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Hinter der letzten Hütte unseres Steppendorfes verschwand unter dem Roggen unser früherer Weg zur Stadt. Und am Wege, im Getreide, am Rande des am Horizonte verschwimmenden Ährenmeeres stand eine weißstämmige, dichtbelaubte, weinende Birke. Die tiefen Spuren des Weges bargen sich immer wieder unter Gras und gelben und weißen Blumen, die Birke war vom Steppenwind gebeugt und in ihrem leichten, zitternden Schatten ragte ein uraltes, graues Kreuz mit spitzem Dach, das unter sich das Susdalsche Heiligenbild der Mutter Gottes – der Beschützerin der Felder – vor Unwetter bewahrte.
Der seidengrüne, weißstämmige Baum in goldenen Ähren, – wie gefiel er uns in der Kindheit! Übrigens damals erschien uns alles schön. Damals war auch das Getreide dichter, der Sommer wärmer, der Himmel blauer, die Winter kälter und das Dorf froher und reicher … Einst vor langer Zeit stellte der erste, der an diese Stelle gekommen, ein überdachtes Heiligenbild auf, rief den Popen und weihte »die Behausung der allerheiligsten Gottesmutter«. Und seitdem schützte das Gottesbild Tag und Nacht den alten Steppenweg und schirmte unsichtbar mit ihrem Segen das Glück des arbeitsamen Ackerbauern. In der Kindheit empfanden wir Scheu vor diesem grauen Heiligenbild und hatten nicht den Mut, unter sein Dach zu schauen, – nur die Sperlinge wagten dahin zu fliegen und sogar dort ihre Nester zu bauen. Aber wir fühlten auch eine tiefe Ehrfurcht vor ihm, da wir hörten, wie in dunklen Herbstnächten unsere Mütter flüsterten: »Heilige Mutter Gottes gewähre uns deinen Schutz!«
Ein lichter, stiller Herbst war uns immer beschieden, – er waltete so ruhig und friedenvoll seiner Herrschaft in der Steppe, daß es schien, als würden die hellen Tage kein Ende nehmen. Er tauchte die Ferne in zartes, tiefes Blau und den Himmel in jungfräuliche Reine und die Sonnentage in helle Freude. Damals vermochte man den fernsten Hügel in der Steppe, auf der offenen, weiten Fläche der hellgelben Stoppelfelder zu erblicken. Der Herbst schmückte auch die Birke mit goldenem Putz und die Birke freute sich und merkte nicht, wie vergänglich der Schmuck ist, wie ein Blatt nach dem andern daraus fällt, bis sie am Ende ganz entblößt auf des Schmuckes goldenem Teppich steht. Vom Herbst bezaubert war sie voll ergebenen Glücks und stand ganz in Strahlen, im roten Abglanz der trockenen Blätter unter ihr. Und die regenbogenfarbigen Sommerfäden flogen leise neben ihr im Sonnenscheine dahin und ließen sich nieder auf das trockene, stachelige Stoppelfeld … Und das Volk nannte sie schön und zart »das Gespinst der Gottesmutter«. Dafür waren unheimlich die dunklen Tage und Nächte, wenn der Herbst seinen zarten Schleier herunterriß. Schonungslos rüttelte dann der Wind an den kahlen Zweigen der Birke. Die Hütten standen aufgedunsen wie die Hennen während eines Ungewitters. Der Nebel zog in der Abenddämmerung tief über die nackten Flächen dahin, die Augen des Wolfes leuchteten nachts auf den Hinterhöfen. Einen höllischen Dunst atmen sie aus und es wäre fürchterlich in diesen Nächten, wenn am Rande des Dorfes das alte Heiligenbild nicht wäre. Und von Anfang November fast bis Ende April begraben die rastlosen Stürme die Felder, das Dorf, die Birke und selbst das Kreuz bis hinauf zum heiligen Bilde unter Schnee. Du schaust aus dem Fenster ins Feld hinaus und ein roher Sturmwind tobt um das Kreuz, wirbelt die hohen Schneehügel auf und saust stöhnend über das flache Land dahin, auf seinem Lauf die Spuren des zerrissenen Weges verschüttend. Der verirrte Wanderer bekreuzigt sich dann furchtsam, wenn er in der Wolke des Schneewirbels das aus dem Schneehügel ragende Kreuz erblickt, da er weiß, daß hier über der Schneewüste die Himmelskönigin selbst wacht. Und sie ertrug alles am Rande des Weges und beschützte ihr Dorf und ihr Feld, das für eine lange Zeit gestorben.
