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Ich las irgendwo einmal, daß Schiller gern in seinem Zimmer Äpfel liegen hatte: der Duft der Fäulnis erregte in ihm schöpferische Stimmungen. Ich weiß nicht, wie weit diese Erzählung wahr ist, aber ich verstehe sie sehr gut: Es gibt Dinge, die an und für sich schön sind, aber noch mehr darum, weil sie uns zwingen, das Leben intensiver zu fühlen. Gerüche wirken ganz besonders stark auf uns ein und darunter gibt es ganz besonders gesunde und heftige: der Duft des Meeres, der Duft des Waldes, der Schwarzerde im Frühling, des verfaulten Herbstlaubes, der in Fäulnis übergehenden Äpfel … Der wunderbare Geruch der festen Antonower Äpfel, der saftigen und stets kalten, die ein wenig nach Honig riechen, vor allem jedoch nach Herbstfrische!
Die Gärtner sagen auch: »Ein Herbstäpfelchen, ein russisches!«
Jetzt regnet es draußen ununterbrochen. Auf der Straße rasseln die Equipagen, geräuschvoll dräuend unter Glockenläuten wälzt sich durch die Menge die Trambahn, während ich ganze Tage hinter der Arbeit sitze, durch das Fenster auf die nassen Schilder und den grauen Himmel sehe, und alles Ländliche weit von mir liegt. Aber an den Abenden lese ich alte Dichter, die mir in ihrer Lebensweise, in vielen ihrer Stimmungen, schließlich als meine Landsleute aus Mittelrußland verwandt sind. Und die Schubfächer meines Schreibtisches sind mit Antonower Äpfeln gefüllt, deren starker Duft, deren gesundes Herbstaroma mich aufs Land, in die Häuser der Gutsbesitzer versetzt … Und da zieht vor mir eine ganze Welt, eine ganze Lebensweise vorüber, die verödete und zerbröckelte und jetzt im Sterben liegt, so daß man sie vielleicht nach fünfzig Jahren nur noch nach unsern Erzählungen kennen wird …
Mir kommt ein sonniger Frühherbst auf unserm Dorfe in den Sinn. Der August war heiter mit warmen vereinzelten Regenfällen, die, wie für die Saat bestimmt, kamen, – Regenfälle zur rechten Zeit, das heißt, mitten im Monat gegen das Fest des heiligen Laurentius.
»Der Herbst und Winter sind gut, wenn es am Laurentiustag regnet und das Wasser still ist,« sagt man auf dem Lande. Dann fielen auf die Felder viel Spinnweben im Altweibersommer. Das ist auch ein gutes Zeichen: »Viel Altweibersommerfäden, ein heiterer Herbst« … Und die Prophezeiung auf Grund der Spinnweben rechtfertigte sich: Es ist schon bald Mitte September und das Wetter hält sich noch. Ich erinnere mich eines frühen, frischen und stillen Morgens. Ich erinnere mich des großen trocknen Gartens mit spärlichem Baumwuchs, schon ganz in Gold. Ahornalleen, das feine Aroma des welken Laubes und vor allem der Duft der Äpfel. Die Luft ist so rein und fein, als existiere sie gar nicht und über den Garten tönen laut Stimmen und das Knarren der Wagenräder. Da haben die Gärtner unter den Kleinbürgern Bauern gemietet und beladen ihre Wagen mit Äpfeln, um sie in der Nacht nach der Stadt zu schaffen, unbedingt in der Nacht, wenn es so schön ist, auf dem Wagen zu liegen, in den Sternhimmel zu schauen, den Teergeruch in der frischen Luft zu atmen und zu hören wie behutsam im Dunkel die lange Karawane die große Landstraße entlang knarrend dahinzieht!
Darum vielleicht sind die Vorbereitungen zur Fahrt nach der Stadt mit Getreide oder Äpfeln etwas ganz anderes als der Transport irgend einer anderen Ware, hier benehmen sich sogar die Geizhälse ganz anders als in andern wirtschaftlichen Fällen: Wenn z. B. ein Bauer, der die Wagen mit Äpfeln belädt, saftig schmatzend einen nach dem andern ißt, wird ein Kleinbürger ihm's nie verwehren, sondern noch lustig sagen: »Nur zu, Matwej, – das macht nichts: Keltert man den Wein, schenkt sich ein jeder ein.« Und die kühle Stille des Morgens unterbricht nur der volle Drosselsang in den korallentraubigen Ebereschen im Dickicht des Gartens, Stimmen und das dumpfe Rollen der in die Eimer und Fässer geschütteten Äpfel. In dem schattenarmen Garten ist weit hinaus der mit Stroh bedeckte Weg zur großen Hütte und die Hütte selbst sichtbar, um die herum die Kleinbürger während des Sommers eine ganze Wirtschaft errichteten. Überall duftete es stark nach Äpfeln, hier besonders. In der Hütte sind Betten aufgeschlagen, eine Flinte steht da, ein verrosteter Samowar auf dem Stroh und in der Ecke Tassen und verschiedenes Gerät. Neben der Hütte liegen Matten, Kisten, abgenutzter Hausrat herum und ein Erdofen ist dort ausgehoben. Mittags wird hier ein vorzüglicher Breit mit Schweinefett gekocht, abends wird der Samowar aufgewärmt und über dem Garten zwischen den Bäumen breitet sich friedlich eine lange bläuliche Dunstwolke aus … An Festtagen ist ein ganzer Jahrmarkt um die Hütte, und hinter den Bäumen schwirrt fortwährend roter Festschmuck. Schneidige Mägde vom Pachthofe drängen sich hier zahlreich in Kattunkleidern und Sarafans, die stark nach Farbe riechen; die leibeigenen Mägde kommen in ihren groben, schönen, aber fast rohen Anzügen … Da ist zum Beispiel die junge Schultheißenfrau, die stark schwanger ist, mit breiten, trägen Zügen, gravitätisch wie eine cholmogorische Kuh. Auf dem Kopfe – ›die Hörner‹, das heißt, die Zöpfe sind zu beiden Seiten des Kopfwirbels aufgebunden und mit mehreren Tüchern umwickelt, so daß der Kopf ungeheuer erscheint: die Füße – in Halbstiefeln mit Hufen – stehen fest und starr; ein ärmelloser Kaftan aus Plüsch, ein langer Shawl und ein schwarzblauer Oberrock, mit viereckigen, ziegelfarbigen Streifen besetzt und mit einem breiten, goldfarbigen Posament an der Kante …
