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Der Nebel.

Wir waren schon den zweiten Tag und die zweite Nacht auf dem Meere, aber gefahren waren wir nur einen Tag und eine Nacht. Bei Tagesanbruch nach der ersten Nacht, als das Schiff schon weit vom Lande war, fanden wir es, wie wir es vorausgesehen: einen warmen dichten Nebel, der den Horizont verhüllte, die Masten umrauchte und langsam um uns emporwuchs, indem er mit dem grauen Himmel und dem grauen Meere in eins verschmolz. Es war Winter, aber in den letzten Tagen herrschte ein sogar für den Süden seltenes Tauwetter. Auf den Bergen des Kaukasus schmolz der Schnee und das Meer atmete den schweren Dunst des Vorfrühlings. An einem trüben Morgen in der Frühe blieb plötzlich die Maschine unsres Schiffes stehen, während die Reisenden, aufgeschreckt von diesem plötzlichen Stoppen, den gellenden Pfiffen und dem Scharren der Füße auf dem Verdeck, halb im Schlafe, frierend und voller Schrecken, einer nach dem andern an der Kajütentreppe erschienen. Ein verworrenes Streiten und Rufen wurde vernehmbar, niemand verstand, was eigentlich geschehen, während die grauen Streifen des Nebels wie lebendig hin über das Schiff krochen.

Ich entsinne mich, daß das im Anfange sehr beunruhigend war. Die Glocke tönte fast ununterbrochen auf dem Backbord. Aus dem Schornstein drang ein dumpfes, heiseres, drohendes Pfeifen, während die Reisenden in dichten Gruppen auf dem Verdeck standen und aufgeregt auf den wachsenden Nebel schauten. Er dehnte sich aus, wand sich, zog wie Rauch dahin und umhüllte zuweilen das Schiff so dicht, daß wir einander wie Gespenster vorkamen, die sich phantastisch im grauen Dunkel bewegen. Es war wie an einem düsteren Herbstabend, wenn du fröstelnd unter der nassen Luft zusammenschauerst und fühlst wie dein Gesicht blau wird. – Da wurde der Nebel etwas lichter, gleichmäßiger und somit hoffnungsloser. Das Schiff ging wieder weiter, aber so zögernd und zaudernd, daß das Zittern der arbeitenden Maschine fast kaum vernehmbar war. Es hörte nicht auf zu läuten und fuhr jetzt immer weiter vom Ufer gen Süden, wo den undurchdringlich dichten Nebel schon die wirkliche Dämmerung füllte, – ein trübes Grau von der bläulichen Farbe des Schiefers, hinter dem man, nur zwei Schritte weit, das Ende der Welt ahnte, die schaurige Öde des leeren Raumes. Und je dunkler es wurde, um so schlimmer wurde das Wetter. Von den Raen, von der Bedachung, von den Masten troff das Wasser. Der nasse Kohlenstaub, der aus dem Schornstein flog, fiel wie ein schwarzer Regen neben ihm nieder. Man hätte, wenn auch nur etwas, in der Ferne sehen mögen, aber der Nebel umhüllte alles wie ein Schlaf, stumpfte das Gesicht und das Gehör ab. Das Schiff sah von der Kajütentreppe wie ein Luftballon aus. Vor den Augen schwebte ein trübes Grau, auf den Wimpern lag es wie feuchtes Spinnwebe und der Matrose, der in der Nähe von mir rauchte und seinen nassen, salzfeuchten Schnurrbart leckte, kam mir zuweilen wie eine Traumgestalt vor. Endlich stoppte das Dampfschiff wieder. Die elektrische Laterne auf dem Maste flackerte plötzlich wie ein lebendiges Auge in dem Nebel auf. Der Rauch brach aus der Öffnung des schweren, untersetzten Schlotes in schwarzen, gewaltigen Rauchwolken hervor und blieb sofort in der Luft wie eine Riesenschlange hängen. Die Glocke tönte sinnlos und monoton auf dem Vorderteile des Schiffes und irgendwo stöhnte mit düsterer, klagender Stimme eine »Sirene« … Sie existierte vielleicht gar nicht, sondern nur das gespannte Ohr erzeugte sie, das immer etwas in der geheimnisvollen Uferlosigkeit des Nebels ahnte … Inzwischen aber wurde der Nebel immer düsterer und düsterer. Oben verschmolz er in eins mit der Dämmerung des Himmels, unten zog er um das Dampfschiff dahin, kaum das Wasser berührend, das an dem Bord des Schiffes plätscherte. Die lange Winternacht sank hernieder, – die dunkle Nacht auf dem endlosen im Nebel ertrunkenen Meere … Dann vereinten sich, um sich für den trüben Tag, der alle durch das Ahnen eines Unglücks müde gequält, zu entschädigen, die Passagiere und Seeoffiziere zu einem Abendschmaus. Draußen um das Dampfschiff war schon dichte Nacht und in seinem Innern, unserer kleinen Welt, war es hell, laut und voller Menschen. In dem Salon spielte man Karten, trank Tee, aus der Küche duftete es nach Speisen, die Kellner liefen vom Buffet hin und her, Pfropfen knallten. Ich lag in meiner Kabine unter dem Salon und hörte lange das Scharren der Füße über meinem Kopf. Als man aber den maniriert sentimentalen Modewalzer auf dem Piano zu spielen begann, wurde es mir weh und wohl zugleich und es zog mich zu den Menschen.

