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Dritte Betrachtung. Ueber die Gastronomie.

Ursprung der Wissenschaften.

16. Die Wissenschaften gleichen nicht der Minerva, die völlig gerüstet aus dem Haupte Jupiters hervortrat. Sie sind Töchter der Zeit und bilden sich nur allmählich, zuerst durch die Ansammlung der Methoden, welche die Erfahrung liefert, und sodann durch die Entdeckung der Principien, die sich aus der Zusammenstellung dieser Methoden ergeben.

So waren die ersten Greise, die man ihrer Erfahrung wegen ans Bett der Kranken rief, die Männer, welche das Mitleid zum Verbinden fremder Wunden trieb, auch die ersten Aerzte.

Die ägyptischen Hirten, welche die Beobachtung machten, daß einzelne Sterne nach einem bestimmten Zeitabschnitt immer wieder die nämliche Stellung am Himmel einnahmen, waren die ersten Astronomen.

Der erste, der den Satz Zwei und zwei sind vier durch Zeichen ausdrückte, erfand die Mathematik, diese wahrhaft gewaltige Wissenschaft, die den Menschen wirklich auf den Thron der Welt erhoben hat.

Im Laufe der letzverflossenen sechzig Jahre sind noch mehrere neue Wissenschaften dem Systeme unserer Kenntnisse einverleibt worden, so unter andern die Stereometrie, die beschreibende Geometrie und die Chemie der Gase.

Alle diese Wissenschaften werden bei fortgesetzter Pflege durch zahllose Generationen Fortschritte machen, die um so gesicherter sind, da die Buchdruckerkunst sie vor der Gefahr des Rückschreitens bewahrt. Wer weiß z. B., ob es der Chemie der Gase nicht am Ende gelingen wird, dieser bisher so widerspenstigen Elemente Meister zu werden, sie in bis jetzt noch nicht versuchten Verhältnissen mit einander zu mischen und zu verbinden und auf diese Weise Substanzen und Wirkungen zu erzeugen, welche die Grenze unseres Vermögens um ein Bedeutendes hinausrücken würden?

Ursprung der Gastronomie.

17. Die Gastronomie trat zu ihrer Zeit auf, und alle ihre Schwestern näherten sich, um sie zu empfangen.

Was hätte man denn auch der Wissenschaft verweigern können, die uns erhält von der Wiege bis zum Grabe, die die Wonnen der Liebe und die Freuden der Freundschaft erhöht, die den Haß entwaffnet, die Geschäfte erleichtert und uns auf dieser kurzen Lebensbahn den einzigen Genuß bietet, der uns, da er keine Abspannung hinterläßt, noch nach allen andern zu erquicken vermag!

So lange die Zubereitung der Speisen ausschließlich bezahlten Dienern überlassen war, so lange das Geheimnis dieser Zubereitung in den Küchen blieb, so lange die Köche allein sich diesen Gegenstand vorbehielten und man nur Kochbücher schrieb, waren die Resultate jener Arbeiten sonder Frage nur Producte einer Kunst.

Endlich aber, vielleicht nur allzu spät, nahten sich die Männer der Wissenschaft.

Sie untersuchten, analysirten und classificirten die nährenden Substanzen und zerlegten sie in ihre einfachen Bestandtheile.

Sie ergründeten die Mysterien der Assimilation der Nahrungsstoffe, und indem sie die todte Materie bei ihren Umwandlungen verfolgten, erkannten sie, auf welche Weise dieselbe zur Lebensthätigkeit gelangt.

Sie beobachteten den vorübergehenden oder dauernden Einfluß der Art der Ernährung auf einige Tage, einige Monate oder das ganze Leben.

Sie ermittelten sogar den Einfluß der Kost auf das Denkvermögen, sei es, daß die Seele von den Sinnen Eindrücke erhält, sei es, daß sie ohne Beihilfe dieser Organe empfindet, und aus all diesen Forschungen und Entdeckungen leiteten sie eine erhabene Theorie ab, die den ganzen Menschen und den ganzen zur Umwandlung in animalischen Stoff befähigten Theil der Schöpfung umfaßt.