»Ein wirtschaftliches Weibchen!« sagt der Kleinbürger, den Kopf schüttelnd. – »Solche werden jetzt immer seltener …«
Und die Buben in weißen, aufgekrämpelten Hemdsärmeln und Höschen, mit blonden Köpfen ohne Hut kommen heran. Sie gehen trippelnd zu zweien, zu dreien mit bloßen Füßen und schielen nach dem bösen, zottigen Schäferhund, der an den Apfelbaum gebunden ist. Einkaufen tut freilich immer nur einer, aber auch dieser nur ein Ei oder etwas für einen Kopeken. Doch sind viele Käufer da, der Handel geht flott und der magere, schwindsüchtige Kleinbürger in langem Rock und gelben Stiefeln ist froher Laune. Mit seinem Bruder, einem schnarrenden, verschlagenen Halbidioten, der bei ihm ›aus Gnade‹ lebt, handelt er unter Mätzchen und Sprüchen. Manchmal sogar rührt er an einer Tulaer Harmonika und bis zum Abend drängt sich im Garten das Volk herum, Lachen und Geplauder tönt um die Hütte und bisweilen das Scharren tanzender Füße …
Zur Nacht bei schönem Wetter wird es sehr kalt und taufrisch. Aus der Tenne den Roggenduft des frischen Strohs und der Spreu in vollen Zügen atmend, gehst du nach Hause zum Abendessen an der Gartenmauer vorbei. Das Geplauder im Dorfe oder das Knarren des Tores ertönt ungewöhnlich hell in der kühlen Abenddämmerung. Es wird dunkel. Und da noch ein Geruch. Im Garten – Brennholz und das saftige Aroma frischer Kirschholzspäne. Im Dunkel, in der Tiefe des Gartens – ein ganz phantastisches Bild: Wie im Winkel der Hölle flackert eine rote Flamme um die Hütte, umgeben von der Finsternis und einige dunkle, gleichsam aus schwarzem Holz geschnittene Umrisse bewegen sich um das Feuer, während ihre riesenhaften Schatten auf die Apfelbäume fallen. Bald legt sich eine schwarze Hand von mehreren Arschin auf den Baum, bald zeichnen sich darauf zwei Beine ab, zwei schwarze Säulen. Und plötzlich gleitet alles vom Apfelbaum herab und der riesenhafte Schatten fällt über die ganze Allee von der Hütte bis zum Pförtchen.
In später Nacht, wenn im Dorfe alle Lichter erlöschen, wenn am Mitternachtshimmel schon hoch das diamantene Siebengestirn, die Plejaden, zittert, gehst du noch einmal in den Garten ›vor dem Schlaf‹. Im trockenen Laub scharrend, tastest du wie ein Blinder dich nach der Hütte. Dort auf der freien Ebene ist es ein wenig heller und über dem Haupte erstrahlt hell die Milchstraße …
»Sind Sie es, junger Herr?« ruft leise jemand aus dem Dunkel.
»Ich bin's, schlafen Sie noch nicht Nikolaj?«
»Wir dürfen nicht schlafen, 's ist wohl schon spät? Da kommt, glaube ich, der Zug.«
Lange lauschen wir und endlich spüren wir ein Zittern in der Erde: Der Zug naht von weitem. Das Zittern geht in ein Geräusch über. Es wächst allmählich an und da, schon hinter dem Garten selbst, schlagen die Räder in schnellem Tempo einen lauten Takt: Dröhnend und rasselnd braust der Zug heran … Näher und näher, immer lauter und wütender … und plötzlich wird er stiller und stiller und endlich verstummt er als wäre er in die Erde gesunken.
»Wo haben Sie Ihre Flinte, Nikolaj?«
Du reißt die Flinte in die Höhe, schwer wie eine eiserne Schaufel, und schießt. Eine rote Flamme blitzt unter betäubendem Geräusch gen Himmel auf, blendet und löscht auf einen Augenblick die Sterne, während das muntere Echo rings ertönt und über den Horizont hin widerhallt, weit, weit in der feinen, reinen Luft ersterbend.
»Uh, war das ein Schuß!« sagt der Kleinbürger. »Scheuchen Sie sie nur! Scheuchen Sie sie nur! Sonst ist's nicht zum Aushalten. Die Kerls haben wieder alle Birnen von dem Baum an der Gartenmauer geschüttelt.«
Und den schwarzen Himmel durchfurchen in feurigen Streifen hie und da Sternschnuppen. Lange schaust du in seine dunkelblaue Tiefe mit ihrer Sternenpracht, bis dir die Erde unter den Füßen zu entschwinden beginnt. Dann schrickst du auf und die Hände in den Ärmeln geborgen, eilst du schnell nach Hause hin durch die Alleen … Wie kalt und taufrisch! Ach und wie schön ist es, auf der Welt zu leben! …
»Wie der Antonower Apfel, so das Jahr,« sagt man auf dem Lande, das heißt, das Geschäft auf dem Lande ist gut, wenn die Antonoweräpfel gut geraten. Das ist selbstverständlich nicht ganz richtig, aber einige meiner Erinnerungen an unsere Bauernhöfe bestätigen zum Teil das Sprichwort.
