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Vierte Betrachtung. Ueber den Appetit.

Definition des Appetits.

23. Die Bewegung und die Lebensthätigkeit verursachen einen stetigen Substanzverlust im lebenden Körper. Der menschliche Organismus, diese höchst complicirte Maschine, würde daher bald außer Thätigkeit gerathen, wenn nicht die Vorsehung eine Feder darin angebracht hätte, die ihm den Augenblick anzeigt, wo seine Kräfte nicht mehr mit seinen Bedürfnissen im Gleichgewicht sind.

Dieser Wecker ist der Appetit. Man bezeichnet mit diesem Worte die erste Regung des Bedürfnisses nach Nahrung.

Der Appetit kündigt sich durch einige Schwachheit im Magen und ein leichtes Gefühl von Mattigkeit an.

Zu gleicher Zeit beschäftigt sich die Seele mit Gegenständen, die ihrem Bedürfnis entsprechen. Das Gedächtnis erinnert sich an Dinge, die den Geschmack gekitzelt haben, die Einbildungskraft glaubt sie zu sehen: man befindet sich in einem fast traumähnlichen Zustande. Dieser Zustand ist nicht ohne Reiz, und wir haben tausende von Kennern in der Freude ihres Herzens ausrufen hören: »Welche Lust, einen guten Appetit zu haben, wenn man die Gewißheit hat, binnen kürzester Frist ein vortreffliches Mahl zu halten!«

Inzwischen geräth der ganze Ernährungsapparat in Bewegung: der Magen wird empfindlich, die Magensäfte steigern ihre Thätigkeit, die innern Gase nehmen geräuschvolle Ortsveränderungen vor, der Mund füllt sich mit Speichel, und alle Verdauungskräfte stehen unter Waffen wie Soldaten, die des Befehls zum Einhauen gewärtig sind. Nur noch wenige Minuten und man spürt krampfartige Regungen, man gähnt, man leidet – man hat Hunger.

Alle Abstufungen dieser mannigfachen Zustände kann man in einem Speisesaal beobachten, wo das Essen auf sich warten läßt.

Sie liegen derartig in der Natur des Menschen, daß auch die ausgesuchteste Höflichkeit die Symptome derselben nicht zu verbergen vermag, woraus ich eben den Lehrsatz abgeleitet habe: Von allen Eigenschaften eines Kochs ist die Pünktlichkeit die unerläßlichste.

Anekdote.

24. Ich begründe diese Maxime noch besonders durch die Einzelheiten einer Beobachtung, die ich in einer Gesellschaft machte, an der ich theilnahm,

Quorum pars magna fui,

und in der das Vergnügen der Beobachtung mich vor der Pein der Entbehrung bewahrte.

Ich war eines Tages bei einem hohen Staatsbeamten zum Diner geladen. Die Einladung lautete auf fünfeinhalb Uhr, und zur bestimmten Stunde war alle Welt beisammen, denn man wußte, daß der Gastgeber die Pünktlichkeit liebte und die Nachzügler bisweilen auszankte.

Bei meinem Eintreten fiel mir sogleich die bestürzte Miene der Gesellschaft auf: man flüsterte einander ins Ohr, schaute durch die Fenster auf den Hof, und auf einigen Gesichtern stand eine dumpfe Betäubung ausgeprägt. Kein Zweifel, es mußte etwas Außerordentliches vorgefallen sein.

Ich näherte mich dem von den Gästen, von welchem ich glaubte, daß er am besten im Stande sein würde, meine Neugier zu befriedigen, und fragte ihn, was es Neues gäbe. »Ach Gott!« entgegnete er mir im Tone der tiefsten Betrübnis, »der gnädige Herr ist soeben in den Staatsrath gerufen worden. Er ist im Augenblick abgefahren, und wer weiß, wann er wiederkommt.« – »Wenn's weiter nichts ist,« erwiderte ich mit der Miene der Sorglosigkeit, die aber durchaus nicht von Herzen kam, »das ist in höchstens einer Viertelstunde abgethan. Man wird irgend eine Auskunft nöthig haben, aber man weiß, daß heute hier ein officielles Diner stattfindet, und hat keine Ursache, uns fasten zu lassen.« So sagte ich, im Grunde der Seele aber war ich nicht ohne Besorgnis und hätte wer weiß wo sein mögen.