Während alles dies in den Studirzimmern der Gelehrten vorging, erklärte man in den Salons offen und unverhohlen, daß die Wissenschaft, welche den Menschen ernährt, mindestens von gleichem Werthe sei wie die, welche lehrt, wie sie zu tödten sind. Die Dichter besangen die Genüsse der Tafel, und die Bücher, welche den guten Tisch zum Gegenstande hatten, boten tiefere Anschauungen und Maximen von allgemeinem Interesse.

Das sind die Umstände, welche dem Auftreten der Gastronomie vorausgingen.

Definition der Gastronomie.

18. Die Gastronomie ist die theoretisch begründete Kenntnis alles dessen, was auf den Menschen als nahrungnehmendes Wesen Bezug hat.

Ihr Zweck ist, vermittelst der bestmöglichen Ernährung die Erhaltung der Menschheit zu sichern.

Sie erreicht diesen Zweck, indem sie diejenigen, welche die zur Verwandlung in Nahrungsmittel geeigneten Dinge aufsuchen, liefern oder zubereiten, nach bestimmten Grundsätzen lenkt und leitet.

In Wahrheit ist es also diese Wissenschaft, welche die Ackerbauer, die Winzer, die Fischer, die Jäger und das zahlreiche Geschlecht der Köche, unter welchem Namen oder Titel sie auch ihre Beziehung zur Bereitung der Nahrungsmittel verbergen mögen, in Bewegung setzt.

Die Gastronomie hängt zusammen:

Mit der Naturgeschichte durch die Classification, welche diese mit den Nährstoffen vornimmt;

Mit der Physik durch die Prüfung der Herstellung und der Eigenschaften derselben;

Mit der Chemie durch die verschiedenen Analysen und Auflösungen, denen diese die Nährstoffe unterwirft;

Mit der Küche durch die Kunst, die Speise zuzubereiten und ihnen einen angenehmen Geschmack zu geben;

Mit dem Handel durch das Bestreben, die Mittel zum möglichst billigen Ankauf ihrer Verkaufsgegenstände und zum möglichst vortheilhaften Verkauf ihrer Producte ausfindig zu machen.

Mit der Staatswirthschaft endlich durch die Hilfsquellen, welche sie für die Besteuerung bietet, und durch die Tauschmittel, die sie den Nationen in die Hand giebt.

Die Gastronomie beherrscht das ganze menschliche Leben: die Thränen des Neugeborenen sind Zeichen seines Verlangens nach der Mutterbrust, und der Sterbende empfängt noch mit einiger Lust den letzten Trank, den er, ach! nicht mehr verdauen soll.

Ebenso denkt sie an alle Stände der Gesellschaft: wenn sie einerseits die Bankette der Könige regelt, so hat sie andererseits auch die Zahl der Minuten festgestellt, welche erforderlich sind, um ein Ei zu sieden.

Der materielle Gegenstand der Gastronomie ist alles, was eßbar ist, ihr unmittelbarer Zweck die Erhaltung des Individuums, ihre Mittel aber sind der Ackerbau, welcher erzeugt, der Handel, welcher austauscht, die Industrie, welche zurüstet, und die Erfahrung, welche die Methoden erfindet, durch die alles mit dem größten Vortheil eingerichtet werden kann.

Verschiedene Gegenstände, mit denen die Gastronomie sich beschäftigt.

19. Die Gastronomie zieht sowohl die Genüsse wie die Leiden des Geschmacks in Betracht. Sie hat seine stufenweise Erregbarkeit ermittelt, sie hat seine Thätigkeit geregelt und derselben Grenzen bezeichnet, die der Mensch, der sich selbst achtet, niemals überschreiten darf.

Sie prüft auch die Wirkung der Nahrungsmittel auf das Moralische des Menschen, auf seine Phantasie, seinen Witz, seine Urtheilskraft, seine Thatkraft und seine Vorstellungen im Zustande des Wachens wie des Schlafens, der Thätigkeit wie der Ruhe.