Vor Sonnenaufgang, wenn auf dem Lande die Hähne krähen und schwarzer Rauch aus den Hütten steigt, öffnest du das Fenster nach dem kühlen, in bläulichem Nebel stehenden Garten, durch den die Morgensonne schimmert. Du hältst es nicht aus, du läßt schnell das Pferd satteln und eilst an den Teich, dich zu baden. Das letzte Laub von den Uferweiden ist fast ganz abgefallen und die Zweige wiegen sich frei im Azur. Das Wasser unter den Bäumen ist durchsichtig, aber eiskalt und gleichsam schwer, es verscheucht im Nu die nächtliche Trägheit. Und wenn du dann in der Gesindestube mit den Arbeitern heiße Kartoffeln mit Schwarzbrot und dickem, feuchtem Salz zum Frühstück gegessen hast, fühlst du dich ganz besonders munter im Sattel, reitest du an den Bauernhöfen zur Jagd vorüber. Der Herbst ist die Zeit der Kirschenfeste, und das Volk ist zu dieser Zeit geputzt, satt und lustig, so daß es im Dorfe ganz anders aussieht als sonst. Wenn das Jahr noch ein Erntejahr ist und auf den Tennen sich eine ganze goldene Garbenstadt erhebt und auf dem Teiche hell und laut am Morgen die Gänse schnattern, so ist es auf dem Lande gar nicht übel. – Außerdem waren unsre Bauernhöfe seit jeher, seit der Zeit des Großväterchens Apollon Platonowitsch durch ihren Reichtum berühmt. Die Greise und Greisinnen wurden sehr alt auf den Höfen, – das erste Zeichen eines reichen Dorfes – und waren hoch gewachsen, stark und schneeweiß. Immer wieder bekam man zu hören: »Die Agafia hat es auf dreiundachtzig Jahre gebracht.« Oder ein Gespräch in dieser Art: »Und wann wirst du sterben, Pankrat, du zählst doch schon hundert Jahre.«
»Was sagen der gnädige Herr?«
»Wie alt du bist, – frage ich.«
»Weiß es nicht, Väterchen.«
»Erinnerst du dich an Platon Apollonitsch?«
»Gewiß, Väterchen, erinnere mich sehr gut.«
»Nun also, da zählst du folglich nicht weniger als hundert Jahre.«
Der Alte, der vor dem Herrn in strammer Haltung steht, lächelt mild und schuldbewußt, als wollte er sagen: »Verzeih', ich weiß, mein Leben ist zu lang.« Und er wäre noch länger am Leben geblieben, wenn er sich nicht an Zwiebeln tot gefressen und unerwartet für alle plötzlich gestorben wäre. Ich erinnere mich auch seiner alten Frau. Sie saß immer auf einem Stuhle auf der Treppe, gebeugt, den Kopf schüttelnd, kurzatmig, hielt sie sich fest mit den Händen am Stuhle und dachte immer an etwas. »Wohl an ihre Schätze,« sagten die Weiber, denn sie hatte wirklich viel in ihren Kisten und Kasten. Sie hörte aber scheinbar gar nichts; wie blind schaute sie irgendwohin in die Ferne unter ihren wehmütig emporgezogenen Brauen; schüttelte den Kopf und suchte sich an etwas zu erinnern. Sie war eine große, alte Frau von düsterem Aussehen. Ein jahrhundertalter Rock, ein Kopfputz wie der einer Leiche, ein Hals gelb und trocken, ein Hemd mit Randstreifen aus Cannevaß immer von großer Weiße, »ganz und gar, um sich ins Grab zu legen«. Und neben der Treppe lag ein großer Stein: Sie hatte sich im Dorf ihr eigenes Grab gekauft wie auch das Totenhemd, – ein wunderbares Totenhemd, mit Engeln und Kreuzen und einem auf die Ränder gedruckten Gebet.
Im Einklang mit den alten Bewohnern standen auch die Bauernhöfe aus Ziegelstein noch von den Großvätern gebaut. Und bei den reichen Bauern, – bei Sawelij, Ignat, Dron waren Hütten für ganze Generationen, denn es bestand noch nicht die Sitte, sich zu teilen. In solchen Familien trieb man Bienenzucht, war stolz auf das graufarbene Fohlen und hielt die Landhäuser in Ordnung. Auf den Tennen dunkelten dichte und fette Hanffelder, da standen Korngarben und Scheunen, die schopfförmig gedeckt waren. In den Strohscheunen und Schuppen waren eiserne Türen, hinter denen sich Tücher, Spinnräder, neue Pelzjoppen, das Geschirr für die Pferde, Wassergefäße mit kupfernen Reifen befanden. Am Tore und an den Schlitten waren Kreuze eingebrannt. Ich erinnere mich, daß es mir oft äußerst verlockend schien, ein Bauer zu sein. Wenn du an einem sonnigen Morgen durch das Dorf fährst, denkst du immer daran, wie schön es ist, zu mähen und zu dreschen, auf der Tenne zwischen den Garben zu schlafen und an Festtagen mit der Sonne aufzustehen, unter dem summenden, harmonischen Läuten vom Dorfe her, sich am Fasse zu waschen und ein reines, gestreiftes Hemd anzuziehen, ebensolche Hosen und unverwüstbare Stiefel mit kupfernen Beschlägen. Wenn, so denkst du, du noch eine gesunde, schöne Frau und eine Fahrt zur Messe dazunimmst und das Mittagessen bei dem bärtigen Schwiegervater, ein Mittagessen mit heißem Kalbsbraten auf hölzernen Tellern, mit Brot von gesiebtem Mehle, mit Honigscheiben und gegorenem Gerstenbrei, – da bleibt dir wirklich nichts zu wünschen übrig!
Das Leben des kleinen Adels, das jetzt die kleinbürgerliche Art annimmt, hatte in früheren Jahren, ja sogar ich kann mich noch dessen erinnern, das heißt vor noch nicht allzu langer Zeit viel Gemeinsames, in Bezug auf häuslichen Sinn und ländliches, althergebrachtes Wohlgedeihen, mit dem Leben des reichen Bauern. So war es z. B. im Landhaus der Tante Anna Gerafimowna Kologriwowa, die zwölf Werst von den Bauernhöfen wohnte. Ehe du das Landhaus erreichtest, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Mit den Hunden an der Koppel muß man schrittweise fahren, man hat auch keine Lust, zu eilen, – so lustig ist es im freien Felde an einem sonnenhellen, kühlen Tage. Die Gegend ist eben und man sieht weit hinaus. Der Himmel steht in einem leichten Azurblau, ist weit und tief.
Die Sonne flimmert zur Rechten und der Weg, gewalzt von den Wagenrädern, ist nach dem Regen, wie mit Fett beschmiert und glänzt wie Schienen. Ringsumher breitet sich radfelgenartig die frische, üppiggrüne Wintersaat aus, von irgendwoher steigt ein Habicht auf in der klaren Luft und erstirbt gleichsam auf einem Fleck mit seinen spitzen Schwingen flatternd. Und in die klare, weite Ferne flüchten sich deutlich sichtbar die Telegraphenstangen und ihre Drähte gleiten wie silberne Saiten über den Rand des Himmels. Darauf sitzen Spatzen, – ganz schwarze Pünktchen auf Notenpapier.
