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Siebzehnte Betrachtung. Ueber die Ruhe.

83. Der Mensch ist nicht zu ununterbrochener Tätigkeit geschaffen. Die Natur hat ihn nur zu einem unterbrochenen Genusse des Daseins bestimmt, und seine Wahrnehmungen müssen nach einer gewissen Zeit ein Ende nehmen. Durch den Wechsel in der Art und der Beschaffenheit der Empfindungen, die in ihm erregt werden, kann eine Verlängerung jenes Zeitraums der Thätigkeit stattfinden, schließlich aber führt der fortdauernde Genuß des Daseins das Verlangen nach Ruhe herbei. Die Ruhe führt zum Schlafe, und der Schlaf erzeugt die Träume.

Hier stehen wir an den letzten Grenzen der Menschheit, denn der Schlafende ist schon kein zur Gesellschaft gehörender Mensch mehr: das Gesetz beschützt ihn noch, gebietet ihm aber nicht mehr.

Es ist dies der geeignete Ort für die Mittheilung einer ziemlich seltsamen Begebenheit, die mir von Dom Duhaget, weiland Prior der Karthause von Pierre-Châtel, erzählt wurde.

Dom Duhaget stammte aus einer guten Familie der Gascogne und hatte mit Auszeichnung gedient. Er war zwanzig Jahre lang Infanterie-Hauptmann gewesen und Ritter des Ludwigsordens. Ich habe nie eine Person von milderer Frömmigkeit und liebenswürdigerm Erzählertalent kennen gelernt.

»In N***«, berichtete er mir, »wo ich Prior war, bevor ich nach Pierre-Châtel kam, hatten wir einen Mönch von melancholischer Gemüthsart und düsterm Charakter, der als Nachtwandler bekannt war.

»Bisweilen verließ er während seiner Anfälle seine Zelle und kehrte allein dahin zurück, bisweilen aber verirrte er sich auch und mußte dann zurückgeführt werden. Man hatte die Aerzte zu Rathe gezogen und einige Heilmittel angewandt, dann aber, da die Anfälle seltener geworden waren, sich nicht weiter mit ihm beschäftigt.

»Eines Abends hatte ich mich nicht zur gewöhnlichen Stunde niedergelegt, sondern saß, mit der Durchsicht einiger Papiere beschäftigt, noch an meinem Schreibtisch, als ich hörte, wie die Thür meines Zimmers, die ich beinahe niemals abzuschließen pflegte, geöffnet wurde, und gleich darauf der Mönch im vollkommenen Zustande des Nachtwandelns eintreten sah.

»Seine Augen standen offen, aber der Blick war starr und stier. Er war nur mit dem Untergewand bekleidet, in welchem er sich der Regel gemäß niedergelegt hatte. In der Hand trug er ein großes Messer.

»Er ging geradenwegs auf mein Bett zu, dessen Stellung ihm bekannt war, tastete mit der Hand darüber hin, als ob er sich vergewissern wollte, daß ich wirklich drin läge, und führte dann drei so starke Stöße dagegen, daß die Klinge nicht blos die Decken durchbohrte, sondern auch noch tief in die Matratze oder vielmehr die Strohmatte eindrang, die die Stelle einer Matratze vertrat.

»Als er zuerst an mir vorüber ging, waren seine Gesichtszüge verzerrt und seine Stirn gerunzelt. Als er die Stöße ausgeführt hatte, drehte er sich um, und nun bemerkte ich, daß sein Gesicht sich geglättet und einen Ausdruck von Befriedigung angenommen hatte.

»Das helle Licht der beiden Lampen auf meinem Schreibtische machte auf seine Augen nicht den geringsten Eindruck: er ging, wie er gekommen vor, schloß bedachtsam die beiden Thüren, die zu meiner Zelle führten, und bald überzeugte ich mich, daß er sich friedlich geradenwegs in die seine zurückzog.

»Sie können sich denken,« fuhr der Prior fort, »in welchem Zustande ich mich während dieser schrecklichen Erscheinung befand. Ich zitterte vor Entsetzen beim Anblick der Gefahr, der ich entronnen war, und dankte der Vorsehung aus tiefstem Herzen, war aber so gewaltig erregt, daß ich den ganzen übrigen Theil der Nacht kein Auge schließen konnte.

»Am andern Morgen ließ ich den Nachtwandler rufen und fragte ihn in durchaus unauffälliger Weise, was er in der letzten Nacht geträumt habe.