Ich kleidete mich an und ging zum Abendessen.

Wahrscheinlich war es mir lustig zu Mut an jenem Abend, wenigstens schien es mir so und es war angenehm, daß der Abend so unmerklich vorbeiging. Alle vergaßen den Nebel und die Gefahren, alle tanzten und sangen, alle gingen mit strahlenden Augen umher. Dann speiste man lange und lärmend … und schließlich wurde man müde und schläfrig … und der große, schwüle und heiße Schiffssalon, in dem schon krankhaft hell die Lichter glänzten, wurde endlich leer. Und als ich nach einer halben Stunde hineinschaute, so herrschte schon eine vollkommene Finsternis darin wie überall auf dem Dampfschiff. Von oben ertönte mitunter das Läuten der Glocke, das sich sehr sonderbar in der eingetretenen Stille ausnahm. Bald wurde auch das seltener und seltener hörbar. Da ich fühlte, daß die Stunde des Schlafes vorbei ist, promenierte ich durch die Gänge des Schiffes, setzte mich auf die Kajütentreppe und lehnte mich an die kalte Marmorwand, plötzlich erlosch auch kurz darauf das elektrische Licht und ich erblindete gleichsam. Indem ich im Geiste all das nachsang, was man an diesem Abend gesungen und gespielt, erreichte ich tastend die Falltür, ging einige Stufen empor zum oberen Verdeck und blieb stehen starr über die trauervolle Schönheit der Mondnacht.

O, wie eigen war diese Nacht! Nichts, das ihr zu vergleichen, habe ich früher je gesehen! Es war schon eine späte Stunde, kurz vor Tagesanbruch. Während wir sangen, aßen, schwatzten und lachten, ging hier in der uns vollkommen fremden Welt des Himmels und des Meeres der milde, einsame und immer traurige Mond auf und die tiefe Mitternacht sank hernieder, ganz so wie vielleicht fünf … zehntausend Jahre vorher. Der dichte Nebel stand wie eine düstere Mauer, und schaurig war es in die Finsternis zu sehen, die sich darin barg. Aber aus diesem Nebel erhob sich etwas, das den freien, runden Raum um das Schiff erhellte und wie eine lichte, mystische Erscheinung aussah: Der goldene Mond der späten Nacht, gen Süden sinkend, erstarb im blassen, durchsichtigen Nebelschleier und schaute wie lebendig aus dem großen, weiten Ringe hervor. Etwas Apokalyptisches lag in diesem Kreise … etwas Unirdisches voll schweigenden Geheimnisses lag in der Grabesstille, – in dieser ganzen Nacht, in dem Schiff und dem Monde, der diesmal der Erde so wunderbar nah war und mir traurig und leidenschaftslos gerade in die Augen blickte … Langsam stieg ich die letzten Stufen der Treppe hinauf und lehnte mich an ihr Geländer. Unter mir war das ganze Schiff. Über den gebogenen, kleinen hölzernen Übergängen schimmerten irgendwo blasse, lange Wasserstreifen, – die Spuren eines verschwindenden Nebels. Vom Geländer, den Tauen und Bänken fielen wie ein Spinngewebe leichte Rauchschatten. Im Schiffe selbst, im Schornstein und in der Maschine machte sich ein kolossales, festes Gewicht fühlbar, in den Masten eine Höhe und Bewegung. Das ganze Schiff aber kam mir jedoch leicht, graziös wie ein Gespenst vor, das in diesem engen, mattbeleuchteten Raum schlaftrunken im Nebel erstarrte. Der Wasserspiegel lag tief unter dem Backbord, geheimnisvoll und ohne Laut sich regend, stieg er in leichtem Dunst zum Monde empor und schimmerte darin wieder wie goldene Schlangen, die entstehen und bald vergehen. Doch verlor sich dieser Glanz zwanzig Schritte von mir, weiter hinaus leuchtete er kaum noch sichtbar wie ein totes Auge. Und als ich nach oben schaute, war es mir wieder als wäre dieser Mond der bleiche Abglanz eines mystischen Gespenstes und diese Stille ein Teil dessen, was hinter dem Unerforschbaren liegt.