Die Telegraphenstangen allein waren es, die einen schroffen Kontrast zu dem bildeten, was das alte Nest der Tante umgab. Die Leibeigenschaft kannte und sah ich nicht, aber ich erinnere mich, daß ich mich bei der Tante Anna Gerasimowna ganz wie zur Zeit der Leibeigenschaft fühlte. Du fährst in den Hof hinein und plötzlich empfindest du, daß das leibeigene Recht hier noch in voller Blüte ist. Das Landhaus war nicht groß, aber alt und festgebaut, umringt von jahrhundertalten Birken und Weiden. Bauten auf dem Hofe, nicht hohe, aber wirtschaftlich eingerichtete, gab es in Menge und sie alle waren wie aus dunklen Eichenklötzen unter Strohdächern zusammengeschweißt. Durch ihre Größe, oder besser durch ihre Länge tritt nur die schwarz gewordene Gesindestube hervor, aus der die letzten Mohikaner eines leibeigenen Geschlechts hervorblicken, – irgendwelche uralte Greise und Greisinnen, ein gebrechlicher Koch außer Dienst, einem Don Quichote nicht unähnlich. Sie alle suchen, wenn du in den Hof hineinfährst, eine stramme Haltung anzunehmen und machen fortwährend tiefe Verbeugungen. Der ergraute Kutscher, der aus der Wagenremise heraustritt, um das Pferd zu holen, zieht schon am Remisentor den Hut ab und geht mit entblößtem Haupte über den ganzen Hof. Er war bei der Tante »Vorreiter«, jetzt fährt er sie zur Messe, im Winter in einem großen Wagen und im Sommer in einem festgefügten, mit Eisen beschlagenen Karren, gleich dem der Pfarrer. Ich gebe ihm das Pferd und gehe zum Hause. Der Garten der Tante war berühmt durch seine Verödung, Nachtigallen, Turteltauben und Äpfel; das Haus durch sein Dach. Es stand am Eingang des Hofes, direkt am Garten, so daß die Zweige der Linden es umfaßten, es war klein und untersetzt, aber es schien nicht älter als hundert Jahr zu sein, so solid schaute es unter seinem ungewöhnlich großen und dicken Strohdache hervor, das von der Zeit alt und dürr war. Seine vordere Fassade schien mir immer lebendig: als schaute ein altes Gesicht unter einem ungeheuren Hute, mit Augenhöhlen hervor, – den Fenstern, mit seinen durch Regen und Sonne perlmutterfarbig gewordenen Scheiben. Und zu Seiten dieser Augen waren Treppen, – zwei alte große Treppen mit Säulen. Auf dem Giebel saßen immer satte, weiße Tauben, während Tausende von Sperlingen wie ein Regenschauer von Dach zu Dach schwirrten … Und behaglich fühlte sich in diesem Nest ein Gast, auf dem stillen, runden Hofe unter dem Azur des Herbsthimmels! …
Du trittst ins Haus und vor allem riechst du den Duft der Äpfel. Bald aber machen sich auch andere bemerkbar. Der Duft der alten Rotholzmöbel, der trockenen Lindenblüten, die schon seit Juni auf dem Fensterbrett liegen … In allen Zimmern, – in der Gesindestube, im Saale, im Wohnzimmer, – ist es kühl und schummrig: das macht wohl, daß das ganze Haus von Garten umgeben ist und die oberen Scheiben der Fenster farbig sind, blau oder violett. Überall Stille und Sauberkeit, obwohl, wie es scheint, die Sessel und die Tische mit eingelegter Malerei und die Spiegel in engen und gewundenen Goldrahmen niemals vom Platze gerückt waren. Da höre ich aus dem Wohnzimmer ein Hüsteln: Die Tante kommt heraus. Sie ist auch nicht groß, aber wie alles ringsumher, festgebaut. Über ihre Schulter hängt ein langer persischer Shawl … Sie kommt gravitätisch, aber freundlich heraus und sogleich wird einem, während der endlosen Gespräche von der alten Zeit, von den Erbschaften, mit verschiedenem aufgewartet: Zuerst Birnen, Äpfel, Antonower Äpfel, »Bellesdames«, etc. etc. und dann eine wunderbare Mahlzeit: Rosiger Schinken, durch und durch gekocht mit Erbsen, eine saure Suppe, ein gefülltes Huhn, ein Puterhahn, Marinaden und roter Kwas, – stark und wunderbar süß. Die Fenster nach dem Garten sind inzwischen aufgeschoben und eine frische Herbstkühle weht herein …
»Wie der Antonower Apfel, so das Jahr« … O weh, wahrscheinlich ist der Antonower Apfel schlecht geraten in den letzten Jahren, denn die Geschäfte auf dem Lande waren nicht vergnügt … Und ich erinnere mich, daß in den letzten Jahren nur eins das ersterbende Wesen des Gutsbesitzers wach erhielt, – die Jagd.
Vor zwanzig Jahren waren solche Landhäuser, wie das der Anna Gerasimowna in unsrer Gegend nicht selten. Es gab auch welche in anderer Art – schon ganz verödete, verfallene, aber die trotzdem noch immer auf großem Fuß lebten: Landhäuser mit großem Gutsbesitz, mit echten Gutswirtschaftsgebäuden, mit einem Garten von zwanzig bis dreißig Deßjatinen, mit einem imposanten Herrschaftshause, geschmückt mit Säulen am vordern Giebel. Zwar haben sich manche dieser Landhäuser noch bis auf unsere Zeit erhalten, aber ein eigentliches Leben ist darin nicht mehr … Keine Dreigespanne mehr, keine »Kirgisen« auf dem Kutschbocke, keine Spür- und Jagdhunde, kein Hofgesinde, – ja auch der Gutsherr nicht mehr, – der Gutsherr, der ein Jäger war, etwa wie mein Schwager Arsenij Semjonitsch Klementjew. Ausgestorben sind die »Ritter« im heiligen Rußland.
Immer bis tief in den Herbst war ich bei der Tante zu Gast, das heißt, so lange die Treibjagd dauerte. Aber meine Fahrten hatten immer das Landhaus des Arsenij Semjonitsch zum Ziel. Das alte Nest der Anna Gerasimowna war nur eine Zwischenstation und nach ihr gehen meine Erinnerungen direkt über zum »Fürsten«, seinem Gut und seinem alten Hause …
Von Ende September an verödeten Gärten und Tenne. Das Wetter änderte sich in der Regel schroff und machte mich für eine Zeitlang zum Einsiedler. Der Wind zauste und schüttelte den ganzen Tag die Bäume, Regen fielen darauf vom Morgen bis in die Nacht. Manchmal gegen Abend ging durch die düsteren, tiefhängenden Wolken im Westen zitternd ein goldenes Licht der Abendsonne; die Luft wurde reiner und heller, während das Sonnenlicht blendend schimmerte durch Laub und Zweige, die wie ein lebendiges Netz sich regten und bewegten im Winde. Dafür aber wurde es kälter und nicht nur draußen, sondern auch im Hause, da die Doppelfenster noch nicht eingesetzt und die Veranda noch offen war. Kalt und hell strahlte im Norden über den schweren bleiernen Wolken der zarte, blaue Himmel und aus diesen Wolken tauchten langsam die Kämme der schneeigen Wolkenberge hervor und zeichneten sich deutlich am Himmel ab. Du stehst am Fenster, bewunderst die Schönheit dieser Illusion und denkst: »Vielleicht gibt Gott uns noch schönes Wetter.« Aber der Wind ließ nicht nach. Er zerzauste den Garten, zerfetzte den Rauch, der ununterbrochen hervorstieg aus den Schornsteinen über den Behausungen der Menschen und trieb wieder unheilschwangere, aschfarbene Wolkenballen vom Horizonte herauf. Sie gingen tief und stürmisch und umwölkten bald mit schwerem Dunst die Sonne. Ihr Glanz verglomm, das blaue Himmelsfenster schloß sich und im Garten wurde es öde und eintönig. Und wieder begannen Regenschauer zu stieben … zuerst leise und sachte, dann immer dichter und endlich wandelten sie sich zu einem Guß unter Sturm und Finsternis. Eine lange, unruhige Gewitternacht sank herab … Nach diesen Wetterschlägen kam der Garten fast ganz nackt, gebrochen, von nassen Blättern überschüttet, ganz still und verschüchtert wieder hervor. Wie schön war er aber dafür, als von neuem sich klares Wetter einstellte, die feinen, kalten Tage des Oktobers, das Abschiedsfest des Herbstes! Das letzte Laub wird aus den Bäumen nun bis zum ersten Froste bleiben. Der schwarze Garten wird im kalten, azurblauen Himmel schimmern, demutsvoll den Winter erwarten und sich im Strahl der Nachmittagssonne wärmen. Und das Ackerfeld schwärzt sich tief dunkel und ergrünt unter der büschelartigen Wintersaat … Es ist Zeit zur Jagd!