Die erste Stunde ging gut vorüber. Man setzte sich zu seinen Bekannten, und nachdem die alltäglichen Gesprächsstoffe erschöpft waren, unterhielt man sich mit der Aufstellung von Muthmaßungen über die Ursache, welche die Berufung unseres theuren Amphytrion in die Tuilerien veranlaßt haben mochte.

In der zweiten Stunde begannen sich einige Symptome von Ungeduld bemerklich zu machen. Man sah sich unruhig an, und drei oder vier Gäste, die keinen Platz zum Sitzen gefunden hatten und also nicht mit Bequemlichkeit warten konnten, begannen bereits zu murren.

In der dritten Stunde wurde das Mißvergnügen allgemein, und jeder beklagte sich. – »Wann wird er zurückkommen?« sagte der eine. – »Wo denkt er hin?« bemerkte ein zweiter. – »Es ist zum Umkommen,« klagte ein dritter, und allgemein warf man, ohne sie jedoch zu lösen, die Frage auf: »Sollen wir gehen, oder sollen wir bleiben?«

In der vierten Stunde wurden die Symptome bedenklicher. Man reckte die Arme aus auf die Gefahr hin, den Nachbarn die Augen aus dem Kopf zu stoßen, von allen Seiten erklang melodisches Gähnen, auf allen Gesichtern spielten jene Farben, welche die krampfhafte Zusammenziehung des Magens verkünden, und man hörte gar nicht auf mich, als ich zu bemerken wagte, der, dessen Abwesenheit uns so tief betrübe, sei ohne Zweifel der unglücklichste von uns allen.

Für einen kurzen Moment wurde die Aufmerksamkeit durch eine geisterhafte Erscheinung abgelenkt. Einer der Gäste, der im Hause bekannter war als die übrigen, drang bis in die Küche vor. Ganz außer Athem kam er zurück: sein Gesicht verkündete das Ende der Welt, und mit kaum artikulirter Stimme und in jenem hohlen Tone, der zugleich die Furcht, gehört, und das Verlangen, verstanden zu werden, ausdrückt, rief er die Worte: »Der gnädige Herr ist abgefahren, ohne Befehle zu hinterlassen, und wie lange er auch ausbleiben mag, es wird erst nach seiner Rückkunft aufgetragen werden.« Sprach's, und das Entsetzen, welches seine Rede verursachte, wird selbst durch die Wirkung der Posaune des jüngsten Gerichts nicht übertroffen werden.

Der unglücklichste unter all diesen Märtyrern war ohne Zweifel der gute d'Aigrefeuille, den ganz Paris gekannt hat Die geschilderte Scene spielte also im Palaste des Oberceremonienmeisters Cambacérès an der Place du Carrousel, zu dessen Stammgästen d'Aigrefeuille gehörte. D. Uebers.. Sein Körper war nur ein Leiden, und auf seinem Gesichte stand der Schmerz Laokoons ausgeprägt. Blaß, verstört, mit starrem Blick ließ er sich in einen Sessel sinken, kreuzte die kleinen Hände auf dem dicken Bauche und schloß die Augen, nicht um zu schlafen, sondern um den Tod zu erwarten.

Aber der Tod kam nicht. Statt dessen hörte man gegen zehn Uhr einen Wagen in den Hof rollen, alles sprang auf, auf die Trauer folgte Fröhlichkeit, und fünf Minuten später saß man bei Tisch.

Aber die Stunde des Appetits war vorüber. Es schien, als sei man erstaunt, daß man zu so ungehöriger Zeit speisen solle, die Kinnbacken ließen jene gleichzeitige Bewegung vermissen, welche eine regelmäßige Thätigkeit anzeigt, und ich erfuhr später, daß mehrere Gäste dadurch unpaß geworden waren.

