Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Zweiter Band
Laurids Bruun

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2

Svend hatte unter anderem als Brynchs Sekretär die Aufgabe, mit den Leuten zu sprechen, untergeordnete Kontorangestellte abzufertigen, kurz gesagt, den Arbeitsfrieden des Departementschefs zu wahren.

Eines Tages kam der Kontordiener herein und rief Svend beiseite. Er sah ganz verwirrt aus.

»Was ist los, Jörgensen?«

»Da ist so ne Art – so ne Art Deputation. Fünf, sechs Mann mit großen Wasserstiefeln. Sie sagen, daß sie aus Jütland sind.«

Svend ging schnell hinaus.

Da standen fünf stämmige, alte Fischer in Flausröcken, mit wasserklaren Augen, roter Gesichtshaut, wettergegerbten Backenbärten und Fäusten, die sich wie altes Leder anfühlten.

Sie standen auf dem halbdunklen Korridor dicht beieinander, die Hüte in der Hand.

Svend sah gleich, daß sie ihn für den Departementschef hielten und sich über seine Jugend wunderten.

Er wies sie ins Vorzimmer und fragte sie nach ihrem Begehren. Sobald sie aber erfaßt hatten, daß er nur so eine Art Leichtmatrose sei, war nichts anderes aus ihnen herauszubringen, als daß sie mit dem Mann selbst sprechen wollten.

Brynch war äußerst überrascht, als Svend die Deputation meldete.

Das war ihm in seiner ganzen Praxis noch nicht vorgekommen, daß einfache Fischer angereist kamen und ganz einfach ins Ministerium gingen.

Er brummte etwas von der neuen Zeit, im Grunde aber war er neugierig, wie solche Leute eigentlich aussahen. Er war nie an einer anderen Küste gewesen als an der von Klampenborg bis Helsingör.

»Was wollen Sie?« fragte er und starrte die fünf großen Männer an, die sich durch die Tür drängten.

Der Wortführer warf Svend einen Seitenblick zu.

Brynch sah es und sagte:

»Das ist mein Sekretär. Lassen Sie den nur ruhig mit hören!«

Da begann der Wortführer mit vorsichtigen und einfachen Worten, wie sie auf das Fischereigesetz gehofft, das schon ihr voriger Abgeordneter im Reichstag ihnen versprochen hätte. Das Ministerium hätte sie um ihre Meinung befragt; sie hätten sie abgegeben; das Gesetz sei vorgelegt worden, aber später hätten sie nie etwas davon gesehen noch gehört.

Er und diese anderen guten Leute seien nun von den Fischern in Sandöre – dem größten Fischerdorf an der Westküste Jütlands – dazu ausersehen worden, einen schönen Gruß zu bestellen und zu sagen, daß es Jahr für Jahr magerer mit dem Fischfang würde. Dort, wo sie mit ihren kleinen Fischerboten hinkommen könnten, seien bald keine Fische mehr. Aber draußen bei den Sandbänken, da lägen sowohl Deutsche wie Schweden, die in ihrem Vaterlande für billige Anleihen Schiffe bauen könnten, und fingen ihnen all die guten Fische weg.

Sie hätten jetzt mit Bestimmtheit auf die Staatsunterstützung gerechnet, damit sie seetüchtige Schiffe kaufen und den Fischereihafen bekommen könnten, der ihnen schon unter dem vorigen König und von drei Ministern, von einem nach dem anderen, und von drei Abgeordneten versprochen worden sei.

Nun sollten sie also in aller Bescheidenheit fragen, wie die Sachen ständen; denn hier handle es sich um Leben und Unterhalt für sie und ihre Familien.

Brynch starrte von einem zum anderen. Er fühlte, daß er dem nebelhaften Begriff der »Massen« gegenüberstand und mußte sich mehrere Male räuspern, bevor er die richtige Anredeform fand.

»Hört mal, lieben Leute,« sagte er schließlich, »warum kommt ihr mit eurer Sache zu mir. Wir haben getan, was wir konnten, aber es sind ja diese« – fast hätte er »diese Bauernlümmel« gesagt, aber er ertappte sich noch schnell darauf – »es ist doch der Reichstag, der euer Anliegen bewilligen soll. Wißt ihr das denn nicht?«

Doch, das wußten sie. Aber es war doch der König, der seinen Namen daruntersetzen sollte.

»Dann geht doch zum König!« sagte Brynch mit einem Schelm im Auge.

Da wären sie gewesen. Aber man hätte sie nicht hereingelassen. Ein Minister oder ein anderer vornehmer Herr hätte sie hierher gewiesen.

Brynch kratzte sich ratlos den Bart. Was in aller Welt sollte man mit solchen Klötzen anfangen, die keinen Begriff von der ganzen komplizierten Maschinerie hatten.

Er versuchte sein Interesse zu beweisen, indem er sie nach den lokalen Verhältnissen ausfragte; aber er brachte nichts anderes aus ihnen heraus, als daß es schlimm um den Fischfang bestellt sei, und sie sollten von Sandöre grüßen und fragen, was aus dem Gesetz würde.

Je mehr Svend die alten, wettergebräunten Gesichter, die klaren, feuchten Augen betrachtete, die von verbissener und naiver Biederkeit leuchteten, desto lebendiger wurde der Eindruck der barschen Wirklichkeit, die sie vertraten.

Durch Blick und Haltung, durch das Schweigen zwischen den wenigen, mühsam geformten Sätzen, überreichten sie eine alte Forderung, die sie jetzt nicht länger ausstehen lassen konnten.

Dieser Ernst packte ihn, ja, er ergriff schließlich auch von Brynch Besitz, der sich unter diesen festen Blicken zu krümmen begann. Er überlegte, ob er sie an den Minister verweisen sollte; aber was konnte das nützen; der würde sie nur zurückschicken und ihm diese Überweisung wenig danken.

Da bekam er eine glänzende Idee.

Er erinnerte sich einer Unterredung, die er mit dem Abgeordneten aus der betreffenden Gegend gehabt hatte. Er war einer der fanatischsten Gegner der Regierung, dessen letzte Worte gewesen waren, daß, wenn der Minister auch den doppelten Betrag für seine Wähler, die Fischer, vorschlüge, er dennoch nichts bewilligen würde, was eine verfassungsverletzende Regierung vorschlüge.

Oh, das war eine glänzende Idee. Und hier war gleichzeitig Gelegenheit, einem der schlimmsten Bauernlümmel einen Hieb zu versetzen.

Brynch rieb sich vergnügt die Hände.

»Ich will euch mal was sagen, lieben Leute,« begann er und stand auf. »Geht zu eurem eigenen Abgeordneten – zu – wie heißt er doch gleich – und zieht ihn zur Rechenschaft. Ihr wißt vielleicht nicht, daß er die größte Schuld trägt, daß euer eigenes Gesetz nicht durchgegangen ist.«

Es kam Bewegung in den Haufen. Alle fünf traten schwer von einem Fuß auf den anderen, als habe Brynch eine sehr wunde Stelle berührt.

»Das wissen wir recht gut!« sagte der Wortführer schließlich, »darum soll er auch bei der nächsten Wahl fallen. Denn wir Fischer wählen keinen, der nicht für das Gesetz stimmt, mag Minister sein wer will.«

»So ist's recht!« sagte Brynch und klopfte ihm auf die Schulter. »Denn was kann es nützen, daß wir hier im Schweiße unseres Angesichtes Gesetze machen, wenn so ein – wenn euer eigener Abgeordneter alles umwirft!«

Kurz darauf begleitete Svend die Deputation hinaus.

Sie sagten nichts. Svend aber merkte, daß der Wortführer über etwas brütete und daß die anderen instinktiv verstanden, was es war, und auch brüteten.

Während der Audienz hatten sie eingesehen, daß Svend dennoch etwas mehr sei als ein gewöhnlicher Leichtmatrose, eher – trotz seiner Jugend – so eine Art zweiter Steuermann. Er hatte ja auch alles mit anhören dürfen.

Als sie die Haupttreppe erreicht hatten und Svend ihnen den Weg zum Ausgang zeigte, nahm der Wortführer seinen hohen Hut ab.

»Höre Er zu,« begann er leise und gewichtig, »wenn Er uns das Gesetz durchbringen kann, so soll Er es nicht umsonst getan haben.«

»Darauf habe ich keinen Einfluß!« sagte Svend und warf unwillkürlich den Kopf in den Nacken; im selben Augenblick aber kam ihr Unverstand ihm so komisch vor, daß er kaum ein Lächeln zu unterdrücken vermochte. »Wir hier haben unser möglichstes getan.«

Der Wortführer aber ließ sich nicht verblüffen.

»Das mag wohl so sein!« sagte er bedächtig, »aber wenn er uns hier in Kopenhagen einen Abgeordneten verschaffen kann, der mit dem König zu reden versteht, so daß wir das Gesetz bekommen, dann soll er es nicht umsonst getan haben. Das sagen wir und dabei bleiben wir.«

Er drehte sich nach den anderen um, die still und ernst zur Bekräftigung nickten.

Svend wechselte die Farbe. Eine Idee blitzte in ihm auf wie ein Blinkfeuer.

Er sah von dem einen zum anderen, aber er las keine Erklärung in ihren klaren Augen, die gewohnt waren, weit über Meer und Wellen zu blicken, aber nicht das widerzuspiegeln, was in ihrem Innern vorging.

Seine Gedanken arbeiteten so heftig, daß er Herzklopfen bekam.

Öffnete sich ihm hier nicht plötzlich ein Weg von den Akten zur Wirklichkeit hinaus? Wies diese alte Lederhand nicht auf eine öffentliche Tätigkeit hin, die ihm gehören würde, wenn er dreist zugriff?

Ein politisches Feld, wie er es sich gedacht hatte und außerdem eine gemeinnützige Tätigkeit, die Tausenden zugute kommen würde.

»Ich werde tun, was ich kann!« sagte er und sah dem Wortführer fest in die klaren Augen.

»Schönen Dank! – Und dann adieu!« Fünf Lederhände wurden ihm der Reihe nach unter Schweigen gereicht. Fünf Paar Augen ruhten eine Sekunde prüfend in den seinen.

Dann stampfte die Deputation schwer die königlich dänischen Kanzleitreppen hinab.

 

Der Funke, der entzündet worden war, fuhr fort, in seinem Sinn zu glühen. Er wurde aus vielen Quellen genährt, aus alten Jugendträumen, aus seinem Familiensinn, aus der Erinnerung an Onkel Kasper, aus v. Falks Interesse, das ihn jedesmal, wenn sie zusammen waren, wie eine Sonde durchfuhr; aus seinem Tätigkeitsdrang, aus seinem lange niedergekämpften Ehrgeiz, aus seiner ehelichen Enttäuschung, die er jetzt viel tiefer empfand, als er es sich bisher hatte eingestehen wollen.

Nachdem er die Idee eine Woche lang mit sich herumgetragen hatte, entdeckte er durch eine halb unbewußte Vorbereitung, daß sie sich in seinem Innern bereits zu einem Entschluß ausgebildet hatte – wie eine Ernennung, die vorliegt, aber noch nicht offiziell ist.

Und das kam so: Eines Nachmittags ertappte er sich dabei, daß er ein kunsthistorisches Werk, das v. Falk ihm geliehen hatte, mit der Motivierung von seinem Pult entfernte, daß ihm jetzt doch keine Zeit für derartige Werke bliebe. Im selben Augenblick wurde ihm dieser Gedankengang bewußt, und eine plötzliche, fast dankbare Freude durchfuhr ihn und machte ihn lächeln.

»Da hast du dich selbst ertappt,« dachte er bei sich . Und von dem Augenblick an arbeitete er vollbewußt im Dienste seiner neuen Tätigkeit.

Er wollte vorläufig theoretisch arbeiten. Es waren noch zwei Jahre bis zu den nächsten Wahlen, er hatte also reichlich Zeit vor sich.

Er studierte die politische Geschichte Dänemarks. Wo sie in die Gegenwart überging, nahm er die Reichstagsberichte zu Hilfe.

Aber zu dieser neuen Arbeit mußte er die Abende und Nächte nehmen; denn alle Stunden des Tages waren bereits besetzt.

Ellen, der er sich unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte, wo zuerst froh und stolz gewesen und sah schon das Ministerportefeuille am Ende einer ganz kurzen Perspektive.

Als aber die neue Arbeit ihn immer mehr unter ihre Macht zwang, ihn ihr nahm und bis spät in die Nacht hinein in seinem Arbeitszimmer festhielt, wurde sie mißvergnügt und fand, daß die Perspektive zu teuer erkauft sein würde.

Er aber gab nicht nach. Er war fest in seinem Entschluß. Jetzt endlich war er fest.

Ihre blauen Augen, die nicht mehr so sanft waren wie in der Verlobungszeit, sahen mit Verwunderung die energische Falte, die sich quer über die Nasenwurzel gelegt hatte und sich beständig vertiefte. Sie erkannte schließlich, daß dieses Neue stärker sei als sie.

Da geschah es, daß sie Mittsommers die Gewißheit bekam, daß sie guter Hoffnung sei. Und durch dieses neue Wunderbare wurde sie so sehr von sich selbst in Anspruch genommen, daß Svend Arbeitsruhe bekam.

An demselben Tage, an dem Svend seinem Schwiegervater die große Neuigkeit anvertraute – sie saßen gemütlich nach dem Mittagessen bei Kaffee und Zigarren beisammen, während Ellen bei Lindholms war – am selben Tage sprach er sich auch das vom Herzen herunter, was sich in seinem Innern vorbereitete.

Kruse nickte respektvoll. Er hatte seinem Schwiegersohn – dem etwas zu naiven Idealisten – soviel praktischen Sinn gar nicht zugetraut.

»Ausgezeichnet!« sagte er, »darauf kommt es hier im Leben gerade an: die Chance ergreifen, wenn sie unsichtbar vor einem in der Luft schwebt, sie an den Schwingen fassen und festhalten.«

Er blickte eine Weile prüfend durch die Ringe des Zigarrenrauches auf Svends Perspektive.

Dann nickte er wieder ernst und bekräftigend.

»Du bist gerade der rechte Mann für die Fischer, da du ihrer Lebenssache so nah stehst, daß du sie fördern kannst. Und umgekehrt wird eine politische Stellung als Vertrauensmann der Fischer dich im Ministerium stützen, weil du auf diese Weise der einzige sein wirst, der Verhältnisse praktisch kennen lernt, die die anderen nur aus Dokumenten kennen. Aber du mußt darauf vorbereitet sein, daß man dir die ganze Bürde im Kontor aufladen wird. Sobald die unumgängliche Mißgunst sich einigermaßen gelegt haben wird, wird eine Menge Arbeit unter dem Vorwand deiner speziellen Fachkenntnis auf dich abgewälzt werden. Aber davor hast du ja keine Furcht, nicht wahr?«

»Im Gegenteil. Je mehr ich zu wirken bekomme, desto besser.«

Kruse lächelte, wahrend er den Rauch in einer wohlgeformten Wolke von sich blies. Sein Schwiegersohn war dennoch sehr jung. Nun, man mußte versuchen, ihm seinen Weg zu erleichtern.

Svend betrachtete die Schläfe seines Schwiegervaters. Sie war von einem Netz feiner Fältchen überzogen und fing an hohl zu werden. Auch das Muskelspiel um den sonst so festen Mund war schlaffer geworden.

»Wie ist er in der letzten Zeit gealtert!« dachte Svend, »wahrscheinlich, weil er jetzt so einsam ist.«

 

Ende Oktober, als Svend blaß und müde von einem angestrengten Arbeitstag heimkehrte, kam das Mädchen ihm mit großen, erschreckten Augen im Entree entgegen und sagte, daß die gnädige Frau sich zu Bett gelegt habe.

Es wurde nach dem Arzt und der Hebamme geschickt, und in der Nacht brachte Ellen einen blondhaarigen, schmächtigen Knaben zur Welt, der nach Aussage der Hebamme Svends Augen hatte, aber Ellens Mund und Kinn, wenn sie lächelte.


 << zurück weiter >>