Und da sehe ich mich auf dem Gute Arsenij Semjonitschs, im großen Hause, im Saale voll Sonne und voll des Dunstes der Pfeifen und Zigaretten. Viele Menschen sind da. Alles Jäger unter den Gutsbesitzern mit verbrannten und verwitterten Gesichtern, in Joppen und langen Stiefeln. Eben hat man zu Mittag gegessen, erhitzt und erregt durch die lärmenden Gespräche über die bevorstehende Jagd. Aber man vergißt nicht den Schnaps nach dem Mittagessen. Draußen ertönt das Horn und die Hunde heulen in allen Tonarten. Ein schwarzer und hoher Windhund, der Liebling Arsenij Semjonitschs benutzt den Wirrwarr und kriecht mitten unter den Gästen auf den Tisch und beginnt vom Teller die Überreste eines Hirschbratens mit Sauce zu fressen. Doch da stößt er plötzlich ein fürchterliches Geheul aus und indem er Teller und Schnapsgläschen umwirft, springt er vom Tische herab: Arsenij Semjonitsch, der mit einer langen Peitsche und einem Revolver aus seinem Zimmer heraustritt, hat unvermutet im Saal einen betäubenden Schuß abgegeben. Der Saal füllt sich noch mehr mit Rauch und Arsenij Semjonitsch steht und lacht. »Schade, daß ich nicht getroffen,« sagt er, mit den Augen funkelnd. Er ist hochgewachsen, hager, aber breitschulterig und graziös und von Angesicht – ganz eine Zigeunerschönheit. Jetzt leuchten seine Augen fast wild und er erscheint sehr flott und malerisch in seinem prunkvollen Anzug, – einem seidenen himbeerfarbigen Hemde, in sammetenen Pumphosen und langen Stiefeln. Nachdem er den Hund und die Gäste durch den Schuß erschreckt hatte, entzündet er, als ob nichts geschehn, eine Zigarette und beginnt theatralisch, aber mit gefühlvoller Baritonstimme, zu deklamieren:
»Gestern ist in der Dämmerung
Auf der Treppe der Regen gefror'n –
Es ist Zeit, das Donpferd zu satteln,
Um die Schulter zu werfen das Horn!«
Und dann sagt er laut, indem er den Hut aufsetzt: »Nun, wir brauchen nicht die kostbare Zeit zu verlieren, wir fahren!«
Und jetzt tauchen vor mir, einer nach dem andern, die Tage in den Jagdgründen auf. Mir scheint, als fühlte ich es noch heut, wie weit und gierig die junge Brust die feuchte Kühle des klaren, scheidenden Tages atmete, wenn ich mit der lärmenden Gesellschaft des Arsenij Semjonitsch an dem Garten vorüber in das Feld fuhr. Ganz erregt war ich durch die bevorstehende Jagd und das harmonische Geheul der Rüden, die im schwarzen Walde herumtollten, irgendwo auf dem »roten Hügel« oder der »donnernden Insel«, welche Bezeichnungen allein schon das Blut des Jägers in Wallung bringen. Du reitest auf einem wilden, starkgebauten, kurzen »Kirgisen«, ihn am Zügel bändigend und fühlst dich fast mit ihm eins. Er schnaubt, will im Galopp gehn, scharrt mit den Hufen in dem tiefen und weichen Teppich des schwarzen, gefallenen Laubes und jeder Laut widerhallt dumpf in dem leeren, frischen und feuchten Walde. Irgendwo schlägt in der Nähe ein Hund an, leidenschaftlich klagend antwortet ihm ein anderer, ein dritter und plötzlich donnert der ganze Wald, als wäre er aus Glas, von ungestümem Geheul und Gebell. Da ertönt inmitten dieses Lärmens ein Schuß, alles fährt auf und zerstiebt in die Ferne.