Plötzlich läutete man an Backbord die Glocke. Die Töne hallten dumpf nacheinander, das Schweigen der Nacht störend und wie zur Antwort ertönte irgendwo vor mir ein verworrenes Geräusch und Summen, das breiter und drohender anschwoll. Im Nu zwang mich das Ahnen einer Gefahr meinen Blick in den düsteren Nebel auf der Backbordseite zu bohren, wo das Ohr das dumpfe Murren vernahm. Und plötzlich tauchte aus dem Nebel wie ein großer Rubin ein blutiges Feuerzeichen empor und rückte näher und näher. Unter ihm verschwommen zu trübgoldenen Flecken beleuchtete Fenster und zogen in langer Reihe vorüber, während im Tosen der Räder, das sich zuerst wie das Brausen eines Wasserfalls ausnahm, schon das Aufschlagen der Ruderschaufeln vernehmbar wurde, und man schon hören konnte, wie das Wasser zischte und sprühte. Der wachthabende Offizier unseres Schiffes schlug mit der Hast eines aus dem Schlafe aufgeschreckten Menschen mechanisch und sinnlos die Glocke, dann kreischte der Schornstein und wie aus einer offenen Klappe drang aus ihm ein dumpfes langanhaltendes Getöse, das den ganzen Rumpf des Schiffes erschütterte. Dann ertönte zur Antwort aus dem Nebel eine Stimme, einem dumpfen Stöhnen einer Lokomotive gleich. Aber bald verlor sie sich im Nebel und langsam nahm das Getöse der Räder ab und das rote Signalfeuer verglomm. Etwas Herausforderndes, Selbstbewußtes lag in diesem tosenden Lärm. – Gewiß war der Kapitän des uns begegnenden Schiffes jung und keck, – aber ich erinnere mich, das alles machte damals auf mich keinen Eindruck. Wir stehen, er stürzt Hals über Kopf, aber was bedeutet diese eitle Tollkühnheit im Angesichte einer solchen Nacht, – der kleine, alltägliche Wagemut, nicht aus der Begeisterung, sondern aus unbewußtem Tun geboren! Und wie ein Traumgebild rauschte das kleine, uns entgegenfahrende Schiff vorüber und wie ein Traumgebilde verschwand es im Nebel. Und wieder trat die tiefe Stille ein und wieder herrschte in all seiner Schönheit das tote Schweigen.