Das in solchen Fällen angezeigte Verfahren besteht darin, daß man nicht unmittelbar nach dem Wegfall des Hindernisses zu essen beginnt, sondern zuvor ein Glas Zuckerwasser oder eine Tasse Fleischbrühe trinkt, um den Magen zu beruhigen, und dann noch zwölf oder fünfzehn Minuten wartet, damit das Organ nicht durch das Gewicht der Speisen, die man ihm aufbürdet, überlastet wird Das sogenannte Uebergehen des Appetits beruht darauf, daß die Magenwände nur in periodisch wiederkehrenden Zeiträumen den zur Verdauung erforderlichen Saft absondern, und daß in Folge dessen jede Speise, die nicht zu einer mit jener Absonderung zusammentreffenden Zeit in den Magen gelangt, so lange unverdaut bleibt, bis nach Ablauf der bestimmten Frist die Saftabsonderung von neuem beginnt. Man kann aber auch den Magen künstlich zu dieser Tätigkeit anregen, und die instinktive Ahnung von diesem Gesetze erzeugte vielleicht die Gewohnheit, jedes umfassendere Mahl mit der Suppe zu beginnen. D. Uebers..

Starke Appetite.

25. Wenn man in alten Büchern von den Vorbereitungen liest, die zum Empfange zweier oder dreier Personen getroffen wurden, und von den ungeheuren Portionen hört, die man einem einzigen Gaste auftischte, so kann man sich nur schwer dem Glauben verschließen, daß die Menschen, die noch der Wiege der Welt näher waren als wir, auch einen unvergleichlich stärkern Appetit besaßen.

Man war der Ansicht, daß dieser Appetit im Verhältnis zur Vornehmheit des Gastes steigen müsse, und wem man den ganzen Rücken eines fünfjährigen Stieres vorsetzte, der mußte auch aus einem Becher trinken, den er kaum zu heben vermochte.

Seither hat es hin und wieder Menschen gegeben, die als Beweis für das betrachtet werden konnten, was früher in dieser Hinsicht geschehen sein mag, und die Bücher sind voll von Beispielen einer fast unglaublichen Gefräßigkeit, die sich auf alles, sogar auf die ekelhaftesten Dinge erstreckte.

Ich erspare dem Leser die Mittheilung dieser bisweilen ziemlich widerlichen Einzelheiten und begnüge mich, hier zwei Fälle zu erzählen, von denen ich Augenzeuge war, und die keinen allzu starken Köhlerglauben verlangen.

Vor etwa vierzig Jahren besuchte ich eines Tages den Pfarrer von Bregnier, einen starken, hochgewachsenen Mann, dessen Appetit im ganzen Amtsbezirk berühmt war.

Obgleich es kaum zwölf Uhr war, fand ich ihn doch bereits bei Tische sitzen. Die Suppe und das Rindfleisch war schon wieder abgetragen, und nach diesen beiden unerläßlichen Schüsseln waren nun eine gedämpfte Hammelkeule, ein ziemlich ansehnlicher Kapaun und ein reichlicher Salat auf der Tafel erschienen.

Sobald er mich erblickte, befahl er, ein Gedeck für mich aufzulegen. Ich lehnte jedoch die Einladung ab und that wohl daran, denn er wurde allein und ohne meine Beihilfe höchst behend mit allem fertig und ließ von der Keule nur das Bein, vom Kapaun nur die Knochen und vom Salat überhaupt nichts übrig.

Sodann trug man einen großen weißen Käse auf, in den er eine Winkel-Bresche von neunzig Grad legte. Er begoß das Ganze mit einer Flasche Wein und einer Caraffe Wasser, dann ruhte er von der Arbeit aus.

Am meisten ergötzte mich dabei der Umstand, daß der würdige Seelsorger während dieser ganzen Operation, die ungefähr drei Viertelstunden in Anspruch nahm, durchaus nicht beschäftigt aussah. Die großen Bissen, die er zum Munde führte, hinderten ihn weder am Sprechen noch am Lachen, und er fertigte alles, was man ihm vorgesetzt hatte, mit ebenso wenig Umständen ab, als wenn er nur drei Lerchen verspeist hätte.