»Aufpassen!« schreit jemand mit verzweifelter Stimme über den ganzen Wald. »Aufpassen!« schwirrt der betäubende Gedanke durch die Köpfe. Du spornst das Pferd mit einem Ruf und wie von der Kette losgelassen jagst du durch den Wald, auf nichts mehr um dich herum achtend. Nur die Bäume schwirren vor den Augen und der Schmutz von den Hufen der Pferde spritzt dir ins Gesicht. Du sprengst aus dem Walde heraus und siehst ein buntes über die grüne Ebene dahinziehendes Rudel von Hunden. Du spornst den Kirgisen noch mehr und dem Wild schräg gegenüber – über grüne Ebenen, frisch bestellte Felder und Stoppeln jagst du, bis du endlich in einen neuen Baumstand gerätst und der ganze Schwarm mit tollem Gebell dir aus den Augen verschwindet. Dann ganz naß und vor Anstrengung zitternd, zügelst du das schweißtriefende, keuchende Pferd und atmest gierig die feuchte, eisige Luft des Waldtales. In der Ferne verhallen die Rufe der Jäger und das Bellen der Hunde und um dich ist Totenstille. Der halbgelichtete Nußholzwald steht regungslos und es scheint, daß du in geheime Festsäle geraten bist, in die unendlichen Gänge um die märchenhaften Gemächer und Säulen. Es duftet stark aus den Gräben nach feuchten Pilzen, nach faulem Laub und nasser Baumrinde. And die Feuchtigkeit aus den Gräben wird immer fühlbarer, im Walde wird es kalt und dunkel, und schaurig wird es einem zu Mute … Es ist Zeit zum Aufbruch ins Nachtlager, aber es ist schwer, nach der Jagd die Hunde zusammenzutreiben. Lange und hoffnungslos klagen die Hörner über den Wald, lang hört man scheltendes Rufen und Hundegebell. Schließlich wird alles still und schon ganz in Dunkel gehüllt stürzt mit großen Schritten die ganze Jagdgesellschaft ins Haus eines fast unbekannten, ledigen Gutsbesitzers. Dort füllt sie mit Lärm den ganzen Hof, der in dem munteren Lichte der Laternen, Kerzen und Lampen steht, mit denen man den Gästen entgegenkommt. Manchmal verbrachte bei so einem gastfreundlichen Gutsherrn die jagende Gesellschaft einige Tage. Morgens in der Früh entgegen dem eiskalten Wind oder dem ersten feuchten Frost, ritt man in Wald und Feld hinaus und gegen Abend kehrte man wieder zum Nachbar zurück, – alle voller Schmutz, mit erhitzten Gesichtern, durchtränkt von dem Schweißgeruch der Pferde, und dem Fellgeruch des geschossenen Wildes. Und dann begann – ein Zechgelage. Im hellen, gemütlichen Hause ist es warm und behaglich nach dem kalten Tage draußen im Feld. Alle gehen von einem Zimmer ins andere, in aufgeknöpften Joppen, essen und trinken bunt durcheinander und teilen sich gegenseitig unter Lärm die Eindrücke von dem getöteten starken Wolfe mit, der mit gefletschten Zähnen, gebrochenen Augen und mit seitwärts gedrehtem Schweif inmitten des Saales liegt und mit seinem blassen, schon kalten, toten Blute den Boden färbt. Nach dem Schnaps und dem Essen fühlst du eine so süße Müdigkeit, so eine Wohligkeit des jungen Schlafes, daß du wie durch das Rauschen des Wassers das Gespräch hörst. Das verwitterte Gesicht brennt – und schließt du die Augen, so schwindet dir der Boden unter den Füßen. Und kriechst du ins Bett unter eine mollige Federdecke, in einem alten Erkerzimmer mit einem Gottesbild und einem Lämpchen – schwirren dir Traumbilder feuriger, bunter Hunde vor den Augen. Im ganzen Körper schmerzt dich die Empfindung des Reitens und du merkst nicht, wie du mit diesen Traumgestalten und Gefühlen in dem süßen, gesunden Schlafe aufgehst, ja sogar vergißt, daß diese Stube einst das Betzimmer des alten Nil Afanasitsch war, dessen Name von den düsteren Legenden aus der Zeit der Leibeigenschaft umgeben ist, und der in diesem Betzimmer, wahrscheinlich auf demselben Bette gestorben ist.
Hast du mitunter die Jagd verschlafen, so war die Ruhe ganz besonders angenehm. Du erwachst und liegst lange im Bett. Im ganzen Hause herrscht eine Totenstille und du hörst, wie der Gärtner behutsam durch die Zimmer geht, die Ofen heizt, und wie das Holz knackt und prasselt. Vor dir liegt ein ganzer Tag der Ruhe in dem schon winterlich schweigsamen Landhause. Ganz gemächlich ziehst du dich an, schlenderst im Garten umher, findest im nassen Laub einen zufällig vergessenen kalten und feuchten Apfel und weißt nickt, warum er dir so schmackhaft vorkommt, ganz anders wie die sonstigen. Dann frühstückst du und gehst an die Bücher heran, – die großväterlichen Bücher in dicken, ledernen Einbänden, mit goldenen Sternen aus Saffian darauf. Schön duften diese den Meßbüchern ähnlichen Bände, mit ihrem vergilbten, rauhen Papier! Nach irgend einem angenehmen, säuerlich-süßen Schimmel und uraltem Parfüm … Schön sind auch die Glossen, die in runden, großen Zügen mit einer Gänsefeder gemacht sind. Z. B. du schlägst das Buch auf und liest: Ein Gedanke der alten und neuen Philosophen würdig, eine Blüte des Verstandes und des herzlichen Gefühls – und unwillkürlich läßt du dich von der Lektüre selbst hinreißen. Es stellt sich heraus, daß dies »Der adlige Philosoph« ist, eine Allegorie, die vor hundert Jahren auf Kosten eines »Kavaliers vieler Orden« herausgegeben und in der »Druckerei der Gesellschaft für Volkswohl und Volksbelehrung« erschienen ist. – Eine Erzählung darüber, wie ein adliger Philosoph, der Zeit und Fähigkeit hat, solche Betrachtungen anzustellen, wozu sich nur der menschliche Geist erheben kann, einst den Wunsch empfand, den Plan der Welt auf dem geräumigen Grund und Boden seines Dorfes zu verfassen. Dann stößt du auf »satirische und philosophische Werke des Herrn Voltaire« und lange freust du dich über den lieben, manierlichen Stil des Übersetzers: »Hoch zu verehrende Herren, Erasmus hat im siebenundzehnten Jahrhundert ein Loblied auf die Dummheit verfaßt; (die manierliche Pause war das –; –). Sie wollen, daß ich vor Ihnen die Vernunft preise …«
Dann gehst du von Katharinas Zeitalter zu den romantischen Zeiten über, zu den Almanachen, zu den sentimental geschwollenen und endlosen Romanen …
Der Kuckuck springt aus der Uhr heraus und ruft über dir voll ironischer Trauer durch das leere Haus, und nach und nach schleicht sich in das Herz eine so süße, sonderbare Wehmut …
Da sind die »Geheimnisse des Alexis«, da ist »Viktor oder das Kind im Walde« – »Die Mitternachtsstunde schlägt« – liest du mit leisem Lächeln – die heilige Stille nahet und löset ab die frohen Lieder der Dorfkinder. Der Schlaf senket seine düsteren Fittiche über unsere Hemisphäre und schüttelt aus ihnen den Mohn und die Träume … Die Träume! … Wie oft verlängern sie nur die Leiden der Unglückseligen! …« Und vor den Augen schwirren die geliebten Worte der alten Zeit: Felsen und Eichenwald, der blasse Mond und die Einsamkeit, Gespenster und Traumgestalten, Grotten, Rosen und Lilien, »Scherze und Streiche der jungen Spaßvögel«, die Träume des Unglückseligen, die Lilienfinger, die Ludmilas und Alinas … Und da liegen Zeitschriften mit den Namen Schukowski, Batjuschkow und Puschkin, als er noch im Lyceum war. Und traurig erinnerst du dich an die Großmutter mit ihren Polonaisen, und Großvater auf dem Spinett, an ihr verträumtes Lesen der Verse aus »Eugen Onegin« – und das alte träumerische Leben ersteht lebendig vor dir …
Schöne Mädchen und Frauen lebten einst in den adligen Landhäusern! Ihre Porträts und Stiche schauen auf mich von der Wand herab, ihre aristokratisch feinen Köpfchen in den altmodischen Frisuren senken mild und frauenhaft ihre langen Wimpern über die melancholischen, zarten Augen …
Mußte das alles denn nicht zu Grunde gehen bei der ersten Berührung mit dem neuen Leben?
