse,« begann er verlegen. »Selbst ist er dürr wie eine Bohnenstange … direkt wie eine Vogelscheuche … und zürnt mir … bei Gott, es kam mir doch von Herzen … Nun, willst du, ich hole dir eins.«

»Ich versteh' nicht, woher,« murmelte Turbin, zur Seite schauend.

»Das laß nur meine Sache sein! Willst du?«

Und ohne auf die Antwort zu warten, schlug er die Tür zu, warf sich den Pelz um und lief auf die Treppe hinaus.

»Los!«

Das Fuchsgespann griff aus, den Berg hinan. Turbin stürzte vor die Tür.

»Kondrat Semjonitsch! Kondrat Semjonitsch!« schrie er in heller Verzweiflung.

Kondrat Semjonitsch machte nur eine Handbewegung.

»Gott weiß, was das ist,« sagte Turbin ins Zimmer tretend. »Die ganze Fabrik wird's also erfahren! Ach, du mein Gott! Was ist da zu machen.«

Als jedoch Kondrat Semjonitsch nach zehn Minuten zurückkam und Taubkin mit seinem gestärkten Hemd mitbrachte, und Taubkin ihn in der gefühlvollsten Weise zu bitten begann, sich keine Sorgen zu machen, und als das Hemd sich als passend herausstellte, begann Turbin, ganz rot vor Aufregung, zu lächeln.

»Warum sorgen Sie sich,« begann Taubkin im Falsett. »Wozu denn? Was ist denn dabei! Versteh' ich denn nicht? Selbstverständlich bleibt es unter uns. Wollen Sie vielleicht meine Uhr?«

Turbin schlug es aus. Kondrat Semjonitsch lobte in übertriebener Weise den Anzug, doch sprachen alle drei, wer weiß, warum, nicht von Lintwarjow.

Schon in der Dämmerung war Turbin fertig. Er wurde heiterer, obwohl er sich aufgeputzt und wie eingeschnürt fühlte. In Erwartung setzte er sich bald auf den einen Stuhl, bald auf den andern.

»Sie wollen zu Lintwarjow selbst?« fragte plötzlich Taubkin so nebenher.

»Ja, so, wissen Sie, zum Teil, wegen einer Angelegenheit.«

»Dann müssen Sie jetzt gehn.«

Turbin hatte schon selbst daran gedacht.

»Es ist wirklich schon Zeit,« erwog er. Was hat es denn für einen Sinn, zu kommen, wenn die teilte schon wieder nach den Hüten greifen? Du bringst nur deine Gastgeber in Verlegenheit.«

»Und wie spät ist es?«

»Viertel nach sechs.«

»Nun also, vorwärts, Bruder,« stimmte Kondrat Semjonitsch bei.

»Ja,« willigte Turbin ein, indem er sich langsam erhob.

Kondrat Semjonitsch warf sich singend den grauen Pelz um und schaute den Überzieher Turbins an.

»Fixer Kerl!« sagte er, nur mit den Augen lachend. »Willst du, ich nehme dich ein Stück mit.«

Turbin beeilte sich, es abzuschlagen.

»Hol' dich der Teufel! Wir fahren!«

Er brachte sein Gesicht Turbin zu einem Kuß unter die Nase, schwang sich neben Taubkin in den Schlitten und schrie:

»Schau dir nur die Lintwarjow etwas näher an! Famoses Weib, Gott verflucht!«

 

XIII.

Als Turbin schon in der Allee vor Lintwarjows Haus war, bekam er plötzlich Angst, schaute sich um und ging hastig wieder in der Richtung nach dem Berge.

»Es ist zu früh, zu früh! Es ist undenkbar, so früh zu kommen!«

Aufgeregt und hastig, als ob er eine wichtige Sache zu erledigen hätte, ging er bis zur Brücke und schaute sich wieder um: »Das wird aber scheußlich sein, wenn sie mich gesehen haben! Aber es war kein Mensch ringsum. Nur im Dorfe auf der Straße hörte man die Mädchen lärmend singen. Aus dem Hause über die Allee hin leuchteten rätselhaft die Fenster.

»Was mag dort im Hause sein? Hat der Abend schon begonnen oder nicht? Und wer ist dort und was macht man dort? Und die Einrichtung? Wahrscheinlich Lüster, Sammet, Familienporträts …« dachte Nikolaj Nilytsch, wobei er sein Gesicht in ernste Falten legte. Und zu gleicher Zeit schwirrt in seinem Kopfe: »Jetzt zähle ich noch bis hundert … nein, bis zweihundert und dann gehe ich hinein.«

Plötzlich hörte er auf der Brücke das Geräusch von Schritten. Turbin kehrte um und lief fast, ohne sich umzuschauen, durch die Allee. Ohne zu denken, öffnete er schnell die Tür, schritt über drei Stufen in den Hausflur und tastete an der Wand nach der Klingel. Aber das Türschloß knarrte und ein hübsches, nett aufgeputztes Mädchen erschien auf der Schwelle.

»Ist Pawel Andrejewitsch zu sprechen?« fragte der Lehrer den Hut abziehend.

»Bitte, treten Sie ein.«

Das Dienstmädchen half ihm aus dem Überzieher und ging hastig durch die Zimmer. Wie im Nebel sah Turbin einen großen, hell erleuchteten Saal, ein offenes glänzendes Klavier aus schwarzem Holze, feine Stühle, gleichfalls aus schwarzem Holze und tropische Gewächse …

Ihn setzte nur der Verschlag aus Milchglas daneben, der mit sonderbaren, chinesischen Malereien verziert war, in Erstaunen; alles andere schien ihm sehr einfach. Der Saal sah gar nicht wie ein feierliches Paradezimmer aus; es herrschte sogar die Unordnung eines Wohnzimmers darin: Stühle standen bunt umher, auf einem kleinen Tische lag eine Frauenarbeit. Mit den Pfoten auf dem Parkett kratzend lief ein zierlich feines Hündchen aus dem Eßzimmer heraus und hinter ihm kam Lintwarjow.

»Ich habe die Ehre zu gratulieren,« sagte Turbin und nahm in seiner Verlegenheit das Taschentuch heraus.

In freundlicher Zuvorkommenheit drückte Lintwarjow ihm die Hand. »Dürft ich Sie bitten näher zu treten, dürft ich Sie bitten!«

Und indem er Turbin vorangehn ließ, führte er ihn nach dem Eßzimmer.

»Ah, Nikolaj Nilytsch,« sagte Nadeschda Constantinowna in einem Tone, als hätte sie ihn längst erwartet.

Turbin scharrte mit den Füßen und schaute sich um.

»Nikolaj Nilytsch Turbin … Herr Turbin …« sagte hastig der Hausherr.

Ein junger, frischer und schöner Marineoffizier erhob sich schnell und verbeugte sich mit übertriebener Höflichkeit. Ein hoher, hagerer und breitschulteriger Arzt, mit einem wettergebräunten Gesicht von nichtrussischem Typus, drückte ihm einfach, ohne ein Lächeln, die Hand.

Ein älterer, vornehmer Herr neigte, ohne aufzustehn, mit zurückhaltender Höflichkeit den Kopf.