Und war das Feld auch damals eine lange Zeit tot, so waren die Steppenbewohner doch einstmals standhafter. Da begann endlich das Kreuz hervorzuwachsen aus den sinkenden, grauen Schneemassen, auch der holprige, verwitterte Weg taute auf, warme, dichte Märznebel kamen. Von Nebel und Regen rauchten und schwärzten sich in den trüben Tagen die Dächer der Hütten, während die Hunde über die Schneehügel hinaufkrochen, da die Straße zu einer ununterbrochen Lache geworden war. Dann lösten plötzlich Sonnentage die Nebel ab. Und das ganze Schneefeld sog sich voll Wasser, schmolz zusammen, und zusammengeschmolzen, leuchtete es hell in der Sonne von zahllosen Bächen durchzittert. In ein, zwei Tagen nahm die Steppe eine andere Gestalt an: Wie im Frühling wurde es weit auf den dunklen Flächen, die von einer mattblauen Ferne umrahmt waren. Das struppige Vieh ward aus den Ställen getrieben. Die während des Winters entkräfteten Pferde und Kühe gingen umher und lagen auf der Weide und die Raben ließen sich auf ihren Rücken nieder und zupften die Wolle für ihre Nester. Der quellende Frühling wird für gutes Futter sorgen – das Vieh wird sich erholen im taufrischen Gras! Schon trällerten die Lerchen zur Mittagszeit, schon bräunten sich die Gesichter der Hirtenknaben in Sonne und Wind, die die Erde trockneten. Und wenn Frühlingsregen sie netzte und ein erster Donner sie aufschreckte aus dem Winterschlaf, segnete Gott in stillen, sternhellen Nächten das Wachsen des Getreides und der Gräser. Und nicht mehr besorgt um ihre Wiesen blickte die Mutter Gottes freundlich aus dem alten Bilde herab. Ein feiner, würziger Duft des jungen Grüns erfüllte die Nachtluft, friedlich war es in der Steppe, still in dem dunklen Dorfe, wo schon seit Mariä Verkündigung kein Schmiedefeuer entfacht worden. In der Abenddämmerung aber erstarben die Lieder der Mädchen, die Abschied nahmen von ihren versprochenen Gespielinnen.
Nun brachte schon jede neue Stunde ein neues Wachsen und Blühen. Die Viehweide grünte, die Weide vor den Hütten und die Birke … Regengüsse kamen, die heißen Junitage gingen zu Ende, die Blumen blühten auf und die lustigen Heuernten begannen … Was anders kann man von einem Steppendorfe erzählen? Menschen wurden groß, heirateten, wurden Soldaten, arbeiteten und feierten ihre Festtage … Den Kern ihres Lebens aber bildete die Steppe – ihr Tod und ihre Auferstehung. Verödete und bedeckte sich die Steppe mit Schnee, so lag das Dorf länger denn ein halbes Jahr im Halbschlaf. Damals starben nicht wenige aus dem Volk vor Kälte und Hunger in den elenden Hütten, nicht wenige erfroren in dem Schneegestöber. Kam dann der Frühling, kam auch das Leben – die Arbeit, verschönt durch die Lust der Tage … Oder träumte uns nur davon in der Kindheit? Nein! Ich erinnere mich sehr wohl, wie sanft und leise der Sommerwind in dem rauschenden Laube der Birke spielte und es verwirrte dies seidene Laub und bis zu den Ähren beugte die feinen, biegsamen Zweige. Ich erinnere mich noch eines sonnigen Morgens zu Pfingsten, als sogar die bärtigen Bauern lächelnd zwischen den Birkensträußen hervorblickten; ich erinnere mich der rohen, aber mächtigen Lieder in der Walpurgisnacht, als wir mit der sinkenden Sonne in den Eichenwald gingen, dort einen Brei kochten, ihn in Scherben an den Hügel stellten und »den Kuckuck anflehten« ein gnädiger Verkündiger zu sein; ich erinnere mich »der Sonnenspiele« am Paul und Peterstag, erinnere mich der Preislieder und der frohen Hochzeiten, des rührenden Tedeums vor der guten Schutzherrin aller Leidtragenden, im Felde, unter freiem Himmel, unter dem alten Kreuze an der Birke!