Der Geruch der Antonower Äpfel entflieht und verschwindet aus den Gutshäusern. Dieser Tag auf dem Gute des Nil Afanasitsch ist noch nicht lange her und doch scheint mir seitdem ein ganzes Jahrhundert verflossen. Die Alten auf den Bauernhöfen sind ausgestorben. Tot ist die Anna Gerasimowna und Arsenij Semjonitsch hat sich erschossen … Und ich schreibe ihnen die Grabschrift.
Für lange Zeit habe ich das heimatliche »gelobte Land«, wie man in unsern Gegenden zu sagen liebt, verlassen und als ich vor kurzem dort zu Besuch war, empfing mich das »gelobte Land« nicht besonders fröhlich. Die alten Bücher, die alten Porträts, zerstreut und von niemandem benötigt, verloren sich in den Städten, in den kleinbürgerlichen Landgütern, in den Habichtnestern der neuen Gutsherren, – Nestern, in die sich die früheren Güter und Grundbesitze zerbröckelt haben. Zu unserm ganzen Kreis blieben fünf, sechs Herrensitze; auf den ganzen Kreis kommen drei, vier wohlhabende Adlige, aber auch sie leben ein neues Leben, – indem sie zumeist nur im Sommer dort hausen, wie in einer Sommerfrische. Das Reich der zerstückelten, bis zur Bettelei verarmten, verdorrenden grauen Dörflein ersteht. Es ist November, die öde Zeit des Landlebens …
Ein schlechter Morgen war es, als ich den Zug auf unserer Blockstation, die sich inmitten der Felder verliert, verließ. Die Felder erschienen mir nach dem langen Stadtleben qualvoll, elend und öde, als mich im Regen der Muschik aus einem Karren zu unserm Landhause schleppte … Die Dörfer über der Ebene kamen mir aus der Ferne wie Misthaufen vor. Im Walde, – dem entblößten, nassen und schwarzen Walde steht ein bläulicher Nebel und der feuchte Wind rauscht, während es öde ist auf der Landstraße wie in der Kirgisensteppe. Mir begegnete eine Hochzeit, – drei Karren mit Weibern, die sich gegen den Regen mit ihren Mänteln und aufgehobenen Röcken schützten. Die Weiber schreien Lieder mit betrunkener Stimme und suchen sich zu Tollheit und Lustigkeit zu zwingen. Eine steht sogar mitten im Wagen, schwenkt das Tuch und spornt mit Rufen und Hanfzügeln das Pferd. – Aber das Pferd setzt tollpatschig die Beine, die Schellen klingeln vereinzelt, der Karren rasselt mißtönend über die Straße, das lustige Lied klingt falsch … Gott sei Dank, der Hochzeitszug ist vorüber!
Dem grauen Tage entsprechendere Gestalten kommen mir nun entgegen. Der Schankwirt fährt vorüber, er kehrt mit Schnapskisten aus der Stadt zurück, in denen in grünen Flaschen die Flüssigkeit gluckst: auf einer Kutsche, ganz mit Schmutz von den Rädern bedeckt, rast ein Polizist vorüber und ihm folgt auf einem Wagen der Pope, – ein hochgewachsener, rothaariger Pope, in großer Mütze und Pelz, mit aufgeschlagenem Kragen, der mit einem Handtuch umwickelt ist, das kreuzweis über der Brust auf dem Rücken zu einem Knoten gebunden war. Da hinter dem Hügel, der nach der Ebene zu abfällt, kommen auch die Bäume unseres Gartens zum Vorschein … Doch darf man den ersten Eindrücken nicht trauen, besonders nicht auf dem Lande, wenn man aus einer Stadt kommt. Zwei, drei Tage gehen vorüber, das Wetter verändert sich, es wird frischer und schon scheint das Dorf, das Landhaus ein anderes. Du beginnst den Zusammenhang zwischen dem früheren und jetzigen Leben zu fassen und das, was mir beim Geruche der Antonower Äpfel in den Sinn kam, – Gesundheit, Einfachheit, Häuslichkeit des Landlebens, – tritt wieder in den neuen Eindrücken hie und da an den Tag. Fast fünfzehn Jahre sind verflossen, – vieles veränderte sich ringsumher und ich selbst erlebte vieles, aber ich fühle mich wieder zu Hause und fast wieder so wie vor fünfzehn Jahren: Wie in der Jugend ist es mir wehmütig und wie in der Jugend ist es mir heiter zu Mut. Und wohl ist es mir in dem verwaisenden und verkümmernden Landleben. Draußen sind bläuliche, trübe, aber frische Tage. Morgens steige ich in den Sattel und mit einem Hunde, einer Flinte und einem Horn reite ich hinaus ins Feld. Der Wind summt und brummt im Lauf der Flinte, peitscht mir ins Antlitz, manchmal unter trockenem Schnee. Den ganzen Tag irre ich umher in der öden Ebene, ich denke nach, erinnere mich der Vergangenheit, und lebe mich immer mehr ein. Hungrig und erfroren kehre ich gegen Abend ins Landhaus zurück und in meiner Seele wird es so hell und warm, wenn die Lichter auf den Bauernhöfen aufflammen und vom Landhause her der Dunstgeruch einer menschlichen Behausung mit ihrem herbstlichen, gemütlichen und friedlichen Leben dringt. Ich erinnere mich, wir liebten zu Hause zu dieser Stunde zu »dämmern«, das heißt, kein Licht zu machen und im Halbdunkel zu plaudern. Auch ich halte mein Dämmerstündchen. Ich komme ins Haus und finde schon die Doppelfenster eingesetzt, und das stimmt mich noch friedlicher, noch winterlich heimischer. In dem Vorzimmer heizt ein Arbeiter den Ofen und ich hocke mich wie als Kind neben einen Strohhaufen, der schon stark nach winterlicher Frische duftet und schaue bald in die lodernde Flamme, bald auf die Fenster, hinter denen die blaue Herbstdämmerung traurig erstirbt. Dann gehe ich in die Gesindestube. Dort ist es hell und voller Menschen: Die Mägde schneiden Kraut und ich sitze lange mit den Mädchen und sehe zu, wie die Scheiben fliegen und höre ihr vereinzeltes, taktmäßiges Klopfen und ihre harmonischen, wehmütig heiteren Volkslieder. Manchmal kehrt bei mir abends ein Nachbar von einem kleinen Gute ein und nimmt mich mit sich für längere Zeit …
Schön ist auch das Leben auf dem kleinen Landgut!