In ganz ähnlicher Weise hatte der General Bisson, der täglich acht Flaschen Wein zum Frühstück trank, immer das Aussehen, als ob er noch völlig nüchtern wäre. Er hatte ein größeres Glas als die übrigen und leerte es öfter, aber es schien, als gäbe er gar nicht Acht darauf, und während er in dieser Weise sechzehn Liter Flüssigkeit einschlürfte, scherzte er und ertheilte Befehle, als ob er nur einen halben Schoppen getrunken hätte.

Der zweite Fall erneuert bei mir das Andenken des braven Generals Prosper Sibuet, eines Landsmanns von mir, der lange Zeit erster Adjutant des Generals Massena war und 1813 beim Uebergang über den Bober aus dem Felde der Ehre fiel.

Prosper war achtzehn Jahre alt und hatte jenen glücklichen Appetit, durch welchen die Natur zu erkennen giebt, daß sie mit der völligen Entwicklung eines gut constituirten Menschen beschäftigt ist, als er eines Abends in die Küche des Gastwirths Genin trat, bei welchem die Alten von Belley sich zusammenzufinden pflegten, um Kastanien zu essen und jungen Weißwein, sogenannten Griesgram, dazu zu trinken.

Man hatte eben einen prächtigen, ansehnlichen, goldgelb gebratenen Puter vom Spieß gezogen, dessen Duft einen Heiligen in Versuchung geführt haben würde.

Die Alten, die keinen Hunger mehr hatten, schenkten ihm wenig Beachtung, die Verdauungskräfte des jungen Prosper aber geriethen in Aufregung. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen, und er rief: »Ich komme zwar eben erst vom Essen, aber ich möchte doch wetten, daß ich ganz allein mit diesem feisten Burschen fertig werden würde!« – »Wenn Sie ihn wirklich aufessen,« erwiderte darauf Bouvier du Bonchet, ein dicker Pächter, der eben zugegen war, »so bezahle ich ihn, bleiben Sie aber auf halbem Wege stecken, so bezahlen Sie ihn, und ich esse den Rest.«

Die Wette wurde angenommen und ungesäumt zur That geschritten. Der jugendliche Kämpe löste sauber den einen Flügel ab und schlang ihn auf zwei Bissen hinunter. Dann reinigte er sich die Zähne, indem er den Hals des Truthahns verzehrte, und trank dazu als Zwischenspiel ein Gläschen Wein.

Sodann nahm er den Schenkel in Angriff, verspeiste ihn mit derselben Kaltblütigkeit und schickte ihm ein zweites Glas Wein nach, um für den Rest den Durchgang offen zu halten.

Bald folgte der zweite Flügel derselben Straße: er verschwand, und schon ergriff der Held mit wachsendem Muthe das letzte Glied, als der unglückliche Pächter mit schmerzgepreßter Stimme rief: »Ach Gott, ich sehe wohl, es ist vorbei! Aber da ich ihn bezahlen muß, Herr Sibuet, so lassen Sie mich wenigstens auch ein Stück davon essen.«

Prosper war ebenso gutmüthig, wie er später tapfer war. Er gab daher der Bitte des Gegners Gehör, und dieser empfing nun den noch ziemlich ansehnlichen Rumpf des Vogels zu seinem Antheil und bezahlte dann ohne Widerstreben sowohl das Hauptstück wie die unerläßlichen Zuthaten des Mahls.

Der General Sibuet liebte es sehr, diese Heldenthat seiner jungen Jahre zu erzählen. Er behauptete, den Pächter nur aus reiner Artigkeit zur Theilnahme an der Mahlzeit zugelassen zu haben, und versicherte, daß er Kraft genug in sich gefühlt habe, um die Wette auch ohne diese Beihilfe zu gewinnen; und das, was ihm noch mit vierzig Jahren an gutem Appetit geblieben war, gestattete keinen Zweifel an der Wahrheit dieser Behauptung.


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