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Die neue Bahn.

 

I.

»Schade, daß Sie jetzt fortreisen!« – sagen mir die Bekannten, als sie sich am späten Abend auf dem Bahnhof von mir verabschieden. – »Die richtigen Leute kommen jetzt erst nach Petersburg und Sie gehen fort! Was haben Sie denn dort noch nicht gesehn? Wälder? Schneehügel? Passen Sie mal auf, in einer Woche haben Sie's satt … Und dann diese neue Bahn, auf der es keinen Tag ohne Unfälle abgeht.«

»Unkraut vergeht nicht!« antworte ich mechanisch. Meine Begleiter zucken die Achsel und verstummen. Es treten jene unangenehmen Minuten des Abschieds ein, wo man nichts mehr zu sagen weiß, das Lächeln konventionell wird und die Zeit furchtbar langsam dahinschleicht.

»Ja, ja,« sagt jemand in unnatürlichem Tone, »Sie verduften also. Schade, wirklich schade! … Schreiben Sie wenigstens öfters.«

Endlich ertönt das zweite Glockenzeichen. Wir werden lebhafter und verabschieden uns eilig. Die Hüte schwenkend, verlassen meine Bekannten den Bahnhof und indem sie sich umwenden, grüßen sie mit aufrichtiger Freundlichkeit. Ich bleibe im Gang des Waggons und lächle. Ich fahre also doch! In Petersburg hab' ich immer das Gefühl, als wäre ich auf ein Fest geraten, das den ganzen Winter dauert, und schon das allein wirkt ermüdend auf meine Seele. Ich möchte hinaus ins Freie, in die Weite und da stelle ich mir immer wieder vor, wie schön es dort sein muß – in der Provinz. Und jetzt ist noch dazu die neue Bahn eröffnet, die meinen Weg um fünfhundert Werst kürzt. Es ist wahr, daß die Unfälle auf dieser Bahn sich bis zur Lächerlichkeit häufen, aber wie schön, sagt man, ist sie dafür!

»Fertig!« schreit jemand in der Nähe der Lokomotive und die Maschine stößt schwer mit ihren Puffern an die Wagen. Man hört das heisere Stöhnen des Dampfes, der ab und zu in Rauchwolken aufsteigt. – Der Bahnsteig leert sich. Vor meinem Waggon bleiben nur ein stattlicher, schöner Offizier mit einem schmalen, frech-ernsten Gesicht, von Bartkoteletten umrahmt – und neben ihm eine Dame in Trauer. Die Dame hüllt sich in ihren Radmantel und schaut den Offizier mit verweinten, schwarzen Augen an, während er, zum Ausdruck seines Schmerzes, den Schaffner anglotzt. Dann kommt mit der ungeschickten Hast eines wohlbeleibten Menschen ein Gutsbesitzer mit einem roten Schnurrbart, mit einer Flinte in einem Futteral und einer Jagdtasche aus Hirschfell über dem grauen Jägeranzug und hinter ihm ein untersetzter, breitschulteriger General … Dann kommt eilig – stürzt – aus dem Bureau der Stationsvorsteher. Er hat eben ein unangenehmes Gespräch gehabt und befiehlt schroff, das »dritte Glockenzeichen« zu geben, schleudert die Zigarette weit von sich, daß sie lange Zeit, rote Funken stiebend, über den Bahnsteig hinhüpft. Und bald hallt die dröhnende Bahnhofsglocke über den ganzen Perron – gellende Pfiffe des Zugführers, ein mächtiges, dumpfes Stöhnen der Lokomotive – und der Zug setzt sich leicht gleitend in Bewegung. Der Offizier geht schnell längs des Bahnsteigs, indem er sich verbeugt und die Schritte beschleunigt und immer mehr hinter dem Wagen zurückbleibt. Die Maschine stößt immer ruckweiser und schroffer den heißen Dampf aus den Zylindern … Jetzt leuchtet die letzte Lampe des Perrons auf, der Offizier verschwindet, als hätte ihn die Erde verschlungen – und der Zug fährt nun ganz im Finstern. Die Dunkelheit breitete sich auf einmal vor ihm aus, von tausend goldigen Lichtern der Stadt besät und der Zug fährt in sie hinein, vorbei an den Güterschuppen und Waggons, indem er durch sein zitterndes Stöhnen drohend jemanden warnt. Der Lichtschein von den Fenstern läuft immer schneller über die Schienen und Schwellen, die nach verschiedenen Richtungen auseinandergehen … Bald wird es im Waggon gemütlich und warm werden und die Reisenden werden ihre Sachen kunterbunt auf die Polster werfen und sich es für die Nacht bequem machen. Ein ergrauter, strenger, aber sehr höflicher alter Schaffner, mit einem Zwicker auf der Nasenspitze, geht ohne jede Hast durch diese Enge und notiert gewissenhaft die Billets, wobei er sich zu der kleinen Laterne des Unterbeamten niederbeugt.

Die Luft in den Feldern kommt einem nach der Stadt ganz ungewöhnlich vor und wie immer stehe ich bis in die späte Nacht im Gange des Waggons am offenen Fenster und schaue voll Spannung gegen den Wind hinaus in die dunklen Schneegefilde. Der Zug fährt unter Volldampf und alles um mich herum regt sich, als lebe es ein fieberhaftes Leben. Der Wagen zittert und dröhnt vom schnellen Lauf, der Wind treibt mir Schneeflocken ins Gesicht und die Flamme der Lampe flackert im Gange, indem sie sich mit den Schatten eint und schwankend gehe ich von einer Tür zur andern über den kalten Gang, der weiß wurde vom Schnee … Früher, erinnere ich mich, regte mich das alles auf. Die laute Fahrt, das Dunkel des Kommenden, – mit zwanzig Jahren – stimmte mich dies alles froh und freudig. Ich wollte etwas wie die Marseillaise unter dem dröhnenden Takte des dahinbrausenden Zuges singen … jetzt aber gehe ich nur aufgeregt von Tür zu Tür und hinter ihnen tauchen für einen Moment die Silhouetten von Hügeln und Gebüschen auf, unter einem kurzen Brummen laufen unter den Rädern kleine eiserne Brücken vorüber, während in der Ferne auf den grauweißen Feldern die Lichter der verlorenen Dörfchen blinken. Und die Augen gegen den Wind schützend, schaue ich voll Trauer in die dunkle Weite, wo das vergessene Leben der Heimat flackert in so matten, stillen Lichtern. Ich kehre in das Coupé zurück und finde schon den Schlaf in seiner Herrschaft. Im Halbdämmer sieht man die Gestalten der Liegenden, es ist eng durch die Wintermäntel und die heruntergelassenen Polster, es riecht nach Tabak und Orangen. Indem ich mich nach dem kalten Winde wärme, schaue ich lange mit halbgeöffneten Lidern, wie sich der an der Tür aufgehängte Wintermantel schaukelt und denke an etwas Verschwommenes, das sich mit dem zitternden Halbdunkel des Waggons eint und unmerklich summend mich einwiegt … Eine wunderbare Sache ist das Schlafen auf der Fahrt! Im Schlummer hörst du manchmal den Zug still werden. Dann ertönen laute Stimmen unter dem Fenster, ein Scharren der Füße auf dem Bahnsteig und ein gleichmäßiges Atmen und Schnarchen der Schlafenden im Waggon. Etwas beunruhigt die Augen, das ist der mattstrahlende, gelbliche Glanz des gefrorenen Fensters gegenüber, hinter dem die Bahnhofslaterne steht. Sie beleuchtet trüb das Dunkel des Waggons und im Halbschlaf erscheint sie einem krankhaft und störend. »Wissen Sie nicht, was das für eine Station ist?« fragte jemand mit sonderbar erschrockener Stimme … Dann schlägt irgendwo monoton weit, weit in der Ferne die Glocke an, die Türen der Waggons schlagen zu und ein klagender Laut der Lokomotive ertönt, der an die unendliche Ferne des Weges und an die Unendlichkeit der Nacht erinnert. Etwas beginnt aufzuzittern und einen in die Seite zu stoßen; der metallisch strahlende Glanz der Laterne vergeht und erlischt in den Scheiben der Fenster. Die Federn der Polster federn taktmäßiger und taktmäßiger und die ununterbrochen steigende Geschwindigkeit des Zuges wiegt einen wieder in den Schlummer ein … Die plötzliche Berührung durch eine Hand zeigt mir vor Tagesanbruch den bevorstehenden Wagenwechsel an. Erschrocken springe ich auf, packe eilig meine Sachen zusammen, und gehe durch eine große, öde und mattbeleuchtete Station auf einen Perron, der mit tiefem, frischen Schnee bedeckt ist auf einen kleinen, aus verschiedenartigen Waggons zusammengesetzten Zug zu.

»Die neue Bahn!« denke ich mit Vergnügen. – Stille, kleine Waggons, der Duft frischen Birkenholzes und Fichtenholzes … Schön!

Im Halbschlafe gerate ich in den sogenannten » Waggon mixed«, einen engen, mit quadratischen Fenstern versehenen Wagen und schlafe bald wieder fest ein. Der Zug ist wieder im Gange und bald wiegt er wieder mich ein … und gegen Morgen bin ich schon weit von Petersburg. Da beginnt jene lange, echt russische Winterfahrt, die man in Petersburg ganz vergessen hat …

 

II.

Ein quälendes Husten weckt mich auf. Ich öffne die Augen und sehe vor mir einen Stanowoj, einen typischen, alten Soldaten in einem gelben Bärenpelz über dem grauen Polizeimantel. Durch den anstrengenden Husten treten die Augen voller Tränen heraus, das verwitterte Gesicht ist rot, der graue Schnurrbart zerzaust. Aus seinem Munde qualmt heftig eine aus billigem starken Tabak gedrehte große Zigarette, während doch im Wagen schon ein trüber Dunst ist, da die Fenster bis zur Hälfte mit Schnee bedeckt sind. Der Zug schüttelt und rüttelt wie ein Bauernkarren.

»Das ist ein Husten;« sagte der Polizist schnaubend, und so einfach und gutmütig, als wären wir zusammen aufgewachsen. »Es wird nur dann leichter, wenn man ein wenig raucht!«

»Nun ist Petersburg schon weit, weit!« denke ich, mich erhebend und indem ich mechanisch dem Polizisten auf seine Fragen über Petersburg antworte, schaue ich durch die Fenster. O, was für ein weißer, reiner Schnee! Ist es denn so lange, daß ich den Petersburger Zug verlassen, daß schon alles Petersburgische tausend Werst hinter mir zu liegen scheint. Ringsumher nur der weiße, leblose Himmel und das unendliche weiße Feld mit seinem Gebüsch und seinem Wald. Und wie wenig Petersburgisch geht der Zug. Die Drähte der Telegraphenstangen schwirren laß vor den Fenstern, als wäre es ihnen so langweilig, auf und abzusteigen und in gerader Richtung mit dem Zuge zu verlaufen und den Stangen, ihnen nachzueilen. Der Zug stöhnt und schaukelt bei den Steigungen und bei den Senkungen läuft er wie ein Greis, der jemanden einholen will. In eintönigem Weiß schimmern die Felder, ein Vogel in der Ferne flattert mit den Flügeln, die Sträucher und die Dörfer zeichnen sich schwarz ab – und all das verschwindet in Kreisen. Der Wind verweht träge den Rauch der Lokomotive und das Gebüsch, über das dieser Rauch sich ausbreitet, raucht gleichsam und zieht dahin über das Schneegefilde … Alles ist so bekannt und zugleich so neu und verführerisch! Der Morgen geht unmerklich vorüber. Du wäschst dich, trinkst Tee und erkennst dich nicht wieder. Keine Spur von der früheren Gleichgültigkeit gegen alles. Petersburg ist weit, die echte Einöde beginnt … und mir gefällt es sogar, daß der Waggon so eng und ungemütlich ist, daß außer mir und dem Polizisten, der übrigens bald auf einem Kreuzpunkt aussteigen wird, nur noch ein Reisender im Coupé ist: Ein bärtiger, untersetzter alter Mann, ein Eisenbahnangestellter mit einer Tasche über der Schulter, einem Provinzkrämer gleich. Er beschäftigt sich eifrig mit Zigarettenstopfen und Teetrinken, und ich höre den ganzen Morgen, wie er mit Vergnügen die heiße Flüssigkeit aus der Tasse schlürft.

»Mögen Sie nicht,« sagt er zu mir, mit den Augen auf die blecherne Teekanne deutend. – »Wozu auf den Bahnhöfen für ein Gläschen zehn Kopeken zahlen?«

Da an der Türe, wo ich sitze, ein kalter Luftzug über die Füße geht, sitze ich, die Kniee ins Plaid gewickelt, und ohne die Augen abzuwenden, schaue ich immer durch das Fenster, auf die frischen Gräben neben dem Bahndamm, bald auf die neuen hölzernen Stationsgebäude, und die neuen Weichen, bald auf das weiße Feld mit seinen Wäldern, wobei es mir scheint, daß die Baumstämme zittern und mit einander zusammenfließen, während der ganze Wald im Kreise tanzt: Die Bäume in der Nähe laufen zitternd zurück, während die fernen allmählich vorauseilen …

Dann trinken der Eisenbahnangestellte und ich Tee, und teilen einander unsere Lebensschicksale mit. Später gehe ich in den Gängen der Waggons spazieren und über die Verbindungsbrücken der Wagen … Es ist sehr angenehm zu schauen, wie der frische Schnee in der Luft wirbelt und schon überall das echte Rußland atmet! Häufig sind die Stationen und Kreuzpunkte, aber sie verlieren sich in der öden, großen winterlichen Landschaft. Außerdem war die Bahn noch nicht Herr der Gegend und lockte die Bewohner noch nicht zu sich heran. Der Zug hält wieder auf einer öden Station und fährt weiter durch Wälder und Felder … Wir fuhren übrigens schon mit Verspätung ab und hielten außerdem noch auf der Strecke und niemand wußte, warum – und alle saßen in banger Erwartung dem heulenden Winde, draußen vor den Waggons und dem klagenden Pfiff der bauchigen Lokomotive lauschend, die die Angewohnheit hat, beim Anrücken alle Reisenden von den Polstern zu werfen. Bei dem schwankenden Laufe des Zuges gehe ich mich in der Balance haltend von einem Wagen zum andern und sehe überall das übliche russische Leben einer Kleinbahn. Die erste und zweite Klasse ist leer, aber in der dritten Säcke, Bauernpelze, große Kasten, auf dem Boden Staub und Sonnenblumensamen und fast alle Insassen in Schlaf versunken, in den ungesündesten und schrecklichsten Stellungen. Die Wachenden sitzen und rauchen bis zur Betäubung, so daß die heiße Luft von dem ätzenden und süßlichen Dunst des billigen Tabaks blau wird. Nur einer mit einem Glücksspiel, ein junger Dieb mit triefenden Augen schläft nicht. Er zieht in Haufen die Bauern und halbbetrunkenen Arbeiter zu sich heran und sie gewinnen zuweilen, das Glück versuchend, wie zum Hohn einen Bleistift für zwei Kopeken, einen Becher aus geblasenem Glas. Man hört Streiten, Gespräche, ein Kind schreit heftig, der Zug dröhnt und stößt und ein Soldat in neuem Kattunhemd und schwarzem Halstuche, sitzt ruhig auf dem auf seinem Kasten Schlafenden, einen Fuß auf die gegenüberliegende Bank gestützt, mit blöden Augen und hochgezogener Oberlippe, und jammert auf einer Ziehharmonika aus Tula:

»Überm Flusse schwimmt der Mond so wunderbar …«

»Station Weißwald! Acht Minuten! …« schreit der Schaffner, ein hochgewachsener Muschik in schwerem, langen Mantel, mechanisch aus, und unsern Waggon durchschreitend, schlägt er die Türe mit einer derartigen Wucht zu, als wollte er sie für immer zuschlagen.

Das bedeutet, daß die Wälder beginnen. Zwei Stationen nach »Weißwald« ist eine Kreisstadt, nach deren Namen diese Wälder heißen. Die Gebüsche und Baumstände werden häufiger, – es beginnt ein gemischter Schwarz- und Rotwald. Es verstreicht eine Stunde, anderthalbe und endlich kommen in der Ferne hinter dem Walde Spitzen und Kreuze eines Klosters zum Vorschein, durch das die Stadt weithin bekannt ist. Der Wald wird um die Stadt unbarmherzig abgeholzt und es scheint, daß die neue Bahn heranstürmt wie ein Eroberer, der beschlossen hat, um jeden Preis das Waldesdickicht zu lichten, das das Leben in seiner urewigen Stille verbirgt. Und der lange Pfiff, den der Zug vor der Stadt auf der über einen Waldfluß geschlagenen Brücke gibt, verkündet gleichsam den Bewohnern dieser Gegend seinen Siegeszug.

Für einige Minuten entsteht um uns ein hastiges Treiben. Hinter dem ziegelfarbigen, hölzernen Bahnhof sieht man die Dreigespanne. Die Schellen läuten, die Kutscher schreien um die Wette und der Wintertag ist grau und warm und es ist wie im Fasching. Auf dem Perron spazieren junge Fräulein und junge Herren, unter denen ein stattlicher Telegraphenbeamter den Ton angibt, offenbar der schöne Mann des Ortes, mit einem blaugrauen Zwicker und kaukasischer Papacha. Eine Kopfbedeckung. Jeden Augenblick werden die Türen des Waggons aufgerissen, von draußen strömt Kälte herein und es riecht nach Schnee und Fichtenwald. Ein stattlicher, wohlgebauter Kellner, nur im Fracke und ohne Hut, trägt gebratene Pasteten herum und inmitten des Waldes ist ein gestärktes Hemd und eine weiße Krawatte ein sonderbarer Anblick. In unsern Waggon steigen viele junge Mädchen ein, die jemanden begleiten und einander zuflüstern und mit den Augen kokettieren; ein Kaufmann mit einem Kissen, drängt sich nach seinem Platz, indem er alles, was ihm in den Weg kommt, stößt, während ein magerer, aber hochgewachsener Pfarrer, schnaubend, die Bibermütze aus der schweißtriefenden Stirn ins Genick schiebend, in den Waggon kommt, wieder hinausläuft, wobei er den Gepäckträger untertänigst um Hilfe bittet. Er packt eine zahllose Menge von Bündeln und Säcken auf die Polster und unter die Sitze, entschuldigt sich bei jedem wegen der Unruhe und murmelt in gemachter Heiterkeit vor sich hin: »Nun, jetzt ist alles in Ordnung! … Das da hier her und das da geht, glaub' ich, ganz gut unter die Polster … Störe ich Sie nicht? Nein? … Nun, dann ist's gut. Danke Ihnen vielmals!« Und durch dies Getriebe schlängelt sich ein Zitronenverkäufer mit einem Korbe, Nonnen mit welken Gesichtern bitten für eine heilige Stätte und plötzlich, als schon das zweite Glockenzeichen ertönt, kommt ein Blinder mit einem tierischen Gesicht in den Wagen hinein, streicht auf seiner Geige mit einem Zug »Mariza rauscht« an und fällt selbst mit einem wilden Baß in den Marsch ein.

Inzwischen schiebt man den Waggon zurück und wieder vorwärts. Lange hört man die Schaffner schimpfen und das Rasseln der Zugleine über den Fenstern, die sie von der Maschine über den Zug spannen … Endlich fährt der Zug weiter.

Und wieder schwirren die Birken und Kiefern im Schnee, die Felder und die Dörfer vorüber und über allem der graue Himmel.

 

III.

Diese Birken und Kiefern werden stetig unfreundlicher: Sie werden düsterer, indem sie sich dichter und dichter zusammenscharen. Es fällt ein frischer, leichter Schnee, aber von dem ununterbrochenen Dickicht des Waldes wird es in den Waggons dunkel und das Wetter selbst scheint düster zu werden. Jetzt beginnt außerdem in meine Stimmung sich etwas Ernstes und Herbes zu mischen und die Freude der Rückkehr zum stillen Waldleben trübt sich nach und nach … Die neue Bahn führt immer weiter und weiter, in eine neue, mir unbekannte Gegend Rußlands und darum fühle ich noch lebhafter das, was ich so voll in meiner Jugend fühlte: Die ganze Schönheit und die ganze tiefe Trauer der russischen Landschaft, die so unzertrennlich mit dem russischen Leben verbunden ist. Die neue Bahn umgaben schon düster die dunklen Wälder, als wollten sie ihr gleichsam sagen: »Geh' nur, geh' nur, wir räumen dir den Platz, aber bedenke, was für eine Verantwortung du auf dich nimmst. Wird dein neues Tun nur darin bestehen, daß du dem bangen und kleinmütigen Elend der Gegend die Armut der Natur zugesellst?«

Der Wintertag in den Wäldern ist sehr kurz. Jetzt beginnt es schon in den Ecken des Waggons zu dunkeln. Vor den Fenstern sinkt die bläuliche Abenddämmerung herab und nach und nach schleicht sich in das Herz die grundlose, trauernde, echt russische Sehnsucht. Petersburg kommt mir schon wie eine ferne Oase am Rande der Schneewüste vor, die mich auf allen Seiten auf tausend Werst umgibt. Unser Waggon wird wieder leer. Wieder sind nur drei Reisende mit mir: Der Eisenbahnbeamte und zwei Schlafende, ein Kavallerist und ein Gehilfe eines Stationsvorstehers. Der Kavallerist, ein junger Mann, in stramm anliegenden Reithosen, schläft wie ein Toter, heldenhaft hingestreckt auf dem Rücken. Der andere liegt mit dem Gesicht nach unten, indem er schwach hin- und herschwankt und sich gleichsam den Stößen des dahinfahrenden Zuges anpaßt. Es ist ein trauriger Anblick, sein alter Mantel und die alten, großen vom Sitz herabhängenden Galoschen.

Das ist es aber nicht allein: Es kommt noch das Dunkel und die Kälte in dem rasselnden, ungemütlichen Wagen hinzu. Du schaust auf die weltverlassenen Gegenden längs des Bahndammes und du glaubst, daß der dröhnende Zug irgendwo im Taigerwalde im fernen Norden dahinfährt. Die Stämme der hohen Kiefern inmitten der Schneehügel schwirren vorüber, in Mengen drängen sich auf Anhöhen die wie Nonnen gestalteten Tannen in ihrer schwarzen Sammettracht. Zuweilen lichtet sich das Waldesdickicht und weit breitet sich die tiefe, sumpfige Niederung aus. Dahinter steigen in trübem Blau amphitheatralisch die Wälder empor und wie ein Dunststreifen hängt über den Wäldern ein milchbleierner Nebel. Und dann rauschen wieder dicht vor den Fenstern die Kiefern und Tannen vorüber. In dumpfem Dickicht rückt der Schwarzwald heran, im Waggon wird's dunkel … Die Fensterscheiben klirren und summen, leicht pendelt in den Angeln die rote Holztüre des andern Abteils, während die Räder einander unterbrechend gleichsam unter der Erde ihr verworrenes, hastiges Gespräch führen.

»Schwatzet nur! Schwatzet nur!« rufen ihnen gewichtig und sinnend die düsteren, hohen Kieferndickichte zu. – »Wir räumen euch den Platz, aber was werdet ihr in unser stilles Land bringen!«

Die Lichter leuchten schüchtern, aber lustig in den kleinen, neuen Häusern der Waldstationen. In jedem von ihnen regt sich ein neues, geschäftiges Leben, – kleine Oasen inmitten des öden Waldreiches. Nur zwei Schritte von diesem kleinen Stationsgebäude aber beginnt eine ganz andere Welt. Dort tauchen inmitten der Wälder vereinzelte Ansiedlungen des düsteren und trübsinnigen Waldvolkes auf; auf den Perrons der Stationen stehen manchmal einige Menschen aus diesen Dörfern, – einige Kutscher in zerrissenen Bauernpelzen mit zerzaustem Haar und heiseren Stimmen, aber so demutsvoll mit so reinen, fast kindlichen Augen. Die Peitschen zu Boden gesenkt, schauen sie fast hoffnungslos nach einem Reisenden aus, denn auf mehrere von ihnen kommt selten auch nur ein Reisender. Und indem sie stumpfsinnig den Zug anstarren, sagen sie ihm gleichsam mit ihren Blicken: »Macht halt, was euch beliebt. Wir haben nichts, wohin wir unser Haupt betten. Was aber daraus wird, wissen wir nicht.«

Auch ich sehe dies junge, aber schon müde Volk … Und ganz Rußland kommt mir vor wie eine endlose Einöde von Schnee und Wald, auf die jetzt langsam eine lange, schweigende Nacht herabsinkt.

Diese Nacht wird warm sein mit weichem, leise sinkendem Schnee. Eine Minute hält der Zug vor einem langen niedrigen Gebäude auf einem Kreuzpunkt, dessen beleuchtete Fensterchen wie lebendige Augen aus dem urewigen, in Schnee begrabenen Kiefernwalde hervorschauen. Die Maschine klirrt mit den Rädern über die Schienen, huscht leicht an dem Zug vorüber, hängt ihm zehn Güterwagen an und verkündet mit zwei klagenden Rufen, daß sie fertig ist. Diese Rufe tönen im Widerhall hin über den Rand des Waldes und der Zug tritt von neuem seine Fahrt an, – immer weiter in die Tiefe der Waldungen.

»Bald kommt eine schlechte Stelle!« sagt mir seufzend ein hinter mir auf der Treppe des Waggons stehender Kleinbürger. – »Da kommt eine Steigung von drei Werst, dann ein aufgeschütteter Damm. Es ist unheimlich, da geht kein Tag ohne ein Unglück vorüber …«

Ich sehe wie die Lichter der Station von uns fortlaufen und im Walde verschwinden und höre dem Manne mechanisch zu. Eine stille Sehnsucht, tief wie die Nacht des Waldes, steigt um mich auf …

»Welchem Lande gehöre ich an,« – denke ich für mich – »ich bin ein russischer intelligenter Proletarier, der einsam herumirrt in den heimatlichen Landen? Was ist uns Gemeinsames geblieben mit dieser Waldwüste? Sie ist unendlich groß und ich soll ihren Schmerz fassen, ihr helfen? Und wie schrecklich einsam sind wir, wir, die wir hilflos Schönheit, Wahrheit und höhere Freuden für uns und für andre in diesem waldigen Riesenlande suchen! Wie schön und jungfräulich reich ist dieses Land! Welch herrliche und majestätische Wälder umgeben uns hier! Wie still schlummern sie ein in dieser warmen Januarnacht, voll der zarten und reinen Schneeluft und des grünen Tannenduftes! Und wie unheimlich zugleich diese Ferne!«

Ich schaue nach vorwärts auf diese neue Bahn, der mit jeder Stunde die Wälder unfreundlicher begegnen. Jetzt hat diese Bahn etwas Phantastisches an sich. Eingezwängt in die schwarzen Dickichte und von vorn durch die Maschine beleuchtet gleicht die Bahn einem unendlichen Tunnel. Hundertjährige Kiefern versperren ihr den Weg und es scheint, sie wollen den Zug nicht vorwärts lassen. Aber der Zug kämpft gleichmäßig den Takt schlagend, unter schwerem und ruckweisem Atmen, und kriecht wie ein gigantischer Drache über die Höhe, während sein Rachen in der Ferne eine rote Flamme ausspeit, die hell unter den Rädern der Maschine über den Geleisen zittert und flackernd voll Mut die düstere Straße der starren und schweigenden Kiefern durchblitzt. Die Finsternis versperrt den Weg, aber hartnäckig dringt der Zug vor. Der Rauch schwebt über ihm wie der Schweif eines Kometen in langen, weißen Wirbeln, voll feuriger Funken, von unten in flammendes Blut getaucht aus dem Schlote der Lokomotive.


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