Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Aus meinem Tagebuche

1830

Frankfurt, den 30. April

Kostbar ist ein Brief, den Goethe auf einer Reise nach der Schweiz aus Frankfurt an Schiller geschrieben. Wer ihn ohne Lachen lesen kann, den lache ich aus. Goethe, der an nichts Arges denkt und im Schoße des Friedens ruhig und guter Dinge lebt, entdeckt plötzlich in der Residenz seines Lebens deutliche Spuren von Sentimentalität. Erschrocken und argwöhnisch, wie ein Polizeidirektor, sieht er darin demagogische Umtriebe des Herzens demagogische Umtriebe, die, als gar nicht real, sondern nebulistischer Natur, ihm noch verhaßter sein müssen als Knoblauch, Wanzen und Tabakrauch. Er leitet eine strenge Untersuchung ein. Aber – er war noch im achtzehnten Jahrhundert – nicht ohne alle Gerechtigkeit und bedenkend, daß ihm doch auf der ganzen Reise nichts, gar nichts »nur irgend eine Art von Empfindung gegeben hätte«, findet er, daß, was er für Sentimentalität gehalten, nur eine unschuldige wissenschaftliche Bewegung gewesen sei, die ein leichtes Kunstfieber zur Folge hatte. Die Gegenstände, welche das Blut aufgeregt, seien symbolisch gewesen. Für Zeichen dürfen sich gute Bürger erhitzen, aber nicht für das Bezeichnete. Darauf wird das Herz in Freiheit gesetzt, versteht sich gegen Kaution, und es wird unter Polizeiaufsicht gestellt. Doch will Goethe die Sache nicht auf sich allein nehmen; er berichtet an Schiller, als seinen Justizminister, darüber und bittet ihn gehorsamst, das Phänomen zu erklären. Schiller lobt Goethe wegen seiner Achtsamkeit und seines Eifers, beruhigt ihn aber und sagt, die Sache habe nichts zu bedeuten.

Dieser Kriminalfall ist wichtig, und ich wünschte, Jarke in Berlin behandelte ihn mit demselben Geiste, mit dem er in Hitzigs Journal Sands Mordtat besprochen.

Die Briefe ergötzen mich bloß, weil sie mir Langeweile machen. Etwas weniger langweilig, würden sie mich entsetzlich langweilen. Wären sie gefällig, was wär's? Schiller und Goethe! Aber daß unsere zwei größten Geister in ihrem Hause, dem Vaterlande des Genies, so nichts sind nein, weniger als nichts, so wenig – das ist ein Wunder, und jedes Wunder erfreut, und wäre es auch eine Verwandlung des Goldes in Blei.

Wasser in Likörgläschen! Ein Briefwechsel ist wie ein Ehebund. Die Stille und die Einsamkeit erlaubt und verleitet viel zu sagen, was man andern verschweigt, ja was man mitteilend erst von sich selbst erfährt. Und was sagen sie sich? Was niemand erhorchen mag, was sie sich auf dem Markte hätten zuschreien dürfen.

Anfänglich schreibt Schiller: »Hochwohlgeborener Herr, Hochzuverehrender Herr Geheimrat!« Nun, diese Etikette hört freilich bald auf; aber es dauert noch lange, bis Schiller Goethes Hochwohlgeburt vergißt, und nur einmal in zehn Jahren ist er Mann genug, ihn mein Freund, mein teurer Freund zu nennen. Goethe aber vergißt nie seine Lehnsherrlichkeit über Schiller, man sieht ihn oft lächeln über dessen Zimmerlichkeit und ihn als einen blöden Buchdichter genädig und herablassend behandeln. Er schreibt ihm: mein Wertester, mein Bester.

Welch ein breites Gerede über Wilhelm Meister! Quel bruit pour une omelette! »Es sieht zuweilen aus, als schrieben Sie für die Schauspieler, da Sie doch nur von den Schauspielern schreiben wollen« – tadelt Schiller. Auch findet er unzart, daß Wilhelm von der Gräfin ein Geldgeschenk annimmt. Bei Goethe aber finden sich immer nur Maitressen oder hommes entretenus; wahre Liebe kennt er, erkennt er nicht und läßt sie nicht gelten. Der dumme Schiller! Ist nicht Wilhelm Meister ein bloßer Bürger, der keine Ehre zu haben braucht?