»Nehmen Sie nur Platz,« sagte wieder die Hausfrau in einem Tone als wollte sie sagen: »Nun endlich, jetzt wird alles famos gehn.«

Turbin setzte sich, trocknete sich die Stirn mit dem Tuche und es war ihm immer noch als sähe er alles durch Wasser. Als einer von den Gästen ihm nicht die Hand reichte, empfand er es fast wie einen physischen Schmerz im Herzen. Jetzt schaute er aus wie ein Mensch, der in heißer, schwüler Hitze umherlief.

»Nikolaj Nilytsch, wie viel Stück Zucker darf ich Ihnen hineintun?« wandte sich wieder die Frau des Hauses mit einem zuvorkommenden Lächeln an ihn.

Turbin fuhr zusammen: »Ohne Zucker, wenn ich bitten darf,« sagte er.

Und er nahm das Glas voller Todesangst, es auf das Tischtuch zu verschütten oder die Hände Nadeschda Constantinownas mit seinen Fingern zu berühren. Da das gemeinsame Gespräch auf einen Augenblick unterbrochen war, fuhr sie fort: »Nun, wie geht's bei Ihnen in der Schule?«

»Nichts … Sehr gut!« antwortete Turbin und seine Stimme kam ihm fremd und zu laut vor.

»Und in Mascharowka bleiben Sie die ganze Weihnachtszeit über?« fügte voller Teilnahme der Hausherr hinzu.

»Ja, schon dieses Jahr, glaub' ich, ich hab' beschlossen, daß es besser ist, daß ich nicht fahre.«

»So?« sagte Lintwarjow den Kopf neigend, als wäre er angenehm erstaunt. Dann wandte er sich mit schuldbewußtem Lächeln, als wolle er die notwendige Unterbrechung entschuldigen, zu seinem Nachbar: »Und Sie waren nur zehn Tage in Wien?« und er lud mit einer Handbewegung den Lehrer zur Teilnahme an dem allgemeinen Gespräch ein.

Das Gespräch wurde lebhafter. Da Turbin sich freier gebärden wollte, begann er sich umzuschaun.

 

XIV.

Jener Herr, der Turbin nicht die Hand gereicht, war Constantin Pawlowitsch Beklemischew, ein reicher Gutsbesitzer, ein Mitglied des Direktoriums einer Privatbank in A. und eine angesehene Persönlichkeit im Landschaftsamte. Lintwarjow machte sich öfters hinter seinem Rücken über ihn lustig, wie über alle seine Bekannten, im Grunde aber hegte er eine große Achtung für ihn: Beklemischew verstand Eindruck zu machen. Er war von mittelgroßem Wüchse, wohlbeleibt, aber elegant, von vornehmer Herkunft, mit einem mattfarbenen, jugendlichen Gesicht, obwohl schon ergraut. Er benahm sich mit einer wunderbaren Kaltblütigkeit. Auf den Versammlungen, während die andern stimmfähigen Mitglieder wie Spatzen einander unterbrachen, die einen, indem sie einfach, praktisch, in familiärem Ton zu sprechen sich bemühten, die anderen in gehobenem Tone Anspruch auf eine literarische Rede machten – rauchte Beklemischew ruhig seine Zigarre und wenn er sprach – gewöhnlich zuletzt – sprach er sehr zurückhaltend, sachlich und ernst – und diese Sachlichkeit besiegte alle. Und jetzt saß er ebenso einfach und ruhig bei Lintwarjow und erzählte, indem er rauchte …

Turbin suchte ihn nicht anzuschaun. Der Landarzt benahm sich auch würdevoll, aber einfach und sein Tscheremissengesicht und seine Blicke durch die Brille, zwischen den hastigen Schlucken aus dem Teeglas, machten dem Lehrer keine Angst. Die Verwandten der Hausfrau, die Töchter des Fürsten Tripolski flochten oft Bemerkungen in die Erzählungen Beklemischews, in nachlässig aristokratischem Tone ein. Turbin hatte sie schon einige Male im Herbst gesehn, wo sie wie Amazonen durch das Dorf geritten. Beim Pfarrer und beim Krämer sprach man dann endlos von ihnen. Von dem alten Koch wußten alle, daß die Fürstentöchter sehr reich sind, daß sie bald in Petersburg, bald auf ihrem Gut wohnen, bald bei Lintwarjow zu Gast sind, am meisten aber im Auslande. »Was brauchen sie denn? Fahren zu ihrem Vergnügen herum – und fertig!« sagte der Krämer verständnisvoll.

Aber, wie es schien, waren die Fürstentöchter nicht besonders vergnügt. Die ältere, die elegant, aber nicht schön und nicht mehr jung war, lebte fast mechanisch in der großen Welt, wenn auch ohne Langweile: Ihr Leben war eine beständige Hin- und Herreise. Die jüngere war jung, schön, aber langweilte sich und kokettierte graziös mit ihrer Langweile. Sie lächelte als schnitte sie eine Grimasse, aber die Grimassen war nett und anmutig. Beide besuchten Hochschulkurse und benahmen sich nicht wie Fürstentöchter.

Als man Turbin vergessen hatte, beruhigte er sich und fühlte sich nur so wunderbar wohl in dieser neuen Umgebung, bei dem leicht dahingleitenden Gespräche, an der Seite der Hausfrau, die einer englischen Lady glich: Solch feine Gesichtszüge, solch reine und zarte mattfarbene Haut, hatte er noch nie gesehn. Und als er aufstand, war es ihm so leicht und angenehm, den feinen, schönen Stuhl von sich zu schieben, über das Parkett dieses geräumigen Eßzimmers zu gehn, das so hell von einer großen Hängelampe über dem Tisch beleuchtet war, den Glanz des silbernen Samowars zu sehn und das Geschirr von feinstem Glas. Zwar passierte ein unangenehmer Zwischenfall: Während der Erzählung Beklemischews hatte sich Turbin, der nicht wußte was anzufangen, niedergebeugt und den kleinen Hund gefangen, aber dieser entschlüpfte seinen Händen wie glatter Stahl und stieß dabei ein derart schrilles Geheul aus, daß die Hausfrau an ihre Schläfe griff und alle zusammenfuhren und ihn ansahen. Turbin wollte vor Verlegenheit in die Erde versinken, aber es gelang der Hausfrau selbst, diese Geschichte zu vertuschen und sie wandte sich zu ihm in ungezwungenem Tone als ob gar nichts vorgefallen: »Nikolaj Nilvtsch möchten Sie noch Tee?« so daß er sich fassen konnte und geschickt antworten: »Nein, merci … schon genug,«

Er trank zwei Glas aus, indem er mit Genuß das Aroma des Rums einsog, den ihm der Hausherr voll stiller Vertraulichkeit in den Tee goß. Und vom Rum wurde er lebhaft, kühn und fühlte eine gewisse Elastizität in seinen Füßen. Er wurde sogar gar nicht verlegen, als noch einige Gäste kamen: Eine schöne, üppige Gutsbesitzerswitwe mit gebrannten Haaren und vor Frost brennenden Ohrläppchen; ein alter Gutsherr, der etwas mit seiner Einfachheit kokettierte, den aber alle ob dieser Einfachheit liebten und den bald alle lustig lachend umringten, ein Ingenieur, ein magerer, schwarzer, lebhafter Jude, jenem kleinen Hunde, den Turbin gefangen, ähnlich und endlich ein Mitglied des Gerichtes, so akkurat wie alle Gerichtsbeamten; ein ungezwungener, lustiger Witzbold, der klug ironische Augen machte und wie zu Hause durch alle Zimmer ging, sich ans Klavier setzte und stürmische Akkorde griff.