Doch das Leben bleibt nicht an einem Orte stehen, – das Alte vergeht und wir geben ihm oft unter großem Schmerz das Geleite. Aber das Leben hat auch sein Gutes, daß es nämlich in rastloser Erneuerung begriffen ist. Unsere Kindheit war vorüber und alles um uns herum begann schnell sich zu ändern und zu altern. Es gelüstete uns weiter zu schauen, als wir vom Rande des Dorfes zu blicken vermochten, umsomehr, als auch das Dorf langweiliger wurde, die Birke nicht mehr so dicht im Frühling grünte, das Kreuz an der Landstraße verfiel und die Menschen das Feld, das es bewachte, erschöpft hatten. Und da das Unglück selten allein kommt, so begann, scheint es, der Himmel selbst den Menschen zu zürnen, heiße und trockene Winde jagten die Wolken und peitschten in Wirbeln den Staub auf der Straße. Die mageren Roggen- und Haferähren vertrockneten vor der Reife und es war schmerzlich, sie anzusehn. Gibt es doch nichts Traurigeres und Wehmütigeres als eine magere Roggenähre! Wie hilflos beugt sich vom heißen Winde bewegt der leichte, leere Roggen, wie verwaist flüstert er zur heißen Mittagszeit! Das trockene Ackerfeld leuchtet durch seine Halme; von ferne schauen dürre Kornblumen und violette Kornraden daraus hervor … Und das wilde, weiße Gänseblümchen, der Vorbote der Verödung und des Hungers tritt an die Stelle des fetten Getreides am Rande der alten Landstraße. Bettler und Blinde begannen unter Klagetönen das Dorf zu durchstreichen. Und das Dorf selbst, längst in Trauer versunken, stand schweigend in der glühenden Sonne, fast gleichgültig gegen alles, was es umgab. Damals verdunkelte sich gleichsam wie im Schmerze unter den staubigen Winden das milde Antlitz der Gottesmutter. Jahre verstrichen. – Sie schien teilnahmslos gegen das Schicksal ihrer Felder. Und die Menschen fingen an, sie zu vergessen. Noch einige Jahre schmachteten sie in der Steppe, dann begannen sie nach und nach den Weg nach der Stadt zu gehen. Kurz darauf entstand das Gerücht, daß man »sie alle bald … bald in neue Gegenden bringen würde«. Die im Dorfe Zurückgebliebenen begrüßten diese Botschaft mit Freude. Sie verlebten den Winter voller Erwartungen, packten im Frühling ihren armseligen Hausrat zusammen, verschlugen die Fenster der Hütten mit Brettern, spannten die Pferde ein und zogen für immer aus dem Dorf, auf die Suche nach neuem Glück.
Von den »neuen« Orten wußten sie nur, daß es dort viel Wald und viele Tiere gibt; aber von nirgends her war Hilfe zu erwarten, – man mußte vorwärts … Und das Dorf verödete.
Keine Seele mehr! – sagte der Wind, indem er das Dorf umbrauste und in sinnloser Tollheit den Staub auf dem Wege aufwirbelte. Aber die Birke antwortete ihm nicht mehr wie früher. Sie regte leise die Zweige und schlummerte wieder ein. Sie wußte schon, daß die Viehweide in dem Dorfe von hohem Unkraut überwuchert war, daß die taube Brennessel an den Schwellen der Hütten emporschoß, daß der Wermut auf den halb abgedeckten Dächern wächst. Die Steppe war ringsumher leer, und das Dutzend noch erhalten gebliebener Hütten konnte man für Nomadenzelte halten, die auf dem toten Felde nach einer Schlacht oder nach einer Pest verlassen wurden. Das Kreuz unter der Birke, aus deren Wipfel trockene, weiße Äste ragten, neigte sich schon. Jetzt in der Dämmerung, da hinter den dunklen Feldern matt die Abendsonne verglühte, nächtigten in den Ästen Saatkrähen und Raben, die oft auf dieser Welt das Vergängliche gesehen. Nur dann und wann gesellten sich ihnen zur Nacht unter der Birke wandernde Zigeuner …
Und plötzlich tauchen wieder Menschen in der Steppe auf. Immer öfter nahen sie sich auf dem Wege aus der Stadt und schlagen ihre Zelte am Dorfe auf. Nachts entfachen sie Lagerfeuer und verjagen die Finsternis und die Schatten fliehen weit fort über die Wege. Mit Tagesanbruch gehen sie ins Feld hinaus und mit langen Bohrern stoßen sie in den Boden. Die ganze Umgebung bedecken schwarze Erdhaufen wie Grabeshügel, und alles bekommt ein verwildertes, tolles Aussehen. Die Menschen treten erbarmungslos das wenige Korn nieder, das noch hie und da ohne Saat emporblüht, verschütten es erbarmungslos mit Erde, denn sie suchen nach neuen Quellen des Glückes, – sie suchen sie schon im Schoße der Erde selbst, wo sich die Talismane der Zukunft bergen.
»Erz!« – ertönen Stimmen im Felde. Bald wird diese Gegend von Volk wimmeln, Fabrikschlöte werden rauchen, feste Eisenbahnen werden den alten Weg verdrängen und an der Stelle des verwilderten Dorfes wird eine Stadt entstehen.
Und das, was hier dem alten Leben die Weihe gab – das graue zu Boden geneigte Kreuz – ist schon von allen vergessen. Womit werden die neuen Menschen ihr neues Leben weihen? Wessen Segen werden sie auf ihre neue, tatenfrohe und dröhnende Arbeit herabrufen?