Mich ärgert von solchen Männern das pöbelhafte Deklinieren der Eigennamen. Sie sagen: die Humboldtin, sprechen von Körnern, Lodern, Lavatern, Badern. Auch bedienen sie sich, am meisten Schiller, einer zahllosen Menge von Fremdwörtern, und das ganz ohne Not, wo das deutsche Wort viel näher lag. Stagnation, convenient, avanciert, incalculabel, Obstakeln, embarrassieren, retardieren, Desavantage, Arrangements, satisfeciert, Aperciis, Detresse, Tournüre, repondieren, incorrigibel. Und solche Männer, die in ihren Werken so reines Deutsch schreiben! Ist das nicht ein Beweis, daß ihnen Leben und Kunst getrennt war, daß ihr Geist weit von ihrem Herzen lag?

Goethes Lieblingsworte sind: heiter, artig, wunderlich. Er fürchtet sogar sich zu wundern; was ihn in Erstaunen setzt, ist wunderlich. Er gönnt dem armen Worte die kleine Ehre der Überraschung nicht. Er scheut alle enthusiastischen Adjektive; – man kann sich so leicht dabei echauffieren.

Wie freue ich mich, daß der Konrektor Weber, der in den kalten Berliner Jahrbüchern den neuen Goethe mit brühheißem Lobe übergossen, nicht mehr in Frankfurt ist, sondern in Bremen vergöttert. Er ist ein starker, kräftiger Mann, und wenn er mich totschlagen wollte, ich könnte es ihm nicht wehren.

– – Mensch, du elender Sklave deines Blutes, wie magst du nur stolz sein? Du armes Schifflein auf diesem roten Meere, steigst und sinkst, wie es den launischen Wellen beliebt, und jede Blutstille spottet deiner Segel und deines Steuers! Der Puls ist der Hammer des Schicksals, womit es Könige und Helden schmiedet und Ketten für Völker und das Schwert, sie zu befreien, und große und kleine Gedanken und scharfe und stumpfe Empfindungen. Du König im Purpurkleide, wer kann dir widerstehen ? ... War ich doch gestern weich wie Mutterliebe, und heute spotte ich die deutschen Götter weg und schnarche in ihren Tempeln!

Frankfurt, den 4. Mai

Schiller wünscht die Chronologie von Goethes Werken zu kennen, um daraus zu sehen, wie sich der Dichter entwickelt habe, welchen Weg sein Geist gegangen sei. Er spricht von dessen analytischer Periode. Ihm wird die gebetene Belehrung, und darauf anatomiert er seinen hohen Gönner kalt wie ein Prosektor, aber bei lebendigem Leibe, und hält ihm, unter dem Schneiden, Vorlesungen über seinen wundervollen Bau. Goethe verzieht keine Miene dabei und erträgt das alles, als ginge es ihn selbst nichts an. Er schreibt seinem Zergliederer: »Zu meinem Geburtstage, der mir diese Woche erscheint, hätte mir kein angenehmeres Geschenk werden können als Ihr Brief, in welchem Sie mit freundschaftlicher Hand die Summe meiner Existenz ziehen.« Und jetzt bittet er Schiller, ihn auch mit dem Gange seines Geistes bekannt zu machen. Das alles ist um aus der Haut zu fahren! Freilich hat das Genie seine Geheimnisse, die wir anderen nicht kennen, noch ahnden. Aber ich hätte es nicht gedacht, daß es Art des Genies wäre, so sich selbst zu beobachten, so sich selbst nachzugehen auf allen Wegen, von der Laufbank bis zur Krücke. Ich meinte, das wahre Genie sei ein Kind, das gar nicht wisse, was es tut, gar nicht wisse, wie reich und glücklich es ist. Schiller und Goethe sprechen so oft von dem Wie und Warum, daß sie das Was darüber vergessen. Als Gott die Welt erschuf, da wußte er sicher nicht so deutlich das Wie und Warum, als es Goethe weiß von seinen eigenen Werken. Wer göttlichen Geistes voll, wer, hineingezogen in den Kreis himmlischer Gedanken, sich für Gott den Sohn hält – weicht auch die feste Erde unter seinen Schritten –, der mag immer gesund sein, nur verzückt ist er. Aber für Gott den Vater? Nein. Das ist Hochmut in seinem Falle, das ist Blödsinn. Nichts ist beleidigender für den Leser als eine gewisse Ruhe der schriftstellerischen Darstellung; denn sie setzt entweder Gleichgültigkeit oder Gewißheit zu gestalten voraus. So mit dürrem Ernste von sich selbst zu reden, ohne Eigenliebe, ohne Wärme, ohne Kindlichkeit, das scheint mir – ich mag das rechte Wort nicht finden. Wie ganz anders Voltaire! Seine Eitelkeit macht uns ihm gewogen. Wir freuen uns, daß ein Mann von so hohem Geiste um unser Urteil zittert, uns schmeichelt, zu gewinnen sucht.