»Bei dieser Frage wurde er betreten. – »Ehrwürdiger Vater,« gab er mir zur Antwort, »ich habe einen so seltsamen Traum gehabt, daß es mich wirklich einige Ueberwindung kostet, ihn Euch mitzutheilen: es war vielleicht ein Werk des Bösen und« ... – »Ich befehle es dir,« erwiderte ich. »Ein Traum ist immer etwas Unwillkürliches und ein Hirngespinnst. Sprich dich offen aus.« – »Ehrwürdiger Vater,« erzählte er mir nun, »ich hatte mich kaum niedergelegt, als mir träumte, Ihr hättet meine Mutter getödtet, ihr blutiger Schatten wäre mir erschienen, um Rache zu fordern, und bei diesem Anblicke hätte mich eine solche Wuth ergriffen, daß ich wie ein Rasender nach Eurer Zelle stürzte und Euch, da ich Euch im Bette fand, erdolchte. Kurz darauf erwachte ich, in Schweiß gebadet, mein Attentat verabscheuend, und dankte Gott, daß ein so entsetzliches Verbrechen nicht begangen worden war« ... – »Es ist mehr begangen worden, als du meinst,« erwiderte ich ihm ernst und ruhig.

»Dann erzählte ich ihm, was vorgegangen war, und zeigte ihm die Spuren der Stiche, mit denen er mich zu durchbohren geglaubt hatte.

»Bei diesem Anblick warf er sich mir zu Füßen, brach in Thränen aus, beklagte das Unglück, das er unfreiwilliger Weise beinahe angerichtet hätte, und bat mich, ihm jede Buße aufzuerlegen, die mir angemessen scheinen würde.

»– Nein, nein, rief ich, ich werde dich nicht für eine unfreiwillige That strafen. Für die Zukunft aber entbinde ich dich vom Nachtgottesdienst und theile dir hierdurch zugleich mit, daß man deine Zelle nach dem Abendessen von außen verschließen und erst bei Tagesanbruch wieder öffnen wird, damit du an der gemeinschaftlichen Messe theilnehmen kannst.«

Wäre der Prior bei dieser Gelegenheit, wo er nur durch ein Wunder der Gefahr entging, getödtet worden, so hätte der Nachtwandler nicht bestraft werden können, da der Mord von seiner Seite unfreiwillig vollbracht worden wäre.

Zeit der Ruhe.

84. Die allgemeinen Gesetze, welche für den Erdball gelten, den wir bewohnen, haben Einfluß auf die Lebensweise der Menschheit äußern müssen. Der Wechsel von Tag und Nacht, der auf der ganzen Erde allerdings mit gewissen Verschiedenheiten, aber doch in der Weise stattfindet, daß beide zu Schluß der Rechnung einander ausgleichen, hat auf ganz natürlichem Wege die Zeit der Thätigkeit wie der Ruhe bestimmt, und wahrscheinlich würde unsere Lebensgewohnheit eine ganz andere sein, wenn wir einen ewigen Tag hätten Aber doch nur in der Weise, daß jeder sich nach Belieben oder Bedürfnis zur Ruhe begeben würde; denn die Dunkelheit hat, wie jeder aus Erfahrung weiß, keineswegs eine positiv schlafmachende Wirkung. D. Uebers..

Wie dem auch sei: sobald der Mensch eine gewisse Zeit über sich der Vollkraft des Lebens erfreut hat, tritt ein Moment ein, wo er nicht mehr dazu im Stande ist. Seine Empfänglichkeit für die äußern Eindrücke nimmt stufenweise ab, die bestgeleiteten Attaken auf die einzelnen Sinne bleiben wirkungslos, die Organe weisen jetzt zurück, was sie vorher aufs eifrigste verlangt hatten, die Seele ist mit Empfindungen übersättigt – die Zeit der Ruhe ist gekommen.

Es ist leicht zu sehen, daß wir hier den Mann der Gesellschaft im Auge haben, der von allen Hilfsmitteln und allem Comfort der Civilisation umgeben ist, denn bei dem, welcher in seinem Studirzimmer, seiner Werkstatt, auf der Reise, im Kriege, auf der Jagd oder auf sonst eine Weise durch eine unablässige Anstrengung ermüdet wird, tritt das Bedürfnis nach Ruhe weit schneller und weit regelmäßiger ein.

Wie mit allen erhaltenden Acten hat die Natur, die treffliche Mutter, mit dieser Ruhe einen großen Genuß verknüpft.

Der ruhende Mensch empfindet ein ebenso allgemeines wie unbeschreibliches Wohlbehagen. Er fühlt seine Arme unter ihrem eigenen Gewichte herabsinken, seine Fasern sich spannen, sein Gehirn sich erfrischen. Seine Sinne sind ruhig, seine Empfindungen dumpf und schwach. Er wünscht nichts, er denkt nicht mehr, ein leichter Schleier breitet sich über seine Augen – noch einige Minuten, und er schläft.


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