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Neunzehnte Betrachtung. Ueber die Träume.

Die Träume sind einseitige Eindrücke, welche die Seele ohne Beihilfe der Außendinge empfängt.

Diese so alltäglichen und doch so eigenthümlichen Erscheinungen sind indessen noch sehr wenig bekannt.

Die Schuld liegt in diesem Falle an den Gelehrten, die uns noch keine ausreichende Sammlung von Beobachtungen übermittelt haben. Dies unerläßliche Hilfsmittel wird sich aber mit der Zeit anfinden, und die Doppelnatur des Menschen dadurch näher bekannt werden.

Beim gegenwärtigen Stande der Wissenschaft muß man für ausgemacht annehmen, daß ein ebenso aetherisches wie vielvermögendes Fluidum existirt, welches dem Gehirn die von den Sinnen aufgenommenen Eindrücke übermitttelt, und daß durch den Reiz, welchen diese Eindrücke verursachen, die Gedanken entstehen Wie die Lebenskraft ist auch das Nervenfluidum, diese neue Auflage der Descartes'schen Lebensgeister, von der Wissenschaft längst wieder über Bord geworfen worden. Der Uebers..

Der völlige Schlaf entsteht durch den Verlust und die Unthätigkeit dieses Fluidums.

Man muß nun annehmen, daß das Verdauungs- und Assimilationswerk, das während des Schlafes durchaus keine Unterbrechung erleidet Die eigentliche Assimilation, d. h. die Restauration der animalen Organe oder die Ernährung im engern Sinne, geht allerdings im Schlafe am aller entschiedensten vor sich, da jene Organe sich während desselben im Zustande der Unthätigkeit befinden; die Verdauung aber wird durch den Schlaf verlangsamt und zwar in solchem Grade, daß in der Regel nach einem auf eine starke Mahlzeit folgenden Schlummer von sieben bis acht Stunden die Magenverdauung noch nicht beendet ist, während sie im wachen Zustande des Individuums nur drei bis fünf Stunden zu erfordern pflegt. D. Uebers., diesen Verlust wieder ersetzt, und daß daher ein Zeitpunkt eintritt, wo das Individuum schon mit allem zur Thätigkeit Erforderlichen versehen ist, aber noch nicht durch die Außendinge gereizt wird.

Alsdann steigt das von Natur höchst bewegliche Nervenfluidum durch die Nervenröhren nach dem Gehirn. Da es auf dem nämlichen Wege dahin gelangt, so trifft es die nämlichen Stellen und die nämlichen Furchen wie im wachen Zustande und muß daher auch die nämlichen Wirkungen hervorbringen, nur mit dem Unterschiede, daß die Intensität derselben geringer ist.

Die Ursache dieses Unterschieds scheint mir leicht begreiflich. Wenn der Mensch im wachen Zustande von einem äußern Gegenstande einen Eindruck empfängt, so ist die Empfindung eine klare, jähe, unvermeidliche: das ganze Organ ist in Thätigkeit. Wird ihm dagegen die nämliche Empfindung während des Schlafs übermittelt, so ist nur der Endtheil der Nerven in Thätigkeit, die Empfindung muß daher nothwendigerweise weniger lebhaft und weniger positiv sein. Um mich verständlicher auszudrücken: beim wachenden Menschen findet eine Erregung des ganzen Organs statt, beim schlafenden dagegen nur eine Erschütterung des Theiles, der dem Gehirn zunächst liegt.

Bei den wollüstigen Träumen indessen erreicht bekanntlich die Natur ihren Zweck beinahe ebenso vollständig wie beim wachen Zustande. Dieser Unterschied ist aber eine Folge des Unterschieds der Organe selbst, denn der Geschlechtssinn bedarf nur einer Reizung, gleichviel welcher Art, und jedes Geschlecht ist mit dem erforderlichen Material zur Vollziehung des Actes versehen, zu welchem die Natur es bestimmt hat.

Aufgabe für die Forschung.