Ebenso bestimmt die Gastronomie den Zeitpunkt der Eßbarkeit jedes Nahrungsstoffs, denn nicht alle sind unter den nämlichen Verhältnissen genießbar.

Einige, wie die Kapern, der Spargel, die Spanferkel, die Tauben und andere Thiere, die man in ihrem frühsten Lebensalter verzehrt, müssen vor Eintritt ihrer völligen Entwicklung genossen werden; andere wie die Melonen, die meisten Baumfrüchte, das Schaf, der Ochs und überhaupt alle ausgewachsenen Thiere, in dem Augenblicke, wo sie ihre völlige Entwicklung erlangt haben; abermals andere, wie z. B. die Mispel, die Schnepfe und besonders der Fasan, erst dann, wenn sie sich zu zersetzen beginnen, und eine vierte Klasse endlich, wie z. B. die Kartoffel, der Manioc und andere, nur erst, nachdem die Kunst sie ihrer schädlichen Eigenschaften beraubt hat.

Außerdem classificirt die Gastronomie diese Substanzen nach ihren verschiedenen Eigenschaften, bezeichnet diejenigen, welche mit einander verbunden werden können, und unterscheidet je nach dem Grade der Nahrhaftigkeit diejenigen, welche die Grundlage unseres Mahles bilden müssen, von denen, die nur Beilagen dazu sind, sowie von jenen andern, die, obschon für die Ernährung nicht von nöthen, doch eine angenehme Zerstreuung bieten und die unerläßliche Begleitung für die Tischgespräche bilden.

Nicht geringere Aufmerksamkeit wendet sie den Getränken zu, die uns je nach Zeit, Art und Himmelstrich bestimmt sind. Sie lehrt sie bereiten, aufbewahren und namentlich in einer Ordnung anbieten, die so berechnet ist, daß der daraus entspringende Genuß stetig wächst bis zu dem Momente, wo das Vergnügen aufhört und der Mißbrauch beginnt.

Endlich mustert die Gastronomie die Menschen und die Dinge, um alles, was eine weitere Verbreitung verdient, aus seiner Heimat in andere Länder zu verpflanzen, und daher bietet ein nach den Regeln der Wissenschaft geordnetes Mahl einen Abriß der ganzen Welt, in welchem jeder Theil derselben durch seine Vertreter veranschaulicht wird.

Nutzen der gastronomischen Kenntnisse.

20. Die gastronomischen Kenntnisse sind für alle Menschen von nöthen, da sie die Steigerung des dem Menschen bestimmten Maßes von Lust zum Zweck haben. Diese Nützlichkeit wächst im Verhältnis zu der Stellung, die der einzelne in der Gesellschaft einnimmt, und daher sind jene Kenntnisse unentbehrlich für diejenigen, die, im Besitze eines großen Einkommens, viele Gäste bei sich empfangen, gleichviel, ob sie dies thun, um die Pflicht der Repräsentation zu erfüllen, oder um ihrer eigenen Neigung zu fröhnen, oder endlich um der Mode zu gehorchen.

Im Besitz dieser Kenntnisse genießen sie den besondern Vortheil, daß sie an der Art und Weise, in der ihre Tafel gehalten wird, persönlichen Antheil haben, und daß sie die Männer der Küche, denen sie nothwendigerweise Vertrauen schenken müssen, doch bis zu einem gewissen Punkte überwachen und ihnen in vielen Fällen sogar Anweisungen ertheilen können.

Der Prinz Soubise beabsichtigte eines Tages, ein Fest zu geben, das mit einem Abendessen schließen sollte, und hatte eine Aufstellung über die Bestandtheile dieses Mahls verlangt.

