Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Zweiter Band
Laurids Bruun

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Viertes Buch

1

Es war eine seltsame Unruhe über Svend gekommen.

Wenn er des Morgens erwachte, fuhr er erschreckt in die Höhe. Er hatte das bestimmte Gefühl, als ob er etwas versäume. Und im Laufe des Tages – während er die Zeitung las, während er aß – durchfuhr ihn plötzlich der Gedanke, daß er keine Zeit zum Lesen und zum Essen habe. Wenn er aber nachdachte, konnte er nichts finden, was so eilte.

Ich bin von dem ewigen Warten nervös geworden, dachte er und seufzte über sein Schicksal.

Abermals wurde es Weihnachten. Und zum zweitenmal sollte er das Fest fern von den Seinen verleben. In diesem Jahr war nicht einmal Falk zu Hause.

Er dachte ernstlich daran, zu seiner Mutter und Gerda zu reisen. Aber es lag so viel zwischen ihnen, was entweder verschwiegen oder gebeichtet werden mußte. Und was er auch täte, er würde ihnen nur Schmerz bereiten.

Er war ihnen nun einmal entfremdet; und da kein Verständnis zwischen ihnen mehr möglich war, so gab es nur das eine, seiner guten, alten Mutter keinen Schmerz zu bereiten.

Er konnte sich auch nicht entschließen, die Stadt zu verlassen. Sie band ihn mit hinterlistigen Fesseln.

So saß er denn wieder allein in seinem Zimmer, das Kinn in die Hand gestützt, und starrte in die Glut des Ofens, während die Erinnerungen um ihn emporstiegen, sein Gemüt erhitzten, sein Herz beunruhigten und seinen Augen Tränen entlockten.

Er dachte an Ellen, mehr aber noch an seine Knaben. Er dachte an seine eigene Knabenzeit und an alles das, was sein Leben aus dem Geleise gebracht hatte.

Dann nahm er sich zusammen, ballte die Hände und dachte an die Zukunft. Sie war sein ständiger Trost.

Bald war das alte Jahr zu Ende, und diesmal ging ein ganzes Jahrhundert mit ihm zu Grabe. Ein mächtiger Sprung sollte gemacht werden – von dem neunzehnten zum zwanzigsten Säkulum.

Ja, eine neue Zeit sollte anbrechen, auch für ihn. Was wollte er alles ausrichten!

Wenn das Vermögen erst sein war, so sollten seine Taten von sich reden machen.

Er sprang auf und ging im Zimmer hin und her, während er das Ganze durchdachte, wie er es so häufig getan hatte.

Sein eigenes Organ! – Verantwortlich für seine Meinungen, seine Feder! Man sollte hier in Dänemark die Wahrheit zu hören bekommen. Die besten Köpfe wollte er um sich versammeln, die ganz jungen, die noch nicht vom System angeworben waren.

Am Morgen des dritten Weihnachtstages erwachte er aus einem seltsamen Traum. Als er aber die Augen zu dem dämmernden Wintertag aufschlug, schwand er im selben Augenblick aus seinem Gedächtnis. Auf dem dunklen Grund hoben sich nur die bleichen Züge der Konferenzrätin und seines Vaters ab.

Was war es doch nur, was sie ihm gesagt hatten? Oder hatten sie etwas zueinander gesagt, wahrend er ihnen zuhörte? Sie hatten etwas über ihn gesagt, den Eindruck hatte er behalten.

Ein gewisses Gefühl von Feierlichkeit lag über seinem Gemüt und verließ ihn nicht. Es verließ ihn nicht, während er sich ankleidete, während er das Rouleau aufrollte und über den Park blickte. Noch einmal versuchte er sich den Traum zurückzurufen, als schwebe er da draußen in den weißen Wolken, die von blauen Himmelsflecken unterbrochen in dicken Schichten dahinzogen.

Als Frau Henrichsen mit seinem Frühstück und der Zeitung hereinkam, lag die Feierlichkeit noch in seinem Blick. Dann schlug er sich den Traum aus dem Sinn und machte es sich mit der Zeitung bequem.

Da ging ein Ruck durch seinen Körper. Er fuhr in die Höhe und wußte im selben Augenblick, was sein Traum bedeutete.

Unter den »Letzten Telegrammen« fiel sein Blick auf Onkel Kaspers Namen. Da stand:

»Aus Fjordby wird telegraphiert, daß die Witwe des bekannten Politikers Kasper Byge heute nacht nach längerem Leiden im Alter von siebzig Jahren verstorben ist.«

Er las es wieder und wieder, während sein Herz sich langsam nach der Sturmwoge, von der es erschüttert worden war, beruhigte.

Eine milde Müdigkeit goß ihre Wärme durch seine Glieder. Es war, als ob ein zwingender Druck, der seinen Kopf und sein Herz lange umspannt gehalten hatte, plötzlich gewichen war; jetzt, wo er sich befreit fühlte, begriff er erst, wie furchtbar schwer er es gehabt hatte.

Seine Augen füllten sich mit Tränen der Befreiung; im selben Augenblick aber schämte er sich, wie müßig er umhergegangen war und auf ihren Tod gewartet hatte. Für Scham war bis jetzt in seinem überlasteten Gemüt kein Raum gewesen.

Den ganzen Vormittag blieb er in seinem Stuhl am Fenster sitzen, während Erinnerungen auf ihn einstürmten, von dem ersten steifen Mittagessen in Onkel Kaspers Hause, bis zu dem letzten zornigen Brief der Konferenzrätin.

Er sah ihre strenge Miene, ihren mißtrauischen Blick wieder vor sich; aber jetzt war er verklärt, hatte keine Bitterkeit mehr für ihn. Auf eine seltsame Weise verwebte der Traum, der ihm heute morgen entschwunden war, sich mit der Erinnerung an sie. Es war, als ob ein Bescheid vom Jenseits zu ihm gekommen sei.

Unsinn!

Er versuchte sich von dem geheimnisvollen Eindruck loszumachen, aber es gelang ihm nicht. Seine Gedanken wurden von der Phantasie ergriffen, die sie mit sich ins Weite nahm, dorthin, wo es so himmelhoch und so abgrundtief war, daß der Wille nicht länger mitzufolgen vermochte.

Endlich, endlich war das Geld des Geschlechtes durch Onkel Kasper zu ihm gekommen, dazu ausersehen, Großes und Gutes für Land und Leute zu wirken, wie sein Wille es seit langem gelobt hatte.

Wenn seine Kräfte nur mit seinem Willen Schritt halten wollten, so würde Svend Byge seinen Vätern nacharten – ja, mehr als das.

Größere Taten wollte er verrichten als irgendeiner von den Alten. Sie mußten sich in ihrem Grabe damit trösten, daß es ihr Geld war, auf dem er alles aufbaute. Sie würden unter ihren schweren Grabsteinen in dem alten Familiengrab in der Heimatgegend des Geschlechtes lächeln beim Bewußtsein, daß sie gegründet, was er gewonnen hatte.

Fast wäre es zu spät geworden.

Jetzt, wo er gerettet, sah er mit Grauen, wie tief er gesunken war. Keine Stellung. Keine Stütze. Von allen und allem abgeschnitten. Querulant!

An allen Ecken und Enden verschuldet und schließlich in den Klauen eines Wucherers!

Wie tat es wohl, wieder den Rücken aufrichten, wieder der Welt unter ihren barschen Brauen offen ins Auge blicken zu können! Es kam über ihn wie ein Rausch.

Er ging aus. Er fand, er mußte die große Neuigkeit der ganzen Welt verkünden. Daß auch Falk ihm in dieser Stunde so fern war!

Er mußte sich damit begnügen, in den Straßen umherzuwandern, allein mit seinem neugeborenen Jubel und seiner wiedererwachten Willenskraft.

Er gönnte sich ein gutes Mittagessen. Während er ein Glas auf sein eigenes Wohl trank, gedachte er der Trunkgelübde der Alten. Er bedurfte keiner Versprechungen. Die hatte er so oft in seinem bewegten Innern gegeben, jetzt galt es, sie einzulösen.

Schon am nächsten Tage konnte Svend seine Ungeduld nicht länger beherrschen.

Gleich nach dem Frühstück begab er sich auf den Weg zu Doktor Fratz.

Es war ein strahlendes Frostwetter. Er fühlte sich stark und elastisch wie nie zuvor.

Plötzlich wurde er der Equipage des Prinzen ansichtig. Aus alter Gewohnheit wollte er ihr ausweichen; da aber schwoll der Triumph in ihm. Und mit zurückgeworfenem Kopf und festem Blick bereitete er sich zum Gruß.

Leutnant Flindt sah ihn zuerst und sagte einige Worte zum Prinzen. Seine Durchlaucht wandte den Kopf zu ihm um und winkte lächelnd mit der Hand, während er grüßte.

Leutnant Flindt kniff das eine Auge zu, als wolle er sagen:

»Na, nun sind Sie wohl wieder oben auf. Sie glückliches Luder.«

Indem Svend an der Börse vorbeiging, musterte er das daneben liegende Ministerium und wünschte, daß Juhl oder Jersey zufällig am Fenster stünden, um ihn als Sieger vorbeigehen zu sehen.

Dort drüben lag Kammerherr Tithoffs Fenster, aber er war wohl noch nicht da.

Er nickte selbstbewußt vor sich hm: Man sollte bald von ihm hören dort drinnen!

Als er am Ministerium vorbei war, erinnerte er sich des Spazierganges mit Ellen vor Jahren, als sie denselben Weg gegangen und dem Prinzen begegnet waren, der sie angeredet und die Bekanntschaft von der Reise her erneuert hatte.

Was hatte er seit damals alles durchgemacht.

Jene Seereise über die Nordsee war in vielen Beziehungen schicksalsschwanger für ihn geworden. Aber es hatte sich alles zum Guten gewendet. Selbst die dunkelsten Erinnerungen verklärten sich in dem Lichtschein der Zukunft, der er entgegenging.


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