Man sprach vom Theater. Die Fürstentöchter erzählten mit Entzücken vom Spiele einer kleinrussischen Schauspielerin in Petersburg, von der Oper Carmen, schimpften auf Manzini und lobten Figner … erzählten von ihren Bekannten, von Tolstoi, von dem Dichter Nadson, und als wollten sie schildern, was für ein kranker und netter Mann er war, erzählten sie, wie er sie besucht habe und sie ihn dafür in Nizza aufgesucht hätten. Das Gerichtsmitglied deklamierte die bekannten Parodieen auf Nadsons Verse. Dann zersplitterte sich das Gespräch. Auf der einen Seite hörte man die Namen der Bekannten, auf der andern immer noch Mazinis und Figners. Hin- und herschlendernd ging der Lehrer bald zu der einen, bald zu der andern Gruppe und brannte die ganze Zeit, etwas zu sagen, aber man sprach die ganze Zeit von ihm unbekannten Dingen und er schwieg oder lachte verstohlen und unaufrichtig, wenn die andern lachten.

»Und Sie noch immer bei der Gewerbeschulbildung …?« sagte er schließlich, auf Lintwarjow und Beklemischew zugehend, die im Eßzimmer sprachen.

Beklemischew sah ihn an.

»Nein! Warum denn?« sagte Lintwarjow lächelnd.

Turbin erhob sich auch lächelnd auf den Fußspitzen, wodurch er noch länger wurde, ließ sich wieder fallen und fuhr fort: »Sie wollen, wie ich hörte, sich ernst damit beschäftigen.«

Aus Ungeschicklichkeit betonte Turbin jedes Wort und man konnte es für eine Ironie halten. Besonders unbehaglich wurde ihm unter dem starren und ruhigen Blicke Beklemischews. Dennoch setzte er sich mit an ihren Tisch, und indem er zuerst den Stuhl betrachtete und die Frackschöße auseinanderbreitete, spreizte er in scharfem Winkel seine dünnen Beine, und den Arm auf die Knie gestützt, begann er die Spitzen seines spärlichen, blonden Schnurrbartes zu zupfen.

»Offen gestanden interessiert mich diese Frage sehr,« sagte er nach einem kurzen Schweigen ganz unvermittelt. »Ich spreche natürlich aufrichtig« …

»Von welchem Standpunkte interessiert Sie das?« fragte Beklemischew.

»Ja, wie, von welchem Standpunkte? … Überhaupt! … In ihrer Anwendung auf das Leben.«

Beklemischew stützte seine Hände auf den Tisch und die Handflächen zusammenlegend, schaute er, ob die Finger zu einander passen. Lintwarjow beschäftigte sich eifrigst mit dem Stopfen von Zigaretten. »Ich las,« fuhr Turbin schon mit einer gewissen Anstrengung fort, »vor kurzem in einer Zeitung von dem Buche eines Herrn Wessel über gewerbliche Bildung … Mich setzte es eigentlich in Erstaunen, daß man offenbar seinen Gedanken feindselig gegenübersteht: z. B. der Direktor der kronprinzlich Nikolaischen Gewerbeschule … ich glaube, daß hier eine Ungerechtigkeit vorliegt … er sagt z. B., daß die Schule eigentlich unvereinbar mit einer Werkstätte ist …«

»Das heißt, das ist die Meinung Pestalozzis,« unterbrach ihn sanft Lintwarjow, »Wessel aber, obwohl …«

»Nun ja, auch Pestalozzi …« fiel ihm seinerseits Turbin in die Rede und schon entbrannte der Wunsch in ihm, zu diskutieren. »Nur ist es aber, meines Erachtens, auch verständlich … wann sollte ich, dürft' ich Sie fragen, meinen Kleinen verschiedenes Spielzeug zu zimmern lehren, wenn sie selbst, so zu sagen, in ihrer Umgebung …«

»Warum gerade Spielzeug?«

Turbin lächelte heiter und freundlich.

»Mir kommt das eigentlich alles als ein Spielzeug vor … ich kann es Ihnen nicht leicht erklären, aber alle diese neuen Pläne … man spricht da von einer Stütze der Landwirtschaft … es ist doch lächerlich, etwas zu stützen, was vollkommen morsch ist … auch entspricht es nicht dem Geiste unseres Volkes, das ein echter Ackerbauer ist … und wollte man ihm z. B. Körbe flechten lehren … nun ja … lautet doch das Sprichwort: Einen Weisen lehren, heißt ihn verderben,« sagte ironisch Beklemischew.

Turbin schaute ihn an und wollte fortfahren, seine Gedanken klarer und zusammenhängender darzutun. Aber Beklemischew sagte, als hätte er Turbins Gegenwart vergessen, leise und ruhig zu Lintwarjow: »Ja, so glaube ich, schwebt es noch in der Luft: Der Fürst ist zu dumm dazu und Garnizki zu jung.«

Lintwarjow blickte wie entschuldigend auf Turbin. Turbin verstummte. – Jetzt wollte er nur eins – so schnell als möglich das Eßzimmer verlassen, aber es war ihm peinlich, plötzlich aufzustehn.

»Ich wollte schon längst Sie um ein Buch aus Ihrer Bibliothek bitten,« sagte er schließlich sich erhebend.

»Mit größtem Vergnügen,« beeilte sich Lintwarjow zu antworten.

Turbin erhob sich und ging langsam durch das Eßzimmer. Lange stand er vor dem Kamin, lange betrachtete er das große Porträt Tolstois, das in Öl gemalt war. Er begann sich aber schon unbehaglich zu fühlen. Die Musik im Saale griff ihm krankhaft ans Herz. Und die Gelegenheit benutzend, gleichsam als wolle er zuhören, ging er hastig hinüber in den Saal.

 

XV.

Aufgeregt saß er lange da, ohne zu wissen, was man spielte. Der Gerichtsbeamte spielte.

»Was ist das?« fragte der alte Gutsherr, der neben ihm saß, sich an die Hausfrau wendend.

»Die Sonate von Grieg, erinnern Sie sich nicht?«

»Schon zehn Jahre hab' ich nicht gespielt,« sagte der Gutsbesitzer seufzend, »aber schön ist sie!«

»Wunderbar!« stimmte die Hausfrau bei.

Die Musik Griegs gefiel Turbin entschieden nicht. Die Töne kamen so geziert, hastig und rührten sein Herz nicht. Er fühlte, daß diese Musik ihm ebenso fremd ist wie die Gesellschaft, die ihn umgibt. Den ganzen Abend hatte er von Anfang an gewartet, daß etwas Gutes kommen wird. Jetzt ließ dieses Gefühl nach. Er dachte, daß er nach Hause gehn müßte, da ihn niemand braucht. Niemand hat für ihn Interesse gezeigt, niemand mit ihm gesprochen, um zu erfahren, was für ein Mensch er sei. Sogar der Hausherr ist nur von gedrückter und zuvorkommender Höflichkeit ihm gegenüber … Und in dem Maße als die Töne der Griegschen Sonate ineinander verschmolzen und anschwollen, wurde es öder und kälter in seiner Seele.

Die Musik verstummte. »Ich bleibe noch etwas sitzen, höre noch ein wenig zu und gehe fort,« beschloß Turbin. Man begann von Grieg zu sprechen. Der alte Gutsherr schüttelte voll gutmütiger Ironie den Kopf. »Gut, aber es packt nicht« sagte er. Der Gerichtsbeamte suchte hitzig nachzuweisen, daß Grieg prächtig ist.

»Und seine Symphonie!« schrie er entzückt, »und Peer Gynt? Das ist das Wunder der Kunst.«

»Wer ist denn der Peer Gynt?« fragte der Alte.

»Ach, machen Sie doch keinen Spaß, Sergej Lwowitsch!«

»Was? Bei Gott, ich weiß es nicht.«

»Das ist die Musik zu dem dramatischen Gedicht Ibsens.«

»Und was ist das für ein Ding – Peer Gynt?« fragte Sergej Lwowitsch zum wiederholten Male.

Der Gerichtsbeamte wurde verlegen. »Das ist der Name des Helden,« sagte er und begann sofort zu spielen. Mit nachdenklichem Lächeln begann er die »weißen Nächte« von Tschaikowsky:

»O welche tiefe, stille Zaubernacht –
Mein mitternächtig Heimatland hab Dank!«

Turbin kannte weder diese Worte noch Tschaikowsky; aber schon bei den ersten reinen, poetischen Tönen der Melodie erzitterte sein Herz; etwas Lindes, Rufendes war in ihnen; und als diese rufenden Töne sehnsuchtsvoll traurig wurden, wollte Turbin weinen vor dem süßen Weh in der Seele. Im Geiste sah er sich jetzt in seinem Zimmer und etwas rief wach seine liebsten Erinnerungen, öffnete und erfaßte sein Herz wie etwas lang Vergessenes und Gutes, wie die erste Liebe. Ein solches Mitleid hatte er mit sich selbst, so verklärt fühlte er sich selbst in diesen Augenblicken.

Als das Klavier verstummte, schwiegen alle. Turbin stand auf und ging auf dasselbe zu. Gewollte noch mehr Musik hören, aber er wußte nicht, was er nennen sollte. Er dachte an das »Gebet der Jungfrau«, aber er schämte sich, das zu sagen.

»Bitte spielen Sie noch etwas,« wandte er sich schließlich schüchtern an den Gerichtsbeamten.

»Was denn?« fragte dieser in den Noten wühlend.

»Etwas von Beethoven.«

»Und Grieg? Gefällt er Ihnen nicht?«

»Nein.«

Der Gerichtsbeamte schaute ihn aufmerksam und etwas ironisch an.

»Eine Sonate?« fragte er.

Turbin wand sich verlegen hin und her.

»Ja, eine Sonate.«

»Welche denn?«

»Das ist gleich,« murmelte Turbin vor sich hin, indem er fühlte, daß man ihn auslacht.

»Ist's Ihnen wirklich gleich?«

»Nun, lassen wir diesen Stoff,« unterbrach der alte Gutsherr das Gespräch, indem er Turbin bei der Hand faßte und so einfach und sanft zu reden begann, daß Turbin ganz heiter wurde und schon ohne Befangenheit antwortete. Mit seinen guten, grauen Augen lachend, sprach Sergej Lwowitsch über alles, mit einem so wunderbar eigenartigen und lieben Humor und bezeigte ein großes Interesse, als er erfuhr, daß Turbin Guitarre spielte.

»Besuchen Sie mich doch mal, ich lasse Sie mit meinem Gespann holen, gegen Neujahr. Geht's?«

»Es geht,« antwortete Turbin heiter. Aber da rief man zum Essen. Turbin nahm eine abgemessene Haltung an und ging langsamer als alle zu Tisch. Der Hausherr lobte und bot besonders den Hering an. Der Gerichtsbeamte probierte davon mit dem Anschein eines Kenners, und fand ihn »genial«. Sergej Lwowitsch wechselte mit Turbin einen Blick, und das stimmte Turbin noch heiterer.

»Nikolaj Nilytsch, ein Schnäpschen?« sagte der Hausherr.

»Jaja, bitte.«

»China – oder Einfachen?«

»Wenn China, dann China.«

»Da, bitte, bedienen Sie sich selbst.«

»Lassen Sie sich nur nicht stören, lassen Sie sich nur nicht stören! Bitte schön!«

Man drängte sich in lebhaftem Gespräch um den Tisch.

Mit dem Teller in der Hand stand Turbin lange hinter allen. Er hatte nichts zu Mittag gegessen und darum trank er mit Vergnügen ein Glas Schnaps, fischte mit der Gabel nach einem ihm entgleitenden Pilz und nahm für's erste mit einer Pastete vorlieb. Nach dem ersten Gläschen fühlte er einen leichten Schwips, wurde sehr hungrig und indem er hinüberschielte und möglichst langsam aß, nahm er nur Omare. Der Gerichtsbeamte schlug ihm schon freundschaftlich vor, mit ihm zu trinken und der Lehrer trank noch ein Gläschen Einfachen.

Der Schnaps und der freundschaftliche Ton des Gerichtsbeamten stimmten ihn ganz weich. Während der ersten Augenblicke seiner heiteren Laune fühlte er sich ganz wie am Anfang des Abends: Wie durchs Wasser sah er den Glanz der Lichter und des Geschirrs, die Gesichter der Gäste, hörte das Sprechen und Lachen, fühlte, daß er die Fähigkeit verliert, seine Worte und Körperbewegungen zu regieren, obwohl er noch alles deutlich erkannte. Das rot gewordene, in Schweiß gebadete Gesicht bedeckte sich gleichsam mit Spinngewebe; im Schädel brummte es ein wenig und dennoch bemühte er sich, tapfer und heiter um sich zu schaun mit seinen verschleierten Augen. Zugleich war es ihm heiß. Als ihn dann Lintwarjow (Turbin schien auch dieser angeheitert zu sein) an den Arm faßte und ihn zum Tische, zum Abendessen führte, kam er sich so lang und tölpelhaft vor.

»Wollen wir nicht noch ein Gläschen vor der Forelle nehmen?« sagte der Gerichtsbeamte.

»Der selige Theodorit, macht immer wieder mit,« – antwortete Turbin lachend.

» Repetitio est mater studiorum – nicht wahr?« sagte von der andern Seite des Tisches der Marineoffizier, sichtbarlich in seminaristischem Tone.

Turbin merkte es und sah den Offizier herausfordernd an. – »Nun, und hol' dich der Teufel,« dachte er – und schrie grinsend » Optime!«

Der Gerichtsbeamte füllte eilig die Gläser. Die Hausfrau sah ihn dabei nebenher mit einem bedeutsamen Blicke an. Turbin bemerkte auch das, aber er konnte sich gar nicht beleidigt fühlen, so einfach und warm wurde es in seiner Seele.

»Das ist aber das letzte,« sagte er, indem er trank, mit einer Handbewegung. – »Ich bin schon so wie so naß wie eine Maus.«

Um das Lachen zu unterdrücken, stopfte die jüngere Fürstentochter das Taschentuch in den Mund.

Turbin betrachtete das feine Profil ihres Gesichtes, ihre lachenden Augen und sein Herz hüpfte gleichsam. Eine solche Jugend atmete sie, so schön waren die dunklen Locken über ihrer matten Stirn.

Das Abendessen ging, wie es Turbin schien, sehr schnell vorüber. Er wußte nur, daß er ein heißes Roastbeaf gegessen, wobei ihm das Gewürz wie Feuer den Mund verbrannte, daß er ein Stück Birkhuhn zu sich genommen, Madeira und Lafitte trank, und daß er wenig begriff, was gesprochen wurde. Zu seinem Glücke war Beklemischew irgend wohin verschwunden. »Wahrscheinlich bläht er sich hinter den Karten,« dachte Turbin.

Als man den Champagner servierte (es war der Geburtstag der Hausfrau) und Turbin sein Glas bekam, erhob er sich hastig und schrie mit betäubender Stimme »Hurra!« Aber infolge des allgemeinen Lärmes beachtete man es nicht besonders. Alle drängten sich in Haufen, der Hausfrau und Lintwarjow selbst zu gratulieren. Lintwarjow, das Glas in der einen Hand und die andere am Herzen, suchte sich den Anschein zu geben, als wäre er sehr gerührt und zugleich sollte es ein Scherz sein. Hurra! schrie Turbin noch einmal, aber schon stiller und seine Lippen umspielte ein schwaches, jämmerliches Lächeln.

»Es lohnt sich nicht,« flüsterte ihm der Arzt, seinen Arm drückend zu.

»Nun, dann nicht!« und lächelnd ging Turbin hinaus in den Saal. Jetzt fühlte er sich schon heimisch in seiner Ohnmacht über sich selbst.

 

XVI.

Nach dem Abendessen wurde alles lebhafter. Der Diener reichte den Tee, den der Hausherr angeboten. »Ich hab's gern, ich Sünder,« sagte er. »Meine Herren, wer will von der chinesischen Pflanze?«

Alle nahmen diesen Vorschlag mit lärmendem Beifall auf: »Wir bitten! Wir bitten!«

»Ablehnen!« schrie Sergej Lwowitsch unter allgemeinem Gelächter.

»Wir bitten Sergej Lwowitsch zu spielen,« schrie der Hausherr.

»Ich danke Ihnen, meine Herrschaften! Aber ich bin zu müde, ich kann nicht,« versuchte Sergej Lwowitsch es in parodierendem Tone abzuschlagen. Da erhob sich aber ein solches Lärmen und Schreien, daß es ihm unmöglich wurde, auszuweichen.

»Wir bitten!« schrie Turbin lustig, nachdem alle verstummt waren.

»Schon lange habe ich die Knochen nicht in die Hand genommen,« sagte Sergej Lwowitsch, indem er sich ächzend ans Klavier setzte.

Als er begann, verhielten alle den Atem: Er spielte kraftvoll, rein und ungeheuer weich. Sein Gesicht wurde jung, gedankenvoll; bei Chopin ließ er den Kopf sinken und nur noch nach der Kraft und Zartheit, mit der er jeden Ton anschlug, konnte man sehen wie erregt er war.

»Sergej Lwowitsch, Weber!« sagte während der Pause der Gerichtsbeamte.

Sergej Lwowitsch hob die Lider und sann nach.

»Nein,« sagte er lächelnd, »wollen wir versuchen, mit der Technik zu glänzen. Nun so … nein … jajaja … so …«

»Tarantella,« flüsterte ihm der Marineoffizier zu. »Von Nikolaj Rubinstein?«

Der Gerichtsbeamte machte eine bejahende Kopfbewegung.

Die langsamen Töne, in denen sich die listige, zurückgehaltene Tollheit offenbarte, gingen schon in lärmende, hastige über und zitterten einem wilden Entzücken nach.

»Was ist das? Was ist das?« flüsterte Turbin, den Arzt beim Arme packend. Aber da übertönten die Beifallsrufe die letzten Akkorde der Tarantella. Es schien, daß, wenn der Tanz nicht enden würde, würde man vor Spannung ersticken …

Turbin lachte nervös.

»So was versteh' ich. So was!« brummte er voller Entzücken.

»Ist jetzt eine Quadrille gefällig?« rief Sergej Lwowitsch.

»Nein, nein,« fiel ihm Lintwarjow ins Wort, »den Großvater!«

Unter den zierlichen Tönen der altmodischen Musik begannen die Damen, mit dem Hausherrn und dem Gerichtsbeamten an der Spitze, sich komisch zu bewegen, zu verbeugen, aber sie kamen durch einander und blieben lachend stehn.

» Danse lancier, dann!« bat der Hausherr.

»Es wird nichts werden!«

»Doch!«

»Eine Quadrille.«

Turbin riß es auch zum Tanze und mit den Augen lustig funkelnd schaute er sich hastig um nach einer Dame. Als die Quadrille ertönte und der Marineoffizier der älteren Fürstentochter den Arm bot, verneigte sich Turbin, mit den Füßen scharrend, vor der üppigen Gutsbesitzerwitwe, die den ganzen Abend schweigend dagesessen hatte. Sie schaute ihn an und schüttelte den Kopf.

»Nun, dann nicht! … Egal …« dachte Turbin verzweifelt und sich umwendend machte er eine flotte Verbeugung vor der Fürstentochter.

»Und das vis-à-vis?«

»Zu Ihren Diensten!« sagte der Gerichtsbeamte, die Frau des Hauses am Arm.

Eilig, wobei er die Tanzenden stieß, lief Turbin mit der Fürstentochter nach vorn.

Die Musik wurde immer lustiger. Die Paare scharrten über den Boden; der in Schweiß gebadete Marineoffizier schrie halblaut und eilig aus:,, Chaîne de dames! … Chaînes de messieurs … en avant! … Indem er die Damen mit sich riß und von ihnen nach verschiedenen Richtungen gezogen wurde, konnte er nur mit Kopfbewegungen die Tanzenden kommandieren. Dennoch gerieten alle bei der dritten Figur durch einander wie beim Großvater. Das stimmte Turbin noch heiterer. »Die vierte Figur!« ertönte es plötzlich so herausfordernd, daß er schon nicht mehr die Rufe des Offiziers hörte und mit verzweifelter Entschlossenheit dahinstürmte. Die ältere Fürstentochter drückte sich erschrocken vor seiner tölpelhaft auseinanderflatternden Gestalt. Er konnte sich nicht mehr beherrschen: Die Musik, das Bedürfnis nach Bewegung und Lustigkeit, die funkelnden Augen der jungen Fürstin, ihre ganze Figur in seinen langen Armen – machte ihn mehr und mehr trunken.

»Die fünfte!« rief der Marineoffizier und klatschte in die Hände.

»Den Russischen!« rief der Gerichtsbeamte.

Sergej Lwowitsch wandte sich um, nickte mit dem Kopf und griff in die Tasten.

»Den Russischen!« wiederholte der Gerichtsbeamte, sich zu Turbin wendend.

Turbin ließ sofort seine Dame aus den Armen, lief zurück, blieb einen Augenblick stehn und plötzlich warf er sich mit solcher Wucht nach vorn, daß ringsum Gelächter erscholl.

Wie eine heiße Lohe stieg ihm das in den Kopf.

»Sergej Lwowitsch,« rief er flehentlich, »bitte schön, jenes, das Lustige!«

»Die Tarantella?«

»Jaja.«

Und ohne die Musik zu hören, aus dem Takt fallend, begann Turbin die Füße nach vorn zu werfen, immer schneller und schneller, mit kleinen Trippelschritten. Dann stampfte er plötzlich mit den Beinen aufs Parkett, sprang in die Höhe und warf die Arme durch die Beine, gleichsam als wolle er mit aller Kraft etwas zerhacken.

» Da capo!« rief jemand ironisch. Unter den anschwellenden Tönen der Tarantella rief Turbin – »Gerne« nach rückwärts, indem er die Beine kreuzte und sie wie Ruder schwang.

Aber, o Entsetzen! Zwei Schritte von ihm stand der Vater Lintwarjows: Auf den Lärm im Saale hin, kam er, mit den greisen Füßen scharrend, vornübergebeugt, aus dem kleinen Kabinett, wo er Karten gespielt hatte. Als er den Tanz sah, erhob er erstaunt sein großes, graues Haupt und den Zwicker auf den Nasenrücken setzend, schaute er mit verwunderten, starren Augen Turbin direkt ins Gesicht.

Turbin schwankte zur Seite und machte jämmerlich lächelnd eine Handbewegung. Der Arzt kam eilig auf ihn zu.

»Fahren wir schnell nach Hause, Väterchen!« sagte er ihm streng.

»Nein, warum denn?« antwortete Turbin, gezwungen lächelnd. »Ich mag noch nicht.«

Sein Gesicht war blaß, kalter Schweiß bedeckte in großen Tropfen seine Stirn …

»Nein, es geht nicht! Es geht nicht!« wiederholte der Arzt noch strenger und führte ihn, am Arm fassend, ins Vorzimmer.

Turbin folgte ihm gehorsam, tänzelnd …

 

XVII.

Er wußte nicht genau, ob er geschlafen hatte oder nicht, so lebhaft und unruhig waren die Träume. Es schien, daß er immer noch zu Gast war: Die ganze Umgebung, alle Gesichter der Gäste umringten ihn; die Menschen bewegten sich bunt durch einander, zogen an ihm wie in einer Pantomime vorüber und er nahm selbst an allem teil und fühlte, daß alles gut und geschickt herauskommt, obwohl ihn etwas beunruhigt und verwirrt. Turbin bemühte sich, sich zu erinnern, was denn das Störende ist, aber er vermochte es nicht und die Träume erneuerten sich und Bilder kamen wieder wie in einem Panorama. Im höchsten Grade ermüdet von diesem unruhigen Schlaf, war Turbin endlich froh, als er die Augen öffnete. Das Tageslicht machte ihn vollkommen nüchtern und seine erste Empfindung war das Verwundern über alles, was gestern geschehen war. Ja, dieser Abend fand doch wirklich statt! Das, was er so lange erwartet hatte, war wirklich geschehn und schon vorüber … Und die Einzelheiten dieses Abends …

Die Schande, die ihn bis zu Tränen peinigende Schande, empfand Turbin schmerzlich bis ins Innerste seiner Seele. Er preßte die Zähne zusammen und drückte den Kopf tief in die Kissen. Alles erbebte in seinem Innern vor dem aufsteigenden, bitteren Gefühle.

Plötzlich sprang er auf. Er beschloß sich zu überwinden, alle diese Erinnerungen zu unterdrücken. Er zog sich eilig an und brachte das Zimmer in Ordnung. In den Füßen war eine Schwäche, aber der Kopf schmerzte ihn nicht. Er bemühte sich, alles so korrekt und ernst als möglich zu machen. Und zugleich dachte er voll Unruhe den vergangenen Abend zu rechtfertigen.

»Ja, was war denn eigentlich,« sagte er endlich laut, »was ist denn Besonderes geschehen? … Und nun werde ich vielleicht niemals mehr diesen gnädigen Herrn sehn …«

Die Tür ging auf. Als Turbin Pawel erblickte, machte er ein ernstes Gesicht wie gewöhnlich.

»Soll ich den Samowar aufstellen, he?« fragte Pawel.

»Warum denn nicht?«

»Ja eben, vielleicht doch nicht!«

Turbin wandte sich ab und glättete sorgfältig die Bettdecke. Pawel schwieg, aber plötzlich schaute er Turbin listig in die Augen und mit strahlendem Gesichte fragte er hastig flüsternd: »Soll ich nicht zu Iwan Filimonitsch einen Sprung machen?«

»Wozu denn das?«

»Da, wegen dem Katzenjammer, äh!«

»Scher dich zum Teufel mit deinem Blödsinn,« schrie plötzlich Turbin rot vor Wut.

Nach dem Tee legte er sich aufs Bett. Im Kopfe schwirrten mechanisch beruhigende Gedanken; manchmal kam unter scharfem Schmerz ihm eine augenblickliche Erinnerung an den Tanz. Dann begann er fast mit Wut, die beleidigendsten Reden auszudenken, die über ihn im Hause Lintwarjows nach seinem Fortgang gefallen sein mußten. Und auf dem Dorfe! Wie soll er sich dort sehen lassen? Doch überwand er sich, zog sich an und ging, als ob gar nichts geschehn, zum Diakon zum Mittagessen. »Wissen sie's oder nicht?« dachte er ängstlich in der Richtung nach der Fabrik schauend. Vor dem Laden ging er so langsam als möglich.

»Vergnügte Feiertage, Iwan Filimonitsch!« sagte er, als er den Krämer, der mit einer Kiste Schnaps neben dem Schlitten stand, erblickte.

Der Krämer zählte die Flaschen ab, indem er sie seinem Laufburschen zum Transport in den Laden übergab, aber er antwortete eilig und höflich: »Gleichfalls! Kommen Sie doch auch mal zu uns!«

»Nikolaj Nilytsch ist jetzt stolz geworden,« ertönte plötzlich die Stimme der Krämersfrau von der Treppe. Sie stand in einem über die Schulter geworfenen Pelze und starrte Turbin ironisch an. Der Krämer wandte sich plötzlich mit strengem Blicke zu ihr und aus diesem Blicke allein begriff Turbin, daß alles bekannt war, alles … Und er beeilte sich mit beklemmtem Herzen, in die Hütte des Diakons zu verschwinden. Das Mittagessen ging ruhig vorüber. Als aber Turbin sich schon vom Tische erhoben hatte, sagte der Diakon nach der Seite schauend, als führe er ein begonnenes Gespräch fort: »Es hat sich auch gar nicht gelohnt hinzugehn. Auch der Pfarrer meinte es und auch Iwan Filimonitsch.«

Turbin war es, als hätte man ihm über den Kopf geschlagen. »Wohin denn?« fragte er mit Aufbietung der letzten Kraft.

»Wenn, ich will sagen,« fuhr der Diakon monoton, ohne sich stören zu lassen, fort, »wenn es sich um das Trinken und Essen handelt, so wären Sie auch bei mir satt geworden, ich würde Ihnen nichts vorwerfen … aber ich muß Ihnen die Wahrheit sagen, nicht solche Menschen wie wir dürfen zu solchen Leuten gehn.«

»Nun ja, Pater Alexej, ich bin doch selbst kein kleiner Bub …«

Der Diakon seufzte nur auf.

Mit zitternder Hand tastete Turbin nach der Klinke und warf die Tür hinter sich zu.

»Vorzüglich! Vorzüglich!« und er lachte vor Wut und lief eiligst den Berg hinan.

 

XVIII.

»Ist er zu Hause?« ertönte die Stimme Sljepuschkins im Vorzimmer, als es schon dämmerig geworden. Pawel antwortete etwas in flüsternder Eile.

»Nein, nein, laß ihn schlafen, weck' ihn nicht, Gott mit ihm!«

Die Tür schlug zu, alles verstummte. Turbin lag regungslos.

»Wach auf!« schrie nach einer halben Stunde Kondrat Semjonitsch, »du hast ja da, weiß Gott was für Sachen angestellt! Was für einen Tanz deiner eigenen Erfindung hast du dort getanzt?«

»Laßt mich, bitte, in Ruh'!«

»Nein, Bruder, du warst ja stinkbesoffen!« Verschmitzt lächelnd setzte sich Kondrat Semjonitsch auf sein Bett und fuhr schon mit aufrichtiger Teilnahme fort, sich an Turbin wie an einen notorischen Säufer wendend: »Ja Bruder, das ist fatal … Schweinerei … du hättest wenigstens das erste Mal dich beherrschen müssen … Du mußt gehn und um Entschuldigung bitten, sonst bringen sie dich noch aus deiner Stelle, ganz gewiß!«

Und nach einer halben Stunde stand eine Flasche Schnaps auf dem Tische. Turbin, der schon einen Schwips hatte, saß schweigend, den Kopf in die Arme gestützt, am Tische.

»Der Teufel soll wissen, man sagt, man hat dich die Treppe hinuntergeschmissen.«

»Wer?«

»Was – wer?«

»Ja! Wer sagt das?«

»Sljepuschkin.«

Turbin lachte hämisch auf.

Und Kondrat Semjonitsch fuhr mit ernstem Gesichte fort: »Bruder, dich hat dieser Lintwarjow, dieser Hundsfott, verhöhnt! Ich hätte ihn an deiner Stelle die Fratze zerschlagen. Dich anspucken … deine Unbildung ausnützen … das, Bruder, ist gemein! … Du tust mir leid, aus vollster Seele.«

Turbin kniff das Gesicht zusammen und wollte etwas sagen, aber er würgte an den Tränen und knirschte nur mit den Zähnen.

»Nun, da bist du wieder fertig!« sagte Kondrat Semjonitsch mit Bedauern. »Du mußt das Trinken lassen, Bruder.«

»Ich bin nicht betrunken,« schrie Turbin wütend, die geröteten Augen voller Tränen, und schlug mit der Faust auf den Tisch.

 

XIX.

»Ich erwürg' euch alle zusammen!« schrie Waska, als das Fuchsgespann in vollem Trabe im Dunkel den Berg hinanstürmte und ein Haufen von Buben und Mädchen wie eine Schafherde zur Seite stob. Gelächter und Geschrei übertönte eine Zeitlang das Läuten der Schellen: Lichter blinkten in der Schenke, Lieder ertönten …

Turbin ergriff das Gefühl einer verzweifelten Lustigkeit.

»Vorwärts!« schrie er Waska zu. Auf der Hälfte des Weges stieß der Schlitten auf den Wasserkarren und schob ihn zur Seite. Neben der Fabrik tauchte eine Gestalt aus dem Dunkel und fiel in den Schlitten, Turbin über die Füße.

»Mitjka, bist du's?« schrie Kondrat Semjonitsch.

»Die Buben liefen mir nach, sei still!«

Und am Eingang des Dorfes sprang die Gestalt aus dem Schlitten und verschwand wieder im Dunkel.

Im Dorf wurde es lebhafter und lebhafter. In den Hütten schimmerten überall Lichter. In Mengen stand das Volk auf der Straße. Man hörte Lärm, laute Lieder und das Scharren tanzender Füße. Hie und da spielte in den verschiedensten Tonarten die Harmonika und wütend unterbrachen einander die Töne. Ein langgedehntes Schmachtlied erklang seufzend und plötzlich übertönte es ein toller Volkstanz, ein Stampfen der Füße und schrille Jauchzer.

Turbin saß wie im Schlaf.

Zuerst gerieten sie in eine Hütte, die vollgestopft war mit Volk. Dies Ungewohnte erschien Turbin schrecklich. Es war so heiß, niedrig und voller Menschen. Ein lebhaftes Spiel »Die Könige« war im Gange. Die Nichtspielenden stützten einander auf die Schulter und mit ihren Köpfen fast die Diele berührend, die von dem schwarzen Feuerungsmaterial wie mit einem dicken schwarzen Lack bedeckt war, drängten sie sich um den Tisch, hinter dem Tische trieben sich Kinder in offenen Joppen und reinen Hemden, Mädchen in roten stark farbduftenden Kattunkleidern herum. Alle hielten zusammengepreßte wie Schiffe ausschauende Karten in den Händen und ihre Gesichter waren voll gespannter Lustigkeit. Die Kinder krochen über die Füße, von dem Hausflur in die Hütte. – »haben die ganze Hütte kalt gemacht, diese verfluchten …!« schrie sie die Wirtin an und fragte Kondrat Semjonitsch laut: »Und wer ist denn der?«

»Einer von uns, Tante,« antwortete Turbin lachend, setzte sich auf die Bank und flog, da er sich nicht halten konnte mit erhobenen Beinen unter den Sitz.

Kondrat Semjonitsch machte sich immer wieder was zu tun und verschwand jeden Augenblick im Hausflur. Als Turbin die schwüle Hütte verließ, hörte er plötzlich jemanden in der Ecke flüstern: »Zu mir kann man nicht!«

»Wohin denn?«

»Zum Ofensetzer willst du?«

»Fahren wir!«

Und eine Minute darauf saß Turbin in dem Schlitten und Kondrat Semjonitsch schleppte eine Soldatenfrau, mit der auch die Unterhaltung geführt wurde, in den Schlitten und stehend schrie er Waska zu: »Los!«

»Vorwärts!« schrie Turbin mit schwacher Stimme.

»Ja, wenn es so ist, dann ist das Hintergeschirr unter den Schwanz geraten,« sagte Kondrat Semjonitsch wie um etwas zu sagen.

 

XX.

Die folgenden Ereignisse gingen in einem noch größeren Chaos unter. Von dem Besuch beim Ofensetzer blieb ihm nur sein Gesang in Erinnerung. Der Ofensetzer selbst, ein behaarter, bejahrter Muschik und seine Frau, ein stets lustiges und forsches Weib, liebten am meisten auf der Welt Schnaps und Gesang. Die Gäste machten sie als Entgelt für ihren Besuch betrunken; und das liederliche Ehepaar war sehr zufrieden mit solchen Abenden. Und auch jetzt loderte sofort im Ofen das Feuer auf, zischte und spritzte ein Spiegelei im Schinken und das Rohr am Samowar brummte. Die angeheiterte, rot erhitzte Hausfrau blies lustig in die Flamme unter dem Dreifuß und freundlich lächelnd hielt sie, indem sie Turbin aufmerksam betrachtete, inne. Dann begann das Zechgelage. Nach jedem Stückchen kam Schnaps. Der toll gewordene Turbin stand keinem nach, obwohl er schon fühlte, daß er nur mit großer Mühe das Gespräch und die Lieder um sich herum zu hören vermochte.

Die Lieder intonierte der Ofensetzer … und einen wilden Eindruck machte dieser Gesang. Den Kopf in die behaarte Hand gestützt, erging sich der Ofensetzer mit aller Kraft in ein derartig wüstes Geschrei, daß an seinem Halse die blauen Adern anschwollen.

»Iß doch den Schinken!« schrie die Hausfrau.

Turbin verzehrte mechanisch ein Stück nach dem andern von dem stark gesalzenen Schinken und seine Kiefer schmerzten ihn von den fruchtlosen Anstrengungen, diese gebackene Rinde zu zerkauen.

»Du kriegst ja nichts los!« sagte Kondrat Semjonitsch. »Knorpel hat uns der Schuft gegeben.«

Den Ofensetzer beachtete jetzt schon keiner mehr. Seinen Gesang unterbrechend, spielten Kondrat Semjonitsch und Alaska auf zwei Harmonikas »die gnädige Frau«, während die Weiber beide erhitzt, etwa eine halbe Stunde, unter Scherzen mit ernsten, unbeweglichen Gesichtern und mit den Absätzen klopfend, einander entgegentanzten und dazu sangen:

»Die Mutter schickte mich
Zu hüten unsre Gans –
Und draußen vor dem Tore
Da dreht ich mich im Tanz.«

sang die eine.

»Ich hab sie mit der Knute, mit der Knute,
Ich hab sie mit der Rute …«

schrie forsch die Soldatenfrau zur Antwort, bald in die Hände klatschend, bald die Arme in die Hüften stemmend.

»Los! Toller!« wiederholte Waska, die Harmonika über seinem Kopfe schwingend, indem er sich in den verzweifeltsten Variationen der »gnädigen Frau« gefiel. Im Rausche der grundlosen, tollen Lustigkeit erhellte sich mitunter das Bewußtsein des Lehrers.

»Wo bin ich denn? Was ist denn das?« fragte er sich selbst, aber sofort begann er in die Hände zu klatschen und der »gnädigen Frau« mit den Absätzen den Takt auf die Dielen zu schlagen. Und hinter dem Fenster, das man mit einer Pferdedecke verhängt hatte, lärmte das Volk, in die Hütte drängend.

Ein verkommener Säufer, ein Arbeiter aus der Fabrik, die Trommel genannt, ein langer, magerer Muschik, mit einem Pferdegesicht und vor Trunkenheit hängenden Lippen, öffnete einige Male die Tür.

»Laß ihn nicht hinein! Hol' ihn der Teufel!« sagte Kondrat Semjonitsch.

»Was willst du denn? Wen suchst du da?« fragte ihn die Wirtin, indem sie die Tür versperrte.

Lächelnd und schwankend hielt sich die »Trommel« an der Wand und sagte: »Was macht denn das? Nichts, nichts! … Nur die Zigarette anzünden.«

»Niemand ist da, geh'!«

»Ach, red' doch nicht.«

»Wie ein Kobold, hat er das gerochen!«

Kondrat Semjonitsch ging entschlossen zur Türe.

»Wer ist denn da?«

»Das bin ich, ich, Kondrat Semjonitsch!« antwortete die Trommel, den Hut abziehend, mit einem trüben, trunkenen Lächeln: »Ich will nichts Böses, nur anrauchen …«

»Nun also, mit Gott! Mit Gott!«

Turbin spürte schon heftige Schmerzen im Hinterkopf von der Hitze und dem Schnaps, aber er stand keinem nach. Und als Schreie ertönten, daß man von den Pferden die Zügel und das Geschirr gestohlen, sprang er mit Waska auf die Straße hinaus, zur verzweifeltsten Rauferei fähig. Aber es war keiner mehr da …

In der kalten Luft wirkte der Schnaps noch stärker und von diesem Momente an verwirrten sich seine Gedanken vollkommen. Er erinnerte sich nur, daß er lange im Hausflur herumgeschlendert und daß er, als Kondrat Semjonitsch ihm ein Weib in die Arme stieß, sie auf den Viehhof schleppte und daß sie lange mit ihm da rang und hastig flüsterte: »Was willst du denn? Was willst du denn? Bist du denn ganz von Sinnen? Hat dich denn die Pest … Ach Väterchen, Väterchen, laß mich, da ist ein Keller.«

Und aufgeregt von diesem Kampf fand Turbin mit Mühe in die Hütte und geriet in vollständige Finsternis. Und diese Dunkelheit und dies Geflüster und das Herumwühlen auf dem Stroh erregten sein Blut noch mehr. Er scharrte lange im Stroh mit zitternden Händen, stieß auf den Ofensetzer, der auf dem Boden saß und etwas murmelte, und ließ eine Schaufel fallen. Dann verlor er jedes Bewußtsein des Ortes und der folgenden Ereignisse.

Er fühlte nur im Schlafe, daß von irgendwoher ein kalter Zug über seine Beine wehte. Er suchte vergebens, sie unter das Stroh zu stecken. Dann begann ihn ein fürchterlicher Durst zu quälen. Alles brannte in seinem Innern und er fühlte es im Schlaf, vermochte aber nicht zu erwachen und flüsterte immer im Fiebertone: »Wasser! Um Gotteswillen, Wasser!«

Dann schien rings um ihn ein Menschenhaufen anzuschwellen und er eine Tarantella zu tanzen, zu tanzen, ohne Ende und plötzlich war es über seinem Kopfe wie Händeklatschen und Geschrei, fürchterliches Geschrei. Er sprang auf. Der Hahn krähte noch einmal laut durch die Hütte hin und flatterte mit den Flügeln.

Die Kälte zog über seine Füße. Kaum dämmerte es. In dem trüben Grau konnte man einige Menschen auf dem Stroh schlafen sehn. Schwankend begann Turbin auf dem Ofen nach Zündhölzern zu suchen: Da lagen aber nur feuchte, warme Federn. Auf einem Ringe lag eine Schachtel Zündhölzer, aber sie war leer. Turbin erstickte förmlich vor Durst: »Um Gotteswillen, Wasser!« sagte er laut.

»Ach, daß dich … wie hast du mich erschreckt!«

Die Soldatenfrau sprang auf und noch im Schlaf begann sie eilig und ungeschickt, den Rock zuzubinden und die Haare unter die Haube zu stecken.

»Schau da in die Ecke, in dem alten eisernen Eimer!«

Turbin fiel mit Gier über den Eimer her, aber der Kwas war so sauer und kalt, daß Turbin bei den ersten Schlucken schon das Fieber faßte und er mit klappernden Zähnen über die Pritsche und Kondrat Semjonitsch auf den Ofen stürzte. – Kondrat Semjonitsch grunzte nur und knirschte im Schlafe mit den Zähnen.

Ein schwerer, warmer Geruch umgab Turbin auf dem Ofen und er schlief fest ein. Aber auch dieser Schlaf dauerte nur einen Augenblick. Man heizte den Ofen und der Dunst, der wie ein Schleier unter der Decke durch die mit Pferdedecken verhängte Tür zog, begann ihn buchstäblich zu ersticken. Er steckte den Kopf unter Stroh und Mist, aber nichts half.

Dann ließ er den Kopf vom Ofen herunterhängen, lehnte ihn an einen Ziegelstein und schlief so bis zum Frühstück.

Beim Frühstück saß Kondrat Semjonitsch mit einem aufgedunsenen Gesicht, aber schon in seiner ruhigen, gewöhnlichen Stimmung am Tische, dem Ofensetzer gegenüber, trank auf den Katzenjammer und schaute, eine Zigarette drehend, in das schlafende Gesicht Turbins. Es war wie tot, ermüdet, leidend und mild.

»Da habt ihr den Pädagogen,« sagte er endlich in bedauerndem Tone, – »Der Kerl ist verloren!«

»Wohl eine Waise?« meinte nachdenklich der Ofensetzer.


Herrosé & Ziemsen, Wittenberg.

 


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