Die kleinen Gutsbesitzer fühlen sich überhaupt ganz wohl, besonders, wenn es eine Mißernte war und die Bank die Zinszahlungen gestundet hat. Der kleine Gutsherr liebt den Herbst, denn im Herbst ist wenigstens irgend welche Jagd, er liebt die langen Abende, die lange finstere Nacht im warmen und gemütlichen Zimmer. Er steht früh auf streckt und reckt sich auf der Lehmpritsche, wobei von der Ecke ein Ziegel abbricht (»lange, lange hätt' ich schon diesen Ziegel wieder einmauern lassen sollen, aber es kommt halt nicht dazu!«). Dann geht er schnaubend zum Tisch, wobei die Augenbrauen sich emporziehen und sich sein Antlitz verdüstert, und dreht sich eine Zigarette aus billigem, schwarzen Tabak oder aus einfachem Bauernknaster. Das fahle Licht des frühen Novembermorgens erhellt die bloßen Wände seines einfachen Wohnzimmers, die gelben, zottigen Fuchsbälge über seinem Bett und die breitschulterige Gestalt in den Pumphosen und dem gürtellosen und seitlich geknöpften Arbeitshemde, während sich im Spiegel das verschlafene Gesicht mit seinen tatarischen Zügen zeigt. Im halbdunklen, warmen Häuschen herrscht eine Totenstille. Hinter der Tür im Hausflur schnarcht friedlich eine alte Köchin, die noch im herrschaftlichen Hause als Mädchen gedient. Das hindert aber den Herren nicht, heiser durch das ganze Haus zu schreien: »Lukerja, den Samowar!«
Dann zieht er die Stiefel an, wirft die Joppe um die Schultern und, ohne den Hemdkragen zu schließen, geht er auf die Treppe hinaus. In dem warmen, geschlossenen Hausflur riecht es nach Hunden; und träge sich räkelnd, bellend und gähnend umspringen diese ihn jetzt.
»Otrysch!« sagt der Herr langsam in nachsichtigem Baßton und geht durch den Garten auf die Tenne. Seine Brust atmet weit die frische, scharfe Morgenluft und den Geruch des über Nacht gefrorenen und kahlen Gartens. Die vor Frost zusammengeballten und schwarz gewordenen Blätter knistern unter seinen Füßen in der halb gelichteten Birkenallee. Raben, die sich scharf an dem tiefen, düsteren Himmel abzeichnen, schlafen aufgedunsen auf den Dachfirsten der Scheunen … Ein schöner Tag für die Jagd! Und indem er inmitten der Allee stehen bleibt, schaut der Herr lange in das herbstliche Land hinaus, auf die öde, grüne Wintersaat, über die in der Ferne Kälber sich tummeln. Zwei Jagdhunde kläffen vor seinen Füßen, während ein dritter, Saliwaj, schon hinter dem Garten ist: Die stachligen Stoppeln überspringend ruft und bittet er gleichsam, als wolle er frei hinaus ins Feld.
Aber was wirst du jetzt mit den Treibhunden anfangen? Das Wild ist jetzt in dem frisch bestellten Feld, in den schwarzen Furchen zwischen den Saaten. Im Walde fürchtet es sich, denn dort rauscht der Wind im Laube … Ah, wenn Spürhunde da wären!
In der Scheune wird gedroschen. Die Trommel der Dreschmaschine setzt sich brummend langsam in Bewegung. Träge im Zugriemen, indem sie die Beine auf den mit Dung beworfenen Kreis setzen, gehen die Pferde schwankend am Göpelwerk. Inmitten des Göpels auf einem sich drehenden Bänkchen sitzt der Kutscher und treibt sie monoton an, wobei er immer den grauen Wallach peitscht, der fauler als alle anderen ist und im Gehen ganz einschläft. Gut, daß man ihm die Augen zugebunden!
»Holla, ihr Weiber, Weiber!« schreit streng der gravitätische Auflader, indem er sich ein weites leinenes Tuchhemd anzieht.
Die Mägde fegen eiligst die Tenne und laufen mit Besen und Schaufeln hin und her.
»Mit Gott,« sagt der Auflader, und das erste Getreidebündel, das zur Probe in die Maschine geworfen wird, geht summend und rasselnd in die Trommel und hebt sich wie ein zerzauster Fächer. Und die Trommel brummt immer heftiger und lauter, belebter und einheitlicher wogt die Arbeit und bald verschmelzen alle Laute in einen gemeinsamen, lustigen Lärm des Dreschens.
Der Gutsherr steht am Tor der Scheune und schaut wie in ihrem Dunkel rote, gelbe Tücher, Hände, Gabeln, Strohbündel schwirren und wie sich alles gleichmäßig bewegt und lärmt unter dem Brummen der Trommel und dem monotonen Rufen und Pfeifen des Kutschers. Die Spreu fliegt in Wolken zum Tore hinaus. Der Herr steht, über und über grau bestäubt, und sein Gesicht ist nachdenklich. Oft schaut er ins Feld hinaus, erinnert sich an die Bankzahlungen, an die Jagd, an seine Jugend, an seinen Ruin … Und doch naht eine schöne Zeit: Bald werden die Felder weiß werden, bald wird sie der erste Schnee decken.
Der erste Frost, der erste Schnee! Wie wird er das Dorf erfrischen und beleben! Wie wird sich dessen der kleine Gutsherr freuen! Spürhunde sind nicht da, ohne sie kann man im Herbst nicht jagen, aber es kommt der Winter und dann beginnt »die Arbeit« mit den Treibhunden. Und da kommen wieder, wie in früheren Zeiten, die kleinen Gutsherren zusammen, verzechen den letzten Heller und treiben sich ganze Tage in den Schneefeldern herum, und abends leuchten irgendwo auf einem einsamen Gute weit hinaus im Dunkel der Winternacht die Fenster eines Hauses. Dort in diesem kleinen Hause schwimmen Rauchwolken, düster brennen die Talgkerzen und Gespräche über die alten Zeiten gehen von Mund zu Mund. Dann wird die Guitarre gestimmt …
Der Sturmwind in der Dämmrung weht –
weit mein Haustor offen steht.
beginnt zaghaft irgend ein Tenor im Brustton. Einige Stimmen nehmen unharmonisch, als wollten sie scherzen, die letzte Strophe auf:
Weit mein Haustor offen steht –
Mit Schnee hat er den Weg verweht.
Aber das Lied wächst von selbst. Und noch jetzt tönt in ihm der frühere, kühne Zug, aber doch schon schmerzlich und hoffnungslos und bald wird er ganz verhallen und nur als Nachklang des Vergangenen noch in ihm leben, – in diesem alten Liede.