Der Hausverwalter findet sich demgemäß bei der Morgenaudienz mit einem hübsch geränderten Zettel ein, und der erste Artikel, auf den der Blick des Prinzen fällt, besagt nichts Geringeres als Funfzig Schinken. »Ei was, Bertrand!« ruft der Prinz aus, »ich glaube, du bist übergeschnappt. Funfzig Schinken! ... Willst du vielleicht mein ganzes Regiment bewirthen?« – »Durchaus nicht, gnädiger Herr. Es soll nur einer davon auf der Tafel erscheinen, aber ich brauche die übrigen nicht weniger nothwendig zu meiner Spaniolette, meinen Blonden, meinen Beilagen, meinen ... »Bertrand, Sie bestehlen mich. Dieser Artikel wird gestrichen.« – »Gnädiger Herr,« entgegnete der Künstler, kaum noch seinen Zorn bemeisternd, »Sie kennen unsere Mittel nicht! Befehlen Sie, und ich bringe Ihnen diese fünfzig Schinken, an denen Sie Anstoß nehmen, in einem Glasfläschchen unter, das nicht größer sein soll als mein Daumen!«

Was war auf eine so positive Behauptung zu erwidern? Der Prinz lächelte, las weiter, und der Artikel wurde genehmigt.

Einfluß der Gastronomie auf die Geschäfte.

21. Man weiß, daß bei den Naturvölkern jede nur einigermaßen wichtige Angelegenheit nur bei Tische verhandelt wird: bei Festgelagen beschließen die Wilden über Krieg und Frieden. Und wir brauchen nicht einmal so weit zu gehen: auch unsere Bauern machen alle ihre Geschäfte in der Schenke ab.

Diese Beobachtung ist von denen nicht vernachlässigt worden, die oft über die wichtigsten Interessen zu verhandeln haben. Sie sahen, daß der satte Mensch ein ganz anderer ist als der nüchterne, daß die Tafel ein gewisses Band um den Wirth und den Bewirtheten schlingt, daß sie die Theilnehmer geeigneter macht, gewisse Eindrücke zu empfangen und sich gewissen Einflüssen zu unterwerfen, und so entstand die politische Gastronomie. Die Gastmähler sind ein Mittel zur Regierung der Staaten geworden, und oft ward das Loos der Völker auf einem Bankett entschieden. Diese Behauptung ist weder paradox noch neu, sondern beruht einfach auf der Beobachtung von Thatsachen. Man schlage die Geschichtschreiber nach von Herodot an bis auf unsere Zeit, und man wird sehen, daß nie, selbst die Verschwörungen nicht ausgenommen, ein großes Ereignis eingetreten ist, das nicht bei Gastmahlen entworfen, vorbereitet und angeordnet ward.

Gastronomische Akademie.

22. Das ist, beim ersten Ueberschlage, das Gebiet der Gastronomie, ein Gebiet, das reich ist an Ergebnissen jeder Art, und das durch die Entdeckungen und Forschungen der Gelehrten, die sich damit beschäftigen werden, nur noch vergrößert werden kann. Denn es ist undenkbar, daß die Gastronomie nicht noch vor Ablauf weniger Jahre ihre Akademiker, ihre Lehr-Curse, ihre Professoren und ihre Preisausschreiben haben sollte.

Zuerst wird ein reicher und begeisterter Gastronom in seinem Hause periodische Versammlungen abhalten, bei denen sich die gelehrtesten Theoretiker mit den besten Künstlern vom Fach zusammenfinden werden, um die verschiedenen Theile der Speisewissenschaft zu erörtern und gründlich zu untersuchen.

Bald danach wird dann – denn das ist die Geschichte aller Akademien – die Regierung sich einmischen, reguliren, protegiren, Einrichtungen treffen und die Gelegenheit ergreifen, um dem Volke eine Entschädigung zu gewähren für alle die Waisen, welche das Geschütz gemacht, und alle die Ariadnen, welche der Generalmarsch in Trauer und Thränen versenkt hat.

Glücklich der Minister, der seinen Namen mit diesem so unentbehrlichen Institute der Nachwelt übermachen wird! Von Geschlecht zu Geschlecht wird dieser Name mit denen des Vater Noah, des Bacchus, des Triptolemos und anderer Wohlthäter der Menschheit im Gedächtnis der Nachwelt fortleben, er wird unter den Ministern sein, was Heinrich IV. unter den Königen ist, und sein Lob wird in aller Munde sein, ohne daß eine Verfügung dies zur Pflicht zu machen braucht.


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