87. Wenn das Nervenfluidum in oben erwähnter Weise dem Gehirn zuströmt, bewegt es sich immer durch die Röhren, welche für die Bethätigung irgend eines von unsern Sinnen bestimmt sind, und das ist der Grund, weshalb es bestimmte Empfindungen oder Ideenreihen im Vorzuge vor andern erweckt: so glaubt man zu sehen, wenn der Sehnerv, zu hören, wenn der Hörnerv gereizt wird u. s. w. Dabei ist es nun merkwürdig, daß die Empfindungen, welche uns im Traum zu Theil werden, so höchst selten dem Gebiete des Geschmacks- und des Geruchssinns angehören: träumt man von einem Blumenbeete oder einer Wiese, so sieht man die Blumen, ohne ihren Geruch zu verspüren, träumt man von einem Mahle, so sieht man die Gerichte, ohne ihren Geschmack zu empfinden.

Die Untersuchung, weshalb zwei von unsern Sinnen während des Schlafes keinen Eindruck auf die Seele machen, während sich die andern vier beinahe ihrer ganzen Machtfülle erfreuen, wäre eine würdige Arbeit für die Gelehrten. Ich kenne bis jetzt keinen Psychologen, der sich damit beschäftigt hat.

Endlich sei noch bemerkt, daß die Eindrücke, die wir im Schlafe empfinden, um so stärker sind, je mehr sie der Gemüthswelt angehören. Die sinnlichsten Vorstellungen sind nichts im Vergleiche mit der Seelenangst, die man empfindet, wenn man träumt, man habe ein geliebtes Kind verloren, oder man solle gehangen werden.

Natur der Träume.

88. So wunderlich und seltsam auch die Vorstellungen sein mögen, die uns bisweilen im Schlafe beschleichen, bei ein wenig genauerer Beobachtung wird man doch immer finden, daß sie nur Erinnerungen oder Combinationen von Erinnerungen sind. Ich möchte fast sagen, die Träume sind nur Erinnerungen der Sinne.

Ihre Seltsamkeit beruht daher einzig auf dieser Verknüpfung dieser Vorstellungen, die, weil unabhängig von den Gesetzen der Zeitfolge, der Angemessenheit und der Zeitumstände, eine ungewöhnliche ist. Alles wohl erwogen, hat aber noch nie jemand etwas geträumt, was ihm zuvor völlig unbekannt war.

Man wird sich auch über die Seltsamkeit unserer Träume nicht weiter wundern, wenn man bedenkt, daß im wachen Menschen vier Vermögen sich gegenseitig überwachen und berichtigen, nämlich das Gesicht, das Gehör, das Gefühl und das Gedächtnis, während im Schlafenden jeder Sinn auf sich selbst angewiesen ist.

Man könnte diese beiden Zustände des Gehirns mit einem Clavier vergleichen, vor dem ein Musiker sitzt, der aus Zerstreuung die Tasten rührt und aus dem Gedächtnis irgend eine Melodie anschlägt, die er zur vollkommenen Harmonie abrunden könnte, wenn er alle seine Mittel in Anwendung brächte. Dieser Vergleich könnte noch viel weiter geführt werden, wenn man hinzusetzte, daß die Ueberlegung sich zu den Vorstellungen wie die Harmonie zu den Tönen verhält, daß gewisse Vorstellungen andere in sich schließen, gerade wie ein Hauptton andere, untergeordnete Töne in sich schließt u. s. w. u. s. w.

System des Doctor Gall.

89. Unmerklich fortgezogen von einem Gegenstande, der nicht ohne Reize ist, bin ich an die Zone des Systems des Doctor Gall gelangt, der die Vielthätigkeit der Organe des Gehirns lehrt und durch Beweise darlegt.

Ich darf nicht weiter gehen und die mir gesteckten Grenzen überschreiten. Aus Liebe zur Wissenschaft, die mir, wie man gesehen haben wird, nicht ganz fremd ist, kann ich indessen nicht umhin, hier zwei Beobachtungen mitzutheilen, die ich mit aller Sorgfalt studirt habe, und auf deren Richtigkeit man sich um so eher verlassen kann, da sich unter meinen Lesern noch Leute finden werden, die die Wahrheit des Gesagten bezeugen können.

Erste Beobachtung.

Im Dorfe Gevrin im Arrondissement Belley lebte um 1790 ein höchst verschlagener Großhändler, namens Landot, der ein recht ansehnliches Vermögen zusammengebracht hatte.

Dieser wurde plötzlich von einem so heftigen Schlaganfall getroffen, baß man ihn für todt hielt. Aber die Facultät eilte ihm zu Hilfe, und er kam diesmal noch davon, doch nicht ohne Verlust, denn er ließ beinahe alle seine geistigen Fähigkeiten, namentlich aber das Gedächtnis, auf dem Schlachtfelde zurück. Da er sich indessen noch immer herumschleppte, so gut es gehen wollte, und der Appetit zurückgekehrt war, so hatte er die Verwaltung seines Vermögens in Händen behalten.

Als man ihn in diesem Zustande sah, glaubten die, welche mit ihm in Geschäftsverbindung gestanden hatten, die Zeit zur Wiedervergeltung sei gekommen, und unter dem Vorwande, ihm Gesellschaft leisten zu wollen, strömte man nun von allen Seiten herbei, um ihm alle möglichen Verträge, Käufe, Verkäufe, Tauschgeschäfte und andere Dinge dieser Art, wie sie bis dahin den gewöhnlichen Gegenstand seiner Thätigkeit gebildet hatten, vorzuschlagen. Aber die Angreifer wurden gewaltig enttäuscht und fühlten bald, daß sie ihre Hoffnungen fahren lassen mußten.

Der geriebene alte Knabe hatte nämlich nicht das Geringste von seinen kaufmännischen Fähigkeiten eingebüßt, und derselbe Mensch, der bisweilen sein Gesinde nicht erkannte und sogar seinen Namen vergaß, war nichtsdestoweniger über den Preis der Ernteerzeugnisse wie über den Werth jedes Morgens Wiese, Weinberg oder Gehölz auf drei Meilen im Umkreise zu jeder Zeit aufs Beste unterrichtet.

Sein Urtheil war in dieser Beziehung vollkommen gesund geblieben, und da man jetzt weniger vor ihm auf der Hut war, so wurden die meisten von denen, die mit dem invaliden Geschäftsmann anbanden, in eben den Schlingen gefangen, die sie selbst gestellt hatten.

Zweite Beobachtung.

In Belley lebte ein Herr Chirol, der unter Ludwig XV. und Ludwig XVI. lange Zeit bei der Leibwache gedient hatte.

Seine geistigen Fähigkeiten waren ganz dem Dienste angemessen, den er sein Lebelang zu verrichten gehabt hatte, dabei besaß er aber im höchsten Grade den Spielsinn, so daß er nicht blos alle älteren Kartenspiele, wie Lhombre, Piquet, Whist, vortrefflich spielte, sondern auch, wenn die Mode ein neues einführte, schon nach der dritten Partie alle Feinheiten desselben kannte.

Dieser Herr Chirol nun wurde ebenfalls vom Schlage getroffen und zwar so stark, daß er in einen Zustand von beinahe völliger Empfindungslosigkeit verfiel. Zwei Dinge waren indessen verschont geblieben: die Verdauung und das Spielvermögen.

Jeden Abend begab er sich in das Haus, wo er seit mehr als zwanzig Jahren seine Partie zu machen pflegte, setzte sich in einen Winkel und blieb dort unbeweglich und wie schlaftrunken sitzen, ohne auch nur im Geringsten auf das zu achten, was um ihn her vorging.

War der Augenblick zum Beginn der Spielpartien gekommen, so forderte man ihn zur Betheiligung auf. Er lehnte diese Einladung niemals ab und schleppte sich an den Tisch: dort aber konnte man sich überzeugen, daß die Krankheit, welche den größten Theil seiner Fähigkeiten lahm gelegt hatte, ihm auch nicht ein Jota von seinem Spieltalent geraubt hatte. Noch kurze Zeit vor seinem Tode gab Herr Chirol einen vollgiltigen Beweis für die Unversehrtheit seines Spielvermögens.

Damals kam ein Pariser Banquier, namens – wenn ich mich recht besinne – Delins, nach Belley zum Besuch.

Er hatte Empfehlungsbriefe, war ein Fremder und obendrein ein Pariser: das war mehr als hinreichend, um die Kleinstädter anzuspornen, daß sie ihm den Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen suchten.

Herr Delins war Feinschmecker und Spieler. In Bezug auf die erstere Eigenschaft gab man ihm hinlänglich Beschäftigung, indem man ihn täglich fünf bis sechs Stunden bei Tische festhielt; in Bezug auf die andere aber war es schwerer, ihn zu amüsiren: er hatte eine große Vorliebe für das Piquet und sprach von einem Spiel zu sechs Franken die Marke, was die Taxe für unsere theuersten Partien bei weitem überschritt.

Um dies Hindernis aus dem Wege zu räumen, wurde eine Gesellschaft gebildet, an der jeder je nach Beschaffenheit seiner Vorgefühle theilnahm oder auch nicht theilnahm. Die einen meinten nämlich, die Pariser verständen sich auf dergleichen weit besser, als die Kleinstädter, die andern aber behaupteten im Gegentheil, daß alle Bewohner der großen Stadt von Natur etwas großsprecherisch seien. Wie dem aber auch sei, kurz und gut, die Gesellschaft kam zu Stande – und wem vertraute man die Verteidigung der Vereinscasse an? Dem Herrn Chirol!

Als der Pariser Banquier diese lange, blasse, matte, schwankende Gestalt am Spieltische Platz nehmen sah, glaubte er zunächst, es sei ein Scherz; als er aber das Gespenst die Karten ergreifen und kunstgerecht mischen sah, begann er zu der Einsicht zu kommen, daß dieser Gegner früher wohl seiner würdig gewesen sein mochte.

Nicht lange, und er überzeugte sich, daß diese Fähigkeit noch immer fortbestand, denn nicht blos in dieser, sondern auch in einer nicht geringen Anzahl weiterer Partien wurde Herr Delins dermaßen geschlagen, überwältigt und gerupft, daß er uns bei seiner Abreise mehr als sechshundert Franken auszahlen mußte, die gewissenhaft zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft getheilt wurden.

Vor der Abreise sprach uns Herr Delins noch seinen Dank aus für den guten Empfang, der ihm zu Theil geworden war. Doch konnte er dabei nicht umhin, sich über den gebrechlichen Zustand des Gegners zu beschweren, den wir ihm entgegengestellt hatten, und uns zu versichern, daß er sich nie darüber trösten würde, im Kampfe mit einem Leichnam so im Nachtheil geblieben zu sein.

Ergebnis.

Die aus diesen beiden Beobachtungen zu entnehmende Folgerung liegt am Tage. Offenbar hatte der Schlag, der in diesen beiden Fällen das Gehirn zerrüttete, den Theil dieses Organs verschont, der so lange Zeit bei den geschäftlichen und den Spielberechnungen thätig gewesen war, und sonder Zweifel hatte dieser Theil mir deshalb dem Anfalle widerstanden, weil die beständige Uebung ihn gekräftigt hatte, oder auch weil dieselben Eindrücke in Folge ihrer vielfachen Wiederholung tiefere Spuren in demselben zurückgelassen hatten.

Einfluß des Alters.

90. Das Alter ist von unverkennbarem Einfluß auf die Beschaffenheit der Träume.

In der Kindheit träumt man von Spielen, Gärten, Blumen, Büschen und andern freundlichen Dingen, später von Vergnügungen, Liebschaften, Kämpfen und Heirathen, noch später von Gründungen, Reisen, Gunstbezeigungen des Fürsten oder seiner Vertreter und im Greisenalter endlich von Geschäften, Widerwärtigkeiten, Schätzen, vergangenen Freuden und längst verstorbenen Freunden.

Traum-Phänomena.

91. Bisweilen treten im Schlafe und in den Träumen gewisse wenig alltägliche Erscheinungen auf, deren nähere Prüfung für den Fortschritt der Anthroponomie von Nutzen sein kann. Auf diesem Grunde zeichne ich hier drei Beobachtungen auf, die aus einer Anzahl anderer ausgewählt sind, welche ich während eines ziemlich langen Lebens in der Stille der Nacht an mir selbst zu machen Gelegenheit hatte.

Erste Beobachtung.

Eines Nachts träumte mir, ich hätte das Geheimnis entdeckt, meinen Körper den Gesetzen der Schwere zu entziehen, so daß ich, da er gegen das Aufsteigen und Herabsinken indifferent geworden war, beides nach Willkür mit völliger Leichtigkeit auszuführen vermochte.

Dieser Zustand erschien mir entzückend. Vielleicht haben schon viele andere Personen etwas Aehnliches geträumt, besonders merkwürdig aber wird mein Traum durch den Umstand, daß ich mir selbst, wie ich mich erinnere, mit größter Klarheit – so schien es mir wenigstens – über die Mittel Rechenschaft gab, die mich zu diesem Ziele geführt hatten, und daß diese Mittel mir so einfach vorkamen, daß ich mich sehr darüber wunderte, weshalb sie nicht schon früher entdeckt worden waren.

Beim Erwachen entschwand mir dieser erklärende Theil des Traumes vollständig, der Schluß aber ist mir fest im Gedächtnis geblieben, und seit jener Zeit kann ich mich nicht der Ueberzeugung erwehren, daß früher oder später ein höher erleuchtetes Genie diese Entdeckung wirklich machen wird, für welchen Fall ich hierdurch meine Ansprüche auf die Erfindung sicher stelle.

Zweite Beobachtung.

92. Vor einigen Monaten hatte ich im Schlafe ein ganz ungemeines Gefühl von Wonne. Dasselbe bestand in einem gewissen wonnigen Beben aller Theilchen, aus dem mein Wesen zusammengesetzt ist. Es war eine Art wundersüßen Kribbelns, das von der Epidermis des ganzen Körpers ausging und mich bis ins Mark der Knochen durchschauerte. Dabei glaubte ich eine violette Flamme zu sehen, die um meine Stirn spielte:

Lambere flamma comas, et circum tempora pasci Feurig erglänzte das Haar, und Flammen umkränzten die Schläfe..

Ich schätze die Dauer dieses Zustands, den ich körperlich ganz deutlich empfand, auf mindestens 30 Secunden und erwachte erfüllt mit einem Staunen, das nicht ganz frei von Schrecken war.

Aus dieser Empfindung, deren ich mich noch sehr gut erinnere, und aus einigen Beobachtungen, die an Ekstatischen und mit Krampfzuständen Behafteten gemacht worden sind, habe ich den Schluß gezogen, daß die Grenzen der Lust noch durchaus nicht bekannt und festgestellt sind, und daß man noch keineswegs weiß, bis zu welchem Grade unser Körper beseligt werden kann. Ich hoffe, daß die Physiologie der Zukunft sich binnen weniger Jahrhunderte dieser ungewöhnlichen Empfindungen bemeistern und sie willkürlich hervorrufen wird, etwa wie man den Schlaf durch Opium hervorruft, und daß unsere Enkel daran eine Entschädigung für die fürchterlichen Schmerzen haben werden, denen wir bisweilen unterworfen sind.

Diese Hypothese findet in der Analogie einigen Halt, denn wie ich bereits bemerkte, war auch die Macht der Harmonie, die so lebhafte, reine und mit Eifer begehrte Genüsse bietet, noch den Römern vollständig unbekannt: sie ist eine Entdeckung, die noch nicht über fünfhundert Jahre alt ist.

Dritte Beobachtung.

93. Im Jahre VIII der Republik (1800) hatte ich mich eines Abends ohne bemerkenswerthe vorhergehende Umstände zur Ruhe begeben und erwachte gegen ein Uhr morgens, zu welcher Zeit ich in der Regel im ersten Schlummer zu liegen pflegte. Mein Gehirn befand sich in einem Zustande völlig ungewöhnlicher Erregung: meine Einfälle waren voller Leben, meine Gedanken in die Tiefe gehend, die Sphäre meiner Einsicht schien mir erweitert. Ich hatte im Bett eine sitzende Stellung angenommen, und meine Augen hatten die Empfindung eines bleichen, verschwommenen, unbestimmten Lichts, das indessen die Gegenstände nicht erkennen ließ.

Nach der Menge der in schneller Folge auf mich einstürmenden Gedanken hätte ich glauben können, daß dieser Zustand mehrere Stunden gedauert habe, meiner Uhr zufolge aber kann ich mit Bestimmtheit versichern, daß er nur wenig über eine halbe Stunde anhielt. Ich wurde ihm durch einen äußern, von meinem Willen unabhängigen Zwischenfall entrissen, der mich auf die Erde zurückrief.

Sogleich verschwand auch die Lichtempfindung, ich fühlte mich aus meiner Höhe herabstürzen, der Kreis meiner Einsicht verengerte sich wieder, kurzum, ich wurde wieder, was ich zuvor gewesen war. Da ich aber vollkommen erwacht war, so habe ich einen Theil der Ideen, die meinen Geist durchkreuzten, wenn auch nur in matten Farben im Gedächtnis behalten.

Die ersten von diesen Gedanken hatten die Zeit zum Gegenstande. Mir war, als ob Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von ein und derselben Beschaffenheit wären und nur einen einzigen Punkt bildeten, so daß es ebenso leicht sein mußte, die Zukunft vorherzusehen, wie sich der Vergangenheit zu erinnern. Das ist alles, was mir von diesem ersten Gesicht, das zum Theil durch die folgenden verwischt ward, im Gedächtnis geblieben ist.

Meine Aufmerksamkeit wandte sich nun den Sinnen zu. Ich ordnete sie nach ihrer Vollkommenheit, und da nur der Einfall kam, daß wir ebenso viel innere wie äußere Sinne haben müßten, so machte ich mich daran, die erstern festzustellen.

Ich hatte bereits drei und beinahe einen vierten gefunden, als ich auf die Erde zurückstürzte. Ich zähle sie hier auf:

1. Das Mitleid, eine Präcordialempfindung, die man verspürt, wenn man Seinesgleichen leiden sieht;

2. Die Vorliebe, ein Gefühl der Bevorzugung nicht blos für einen bestimmten Gegenstand, sondern auch für alles, was mit diesem Gegenstande in Zusammenhang steht oder an denselben erinnert;

3. Die Sympathie, ebenfalls ein Bevorzugungsgefühl, welches zwei Gegenstände zu einander hinzieht.

Man könnte im ersten Augenblicke meinen, daß diese beiden Gefühle im Grunde genommen eins und dasselbe seien. Ein Zusammenwerfen beider wird jedoch dadurch zur Unmöglichkeit, daß die Vorliebe nicht immer, die Sympathie dagegen nothwendigerweise auf Gegenseitigkeit beruht.

Endlich kam ich beim Nachdenken über das Mitleid zu einer Folgerung, die ich für sehr richtig halte, und auf die ich zu anderer Zeit wohl nicht verfallen wäre, daß nämlich das Mitleid die Quelle jenes schönen Lehrsatzes ist, der die Grundlage aller Gesetzgebungen bildet:

Ne fais pas aux autres ce que tu ne voudrais pas qu'on te fit.

Do as you will be done by.

Alteri ne facias quod tibi fieri non vis.

Was du nicht willst, daß man dir thu',
Das füg' auch keinem andern zu.

Alles in allem ist die Vorstellung, welche mir von jenem Zustande und von dem, was ich bei dieser Gelegenheit empfand, geblieben ist, derart, daß ich, wenn es möglich wäre, meine ganze noch übrige Lebenszeit mit Freuden für einen einzigen Monat eines solchen Daseins hingeben würde.

Die Schriftsteller werden mich leichter verstehen als die übrigen, denn es giebt unter ihnen wohl nur wenige, denen nicht, wenn auch in weit geringerm Grade, etwas Aehnliches begegnet ist.

Man liegt in horizontaler Lage mit gut bedecktem Kopf im warmen Bett und denkt an das Werk, das man gerade auf dem Leisten hat. Die Einbildungskraft erhitzt sich, die Gedanken fließen in reicher Fülle, treffende Ausdrücke folgen ihnen auf dem Fuße nach, und da man zum Behufe des Schreibens aufstehen muß, so kleidet man sich an, legt die Nachtmütze bei Seite und setzt sich an den Schreibtisch.

Aber da ist man mit einem Schlage nicht mehr derselbe. Die Einbildungskraft ist erkaltet, der Ideengang unterbrochen, der Ausdruck stockt, man ist darauf angewiesen, das, was man zuvor so leicht gefunden hatte, jetzt mühsam zu suchen, und nicht selten gezwungen, die Arbeit auf einen glücklicheren Tag zu verschieben.

Alles das erklärt sich mit Leichtigkeit aus der Wirkung, welche der Wechsel der Stellung und der Temperatur auf das Gehirn ausüben muß: auch hier zeigt sich wieder der Einfluß des Physischen auf das Moralische.

Durch das tiefere Eingehen auf diese Beobachtung bin ich vielleicht zu weit geführt worden, denn ich bin auf den Gedanken gekommen, daß die Ueberschwenglichkeit der Orientalen zum Theil wohl daher rühre, daß sie als Bekenner des Islam der Vorschrift Mohammeds gemäß immer eine warme Kopfbedeckung tragen, während andererseits die Stifter der Mönchsorden, um die entgegengesetzte Wirkung zu erzielen, den Mönchen die Pflicht auferlegt haben, den Kopf zu rasiren und unbedeckt zu tragen.


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