Die Liebe hat die Briefpost erfunden, der Handel benutzt sie. Schiller und Goethe benutzen sich als Bücher; es ist eine didaktische Freundschaft, ein wechselseitiger Unterricht zwischen ihnen. Unsere beiden Dichter haben eigentlich ganz verschiedene Muttersprachen. Freilich versteht jeder auch die des andern, soviel man sie aus Buch und Umgang lernen kann; aber Goethe macht sich's wie ein Franzose immer bequem und redet mit Schiller seine eigene Sprache, und Schiller, als gefälliger Deutscher, spricht mit dem Ausländer seine ausländische. Von ihrer Freundschaft halte ich nicht viel. Sie kommen mir vor wie der Fuchs und der Storch, die sich bewirten: der Gast geht hungrig vom Tische, der Wirt, übersatt, lacht im stillen. Doch kommt Storch Schiller besser dabei weg, als Fuchs Goethe. Ersterer kann in Goethes Schüssel sich wenigstens seinen spitzen idealen Schnabel netzen; Goethe aber, mit seiner breiten realistischen Schnauze, kann gar nichts aus Schillers Flasche bringen.

Goethe schreibt: »Ich bin jetzt weder zu Großem noch zu Kleinem nütze und lese nur indessen, um mich im Guten zu erhalten, den Herodot und Thukydides, an denen ich zum ersten Male eine ganz reine Freude habe, weil ich sie nur ihrer Form und nicht ihres Inhalts wegen lese«. Bei den Göttern! Das ist ein Egoist, wie nicht noch einer! Goethe ummauert nicht bloß sich, daß ihn die Welt nicht überlaufe; er zerstückelt auch die Welt in lauter Ichheiten und sperrt jede besonders ein, daß sie nicht heraus könne, ihn nicht berühre, ehe er es haben will. Hätte er die Welt geschaffen, er hätte alle Steine in Schubfächer gelegt, sie gehörig zu schematisieren; hätte allen Tieren nur leere Felle gegeben, daß sie Liebhaber ausstopfen; hätte jede Landschaft in einen Rahmen gesperrt, daß es ein Gemälde werde, und jede Blume in einen Topf gesetzt, sie auf den Tisch zu stellen. Was in der Tat wäre auch nebulistischer, als das unleidliche Durcheinanderschwimmen auf einer Wiese! Goethes Hofleute bewundern das und nennen es Sachdenklichkeit; ich schlichter Bürger bemitleide das und nenne es Schwachdenklichkeit. Alle Empfindungen fürchtet er als wilde mutwillige Bestien und sperrt sie, ihrer Meister zu bleiben, in den metrischen Käfig ein. Er gesteht es selbst in einem Kapitel der Wahrheit aus seinem Leben, daß ihn in der Jugend jedes Gefühl gequält habe, bis er ein Gedicht daraus gemacht und so es los geworden sei. Bewahre der gute Gott mich und meine Freunde, daß wir nicht jeden Zug des Herzens als ungesunde Zugluft scheuen! Lieber nicht leben, als solch einer hypochondrisch-ängstlichen Seelendiät gehorchen! Tausendmal lieber krank sein!

Goethe diktiert seine Briefe auch aus Objektivsucht. Er fürchtet, wenn er selbst schriebe, es möchte etwas von seinem Subjekte am Objekte hängen bleiben, und er fürchtet Sympathie wie ein Gespenst. Er lebt nur in den Augen: wo kein Licht, ist ihm der Tod. Das Licht zu schützen, umschattet er es. Was ist Form? Der Tod der Ewigkeit, die Gestalt Gottes ... Ist Goethe glücklich zu nennen? Er ist so arm und so allein! Ihm kommt jeder Wunsch erst nach dessen Erfüllung, er begehrt nur, was er schon besitzt. Aber die Welt ist groß und der Mensch ist klein; er kann nicht alles fassen. Nur die Sehnsucht macht reich, nur die Religion, die, uns der Welt gebend, