Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Zweiter Band
Laurids Bruun

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9

Svend war so in seine Gedanken vertieft, daß er die Tür zu dem Bibliothekzimmer nicht gehen hörte.

Er fuhr erschrocken in die Höhe, als er plötzlich Ellens weiße Gestalt in der Türöffnung sah.

Sie stand dort in ihrem Nachthemd und sagte in einem schmollenden Ton:

»Weshalb kommst du nicht zu mir herein?«

»Ich dachte, du schliefest schon längst!« sagte Svend und nahm ihre Hand.

»Ich hab die ganze Zeit wach gelegen. Mir war, als hörte ich jemand im Wohnzimmer gehen.«

Sie sah von dem offen stehenden Sekretär zum Schreibtisch, wo die Haufen noch aufgestapelt lagen.

»Was machst du nur!« sagte sie ärgerlich. – »Du mußt doch bald fertig sein!«

»Ja,« sagte er tonlos und sah fort.

Sie wurde auf sein verändertes Aussehen aufmerksam.

»Wie bist du bleich!« sagte sie bekümmert und strich ihm über die Stirn.

Svend wagte nicht sie anzusehen. Er meinte, daß sie ihm das Geschehene vom Gesicht ablesen müsse. Und er wußte ja noch gar nicht, wie er es ihr sagen sollte.

»Bist du krank?« fragte sie und zwang seinen Kopf zu sich herum.

Er antwortete nicht. Da merkte sie, daß er in den langweiligen Papieren etwas gefunden haben mußte, das ihm die Laune verdorben hatte.

»Weshalb quälst du dich mit den alten Geschichten?« sagte sie hart und stieß nach dem Haufen, der ihr am nächsten lag, während sie sich auf sein Knie setzte.

Als er immer noch nicht antwortete, nahm sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und drang in ihn:

»Aber so sag mir doch, was geschehen ist – was hast du in den Papieren gefunden?«

Sie begann neugierig in den Briefen zu blättern, die offen dalagen, gab es aber gleich wieder auf.

Svend nahm sich zusammen. Sein Herz schlug so hart gegen seine Seite, daß er es fast zu hören vermeinte. Seine Hände waren feucht und seine Stirn schweißbedeckt, als er den Entschluß faßte, zu antworten.

Er hatte das sichere Gefühl, wenn er es jetzt nicht sagte, so würde er es nie über die Lippen bringen, und ihr Leben würde dadurch auf eine schiefe Ebene geraten, die zum Unglück führte.

»Ellen!« begann er und ergriff ihre Hände.

Der Ton erschreckte sie, so daß sie ihre Hände zurückzog und sie auf dem Rücken barg, während sie ihn forschend mit den blauen Augen betrachtete, die denen des Departementschefs so sehr glichen.

»Ellen!« wiederholte er.

Sie wurde nervös und setzte sich in Kruses Stuhl.

»Aber mein Gott, so sag es doch!«

»Dort – in diesen Papieren – « sagte er und tastete mit der Hand über den Schreibtisch – »habe ich Beweise gefunden, daß das Vermögen deines Vaters –«

Ellen sprang auf, mit offenem Munde und entsetzten Augen.

»Ist es verloren?« sagte sie atemlos.

Svend mußte gegen seinen Willen lächeln.

»Verloren? – Nein – Ellen – schlimmer als das.«

Sie packte ihn am Arm.

»Aber so sprich doch! – Sage es!« schrie sie.

Svend machte seinen Arm frei und griff nach ihren Händen, aber sie entzog sie ihm.

»Das Vermögen ist da – es ist sogar größer als wir geglaubt haben – aber für uns ist es verloren!«

Svend erhob sich.

Er konnte es nicht über die Lippen bringen.

Sie griff nach seinem Arm und sah ihn erregt an. Ihre blauen Augen waren voll kalten Zornes.

»Was ist das für ein Unsinn? – Ich will klaren Bescheid haben.«

»Es ist durch Bestechungen verdient,« entfuhr es ihm, »zusammengeschwindelt.«

Svend griff unwillkürlich nach ihr, nachdem ihm diese Worte entfahren waren. Er fürchtete, daß sie schreien, fallen würde.

Aber nichts dergleichen geschah. Ellen blieb stehen, wo sie stand, griff sich nur mit der Hand in den Nacken und blickte ihn unverwandt an, als wolle sie ihn mit ihrem Blick durchdringen.

Svend meinte, daß sie ihn nicht verstanden habe. Es war fast, als atme sie erleichtert auf.

Dann sagte sie ruhig und gemessen:

»Willst du so freundlich sein und mir eine Erklärung geben?«

Svend wollte sie an sich ziehen. Er wollte sie dicht bei sich haben, während er ihr das Geheimnis aus dem Leben ihres Vaters offenbarte. Ellen aber war anderer Ansicht. Als ob sie einen Streit ahnte, schob sie ihn von sich und setzte sich mit gekreuzten Armen in Kruses Stuhl.

»Laß mich wenigstens ein Tuch für dich holen!« sagte er, »du sitzt ja und frierst.«

Sie aber schüttelte den Kopf mit gerunzelten Brauen. Wie glich sie doch ihrem Vater, wie sie dort auf dem Stuhl saß und auf seine Erklärung wartete.

Svend begann zuerst langsam und einigermaßen beherrscht, dann aber konnte er nicht länger an sich halten. Seine Trauer, sein Zorn und seine Scham mußten sich Luft schaffen.

Ellen unterbrach ihn nicht ein einziges Mal. Sie starrte ihn unverwandt an. In ihren Augen leuchtete nur hin und wieder ein Zornesblitz auf; Svend wußte nicht, ob er ihm oder ihrem Vater galt.

Als er schließlich geendigt hatte und wieder wie zum Trost ihre Hände ergreifen wollte, erhob sie sich und sagte kalt:

»Was geht das alles dich und mich an?« Svend taumelte zurück.

»Was es uns angeht?« wiederholte er.

»Glaubst du, daß Welten und Tithoff und die anderen um ein Haar besser sind? – Wie kannst du, der du Papa so nah gestanden und dem Papa soviel Gutes erwiesen hat« – hier zitterte ihre Stimme – »wie kannst du so naiv sein, zu glauben, daß Papa sich auf so etwas eingelassen hätte, wenn sie es nicht alle täten. Es ist eine Beleidigung gegen ihn, so etwas zu glauben!« fügte sie stark hinzu und betrachtete ihn mit flammenden Augen.

Svend war überrascht über sie. Er ärgerte sich über ihre Worte und dennoch konnte er ihr seine Bewunderung nicht versagen, wie sie dort hochaufgerichtet und stolz vor ihm stand.

»Selbst wenn du recht hättest,« sagte er schließlich traurig, »so ändert das ja nichts an der Sache – Bestechung bleibt Bestechung.«

»Was geht es dich an?« sagte sie wieder und wandte sich heftig zu ihm um.

Svend begann böse zu werden. Das Blut klopfte in seinem Herzen. Konnte sie nicht verstehen – oder – Svend sah sie entsetzt an und dachte im selben Augenblick an seine Knaben – oder war diese moralische Gefühllosigkeit eine heimliche Frucht von Kruses heimlichem Verbrechen?

»Das geht uns insofern etwas an,« sagte er ernst und sah ihr fest ins Auge, »daß wir sein Vermögen nicht übernehmen können – weder Wildpark noch das Kapital.«

Ihre Lippen verzogen sich, und sie machte eine Bewegung auf ihn zu, als wolle sie ihn schlagen. Aber sie beherrschte sich, warf den Kopf zurück und lachte laut auf.

»Also wir wollen die Erbschaft nicht antreten? – Ha, ha! Da habe ich wohl auch ein Wörtchen mitzureden, mein Freund. Wir sollen sie vielleicht für milde Stiftungen und Legate verschenken, nicht wahr?«

»Ja,« sagte er ernst, »das ist der einzige Ausweg, um den wahren Sachverhalt zu verbergen. Wir müssen vorgeben, daß wir nur von meiner Arbeit leben wollen.«

Sie wurde ganz weiß im Gesicht, und die feinen Adern ihrer Schläfen traten hervor. Ihr Mund verzerrte sich und ihre blauen Augen blitzten vor Zorn. Er hatte sie noch nie so gesehen.

»Bist du verrückt?« schrie sie und trat so nah an ihn heran, daß er unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Meinst du, daß ich mich und meine Kinder deines dummen Idealismus wegen zu Bettlern machen will.«

»Bettlern!« Svend fuhr in die Höhe. So also bewertete sie seine Arbeit.

»Ich werde uns schon versorgen!«

»Und du glaubst, daß ich mich mit solcher schmalen Kost begnügen will – ich, die ich mein ganzes Leben im Luxus gelebt habe? – Und du – du selbst – glaubst du, daß du dich dazu eignest, die Rolle eines Märtyrers zu spielen?«

Sie sah ihn an und lachte höhnisch.

Er antwortete nicht, biß sich in die Lippe und erwiderte ihren Blick mit flammenden Augen. So hatte er sie noch nie gesehen, er war sowohl verwundert wie erbittert über das, was sie vor ihm entschleierte – sie, seine Frau und die Mutter seiner Kinder.

Da ging ihr plötzlich ein Licht auf.

»Ach so!« rief sie aus und lachte höhnisch, »jetzt verstehe ich. Du denkst an die Erbschaft, die du selbst im Rücken hast. Auf diese Weise ist das Martyrium ja nicht so groß – und inzwischen willst du auf meine und der Kinder Kosten ein großer Mann in Wohltätigkeit und Idealismus werden. Ach so!«

»Meine Erbschaft?« Svend sah sie verständnislos an. »Was meinst du damit?«

»Das Vermögen der Konferenzrätin.«

»Wer hat dir das eingebildet?«

»Prinz Adolph!«

»Was weiß der von meinen Verhältnissen?«

»General Lindholm hat es ihm erzählt und der weiß es von Onkel Kasper selbst. Er hat dich einmal dort gesehen.«

Die Erinnerung an einen stattlichen Militär mit einer hohen Stimme stieg plötzlich in ihm auf. »Sie haben einen ausgezeichneten Vater gehabt, junger Mann!« hatte er gesagt. Das war also Jenny Lindholms Vater.

»Weshalb hast du mir das nie erzählt?«

»Das ist ja ganz gleichgültig,« sagte sie, wahrend sie ihre Worte bereute. »Wir sprechen jetzt ja nicht von deinem Erbe, sondern von meinem Geld – und ich will dir sagen –« Svend faßte sie hart am Ann.

»Ich will wissen, weshalb?« unterbrach er sie.

Ellen sah ihn an, maß seinen aufflammenden Zorn und fand es am ratsamsten, nachzugeben. Sie wurde rot und sah zur Seite.

»Weil der Prinz es nicht wünschte.«

Es war etwas in ihrem ausweichenden Blick, wodurch Svend aufmerksam wurde. Etwas so Überraschendes und Unerwartetes, daß er es gar nicht auf einmal fassen konnte.

Er atmete hastig und drehte sie mit Gewalt zu sich herum.

»Wann hast du heimlich mit dem Prinzen gesprochen?« entfuhr es ihm.

Ellen wurde blaß. Sie schloß einen Augenblick die Augen und wimmerte bei dem harten Griff seiner Hand um ihren Arm.

Dann schoß ihr das Blut in die Wangen. Ein trotziger Mut ergriff sie. Sie warf den Kopf in den Nacken, riß sich mit einer heftigen Bewegung los und blickte ihm mit von Trotz sprühenden Augen gerade ins Gesicht. Eine brennende Lust, ihn zu kränken und zu demütigen, überfiel sie.

»Ich habe mit dem Prinzen soupiert – ja, soupiert – bereits als wir verlobt waren. – Und nach unserer Heirat. Mehrere Male sind wir hinter deinem Rücken zusammengekommen!«

Die Worte kamen überstürzt von ihren verzerrten Lippen.

Er griff sich an den Kopf und sah sie erstaunt an.

»Du – du hast –« Plötzlich begriff er.

Der Zorn brach in ihn, hervor und benahm ihm den Atem. Er trat einen Schritt zurück, weil er seine eigene Heftigkeit fürchtete. Er betrachtete sie, und mitten in seinem Zorn verliebte er sich in ihren Trotz und in ihre sprühenden Augen. Sie war entzückend, wie sie dastand. Der Zorn aber überwog die Verliebtheit, und er stammelte;

»Du – du hast – mit dem Prinzen –?«

Ihre Wangen färbten sich dunkelrot unter seinem Blick. Ihr Stolz gewann die Oberhand. Sie wollte ihm keine Rechtfertigung gönnen.

»Du magst glauben, was du willst!« sagte sie und warf den Kopf zurück, »du hast mich ja von jeher vernachlässigt, deiner Arbeit und deiner Zukunft und deiner Interessen wegen!« höhnte sie. »Dein Verdienst ist es nicht, daß nichts geschehen ist. Im übrigen kannst du glauben, was du willst. Ich hätte vielleicht zu Hause sitzen und wie eine vernachlässigte Frau weinen sollen – ich, mit meiner Jugend und Schönheit – ja, mit meiner Schönheit!« wieder funkelten ihre Augen ihm entgegen –, »das hätte mir gerade gefehlt. – Du bist deinen Interessen nachgegangen – und ich den meinen. – Wer am meisten Vergnügen davon gehabt hat – das ist wohl nicht schwer zu erraten.«

Sie lachte. Er krümmte sich bei ihrem Lachen vor Schmerz. Sie sah es und freute sich darüber. Oh, er sollte es fühlen, was es hieß, eine Frau zu vernachlässigen – eine Frau wie sie.

»Ich sage dir, wir haben uns amüsiert – der Prinz und ich!«

Da stürzte Svend, aufs äußerste gereizt, auf sie zu. Er packte sie an den Handgelenken, aber etwas in ihrem Blick ließ ihn zurückweichen.

»Bist du seine Geliebte gewesen?« stieß er heiser und erbittert hervor, »ich verlange eine Antwort!«

»Glaube, was du willst!« sagte sie und sah ihm fest ins Auge. »Ich wiederhole: Wenn es der Fall wäre, so hättest du es nicht besser verdient.«

Sie warf den Kopf in den Nacken, kehrte ihm den Rücken und ging hochaufgerichtet aus dem Zimmer.

Er hörte den gedämpften Laut ihrer Morgenschuhe auf dem Teppich, wollte hinter ihr herstürzen, drohen ober bitten, die Hand zur Versöhnung ausstrecken oder sie greifen und züchtigen – wunderbar schön wie sie gewesen war.

Aber er tat nichts von alledem. Er stand wie festgewurzelt da. Er konnte seine Beine nicht vom Fleck rühren.

Jetzt warf sie die Wohnzimmertür hart hinter sich ins Schloß. Im selben Augenblick brach er in Tränen aus.

Es war Schmerz, Eifersucht, Zorn, Scham, es war Verzweiflung über sich selbst und die Welt, in die er hineingeraten war und die ihm jetzt zum erstenmal ihr volles, bitteres Grauen entschleiert hatte.

Er warf sich über einen Stuhl und schluchzte, das Gesicht in seine Hände vergraben.

So lag er lange. Als aber der bleiche Novembermorgen zu dämmern begann, da richtete er sich still auf.

Er warf einen flüchtigen Blick über die Papierhaufen auf dem Schreibtisch, blickte vor sich hin und erinnerte sich jedes Wortes, das Ellen gesagt hatte.

Ganz einfach, wie die plötzliche Lösung einer schwierigen Aufgabe, formte folgender Gedanke sich in ihm zu Worten:

Sie ist weder schlecht noch falsch. Es ist nur eine Vererbung in ihrem Gemüt, eine heimliche Frucht des heimlichen Verbrechens ihres Vaters, daß auch sie sich eine heimliche Freude erschleichen mußte.

Er glaubte nicht, daß sie die Geliebte des Prinzen gewesen war. Er war überzeugt, daß sie nichts weiter als einen Flirt miteinander gehabt hatten. Sie kannte den Wert ihrer Schönheit und fiel nicht einer Versuchung zum Opfer. Was tat's, wenn nur niemand etwas davon zu wissen bekam!

Dann dachte er an den Prinzen, der freundschaftlich mit ihm verkehrt und seine Frau hinter seinem Rücken geküßt hatte.

Er lächelte bitter vor sich hin.

Wie hübsch das alles zusammenhing, wie sie allesamt zueinander paßten. Die, die kauften und die, die verkauften. Welten, Tithoff, Kruse – Jersey und der kleine Juhl – von oben nach abwärts, alle steckten einander an und verpflichteten sich gegenseitig.

Er dachte darüber nach, wie plötzlich alles um ihn herum zusammengestürzt war. Wie er plötzlich die Lust zu seiner Arbeit verloren hatte, den Drang, zum Wohle aller zu wirken.

Jetzt aber – jetzt wußte er, was er wollte. Jetzt hatte er endlich ein Ziel gefunden, ohne es gesucht zu haben. Es war ihm in die Hand gezwungen worden. Eigentlich war es so einfach, daß man es kaum ein Ziel nennen konnte.

Denn es war ja nur das eine: Wie es auch gehen würde, wenn es ihn Frau und Kinder, Stellung und Zukunft kosten sollte: Er wollte das bleiben, was die anderen mit einem mitleidigen Achselzucken einen naiven Idealisten nannten, mit anderen Worten: ein anständiger Mensch.

Seinem Geschlecht nacharten, wie sein Großvater gesagt hatte. Ein anständiger Mensch sein.

Er setzte sich an Kruses Tisch und schrieb an Ellen:

»Handele wie du willst. Ich und meine Kinder weisen die Erbschaft Deines Vaters zurück!«

Er kuwertierte den Brief und legte ihn auf ihren Nähtisch im Wohnzimmer.

Dann kehrte er in seine eigene Wohnung zurück und erwartete ihre Antwort.


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