»Wo sind wir?« fragte ich mich. Die wachhabenden Offiziere schlummern wahrscheinlich schon wieder. Die Reisenden schlafen einen tiefen Schlaf, – und mich hat der Nebel verwirrt … Ich weiß nicht einmal ungefähr, wo wir sind, da ich in diesen Gegenden des schwarzen Meeres niemals war … Ist es aber nicht gleichgültig? Ich fasse die schweigenden Geheimnisse dieser Nacht nicht, aber ich fasse ja überhaupt nichts im Leben. Ich sah umher, wartete auf etwas, wollte über etwas nachsinnen, aber ich fühlte nur, daß ich ganz einsam bin und nicht weiß, wo ich bin und wozu ich existiere. Und wozu ist diese sonderbare Nacht und dieses schlaftrunkene Schiff in der schlaftrunkenen Welt? Und warum vor allem ist dies alles nicht einfach, sondern voll tiefen und geheimen Sinns? Ich dachte, wenn jemand zufällig auf unser Schiff gestoßen wäre, er würde unwillkürlich sich bekreuzigt haben … Dann setzte mich nichts mehr in Erstaunen. Bezaubert von der Stille der Nacht, so tief wie sie nie auf dem Lande ist, überließ ich mich ganz ihrer Wacht. Einen Augenblick war es mir als hörte ich in der unsagbaren Weite einen Hahnenschrei … Ich lächelte. »Das kann nicht sein,« dachte ich, fast vergnügt und alles, dem ich einst lebte, schien mir so kleinlich und erbärmlich! Wenn in dieser Stunde im Mondesscheine eine Nixe emporgetaucht wäre aus dem Wasser, wäre ich nicht im geringsten verwundert gewesen … auch nicht verwundert, wenn jemand im weißen Kleide leise in der Ferne zum Vorschein gekommen, dem Schiffe sich nähernd, und eine Leiche, bleich im Mondenlichte, in das vor den Schiffsluken schaukelnde Boot gestiegen wäre … Jetzt blickt der Mond grad in diese runden, kleinen Fenster und gießt sein scheidendes Licht über die Schlafenden, die wie Tote hingestreckt liegen … »Soll ich nicht jemand wecken? Nein, wozu?« – antwortete ich mir selbst, – »Ich brauche jetzt niemanden und niemand braucht mich, und wir alle sind einander fremd …«

Und die unsagbare Ruhe eines großen und hoffnungslosen Schmerzes faßte mich an. Minuten auf Minuten vergingen und ich saß noch immer regungslos und die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Ich sann darüber nach, was mich immer zu sich zog, – von allen, die aus dieser Erde lebten, von den Menschen der vergangenen Zeiten, die alle dieser Mond sah, und die gewiß ihm so klein und einander ähnlich vorkamen, daß er nicht einmal ihr Verschwinden von der Erde merkte. Aber jetzt waren auch sie mir fremd … Ich empfand in mir nicht den steten, leidenschaftlichen Drang, ihr Leben zu erleben, – mit allen eins zu werden, die einst lebten, liebten, litten, sich freuten und vergingen, spurlos in die Nacht der Zeit, der Ewigkeit. Nur eins wußte ich, sicher und ohne Zweifel, – daß es etwas Höheres gibt, höher denn die tiefste Vergangenheit der Erde … Vielleicht jenes apokalyptische Geheimnis, das die Nacht verschwieg und das nur der Nebel weiß … Und zum erstenmal kam mir in den Sinn, daß vielleicht das Große, das man Tod nennt, mir in dieser Nacht ins Antlitz sah und dem ich zum erstenmal ruhig entgegentrat und es so begriff, wie es dem Menschen geziemt …

Als ich jedoch morgens die Augen öffnete und fühlte, daß das Schiff in vollem Gange war, und daß durch die offene Luke vom Ufer der Krim ein leichter, warmer Wind herüberwehte, sprang ich vom Bette auf, wieder voll der unbewußten Lebensfreude. Ich wusch mich schnell und zog mich an, und da man in den Schiffsgängen laut zum Frühstück läutete, riß ich die Kajütentür auf und lief schnell mit den blankgeputzten Stiefeln auf den Stufen klappend, die Treppe hinauf. Lächelnd saß ich dann auf dem oberen Verdeck und die Augen beschirmend, empfand ich eine kindliche Dankbarkeit für alles, was wir erleben müssen. Die Nacht, der Nebel, schien mir nur darum gewesen zu sein, auf daß ich noch mehr den Morgen liebte und schätzte. Und der Morgen war so freundlich und sonnenhell, – der klare Frühlingshimmel der Krim strahlte im Azurblau über dem Schiffe und die Wellen zogen lustig und leicht und plätscherten entlang am Borde des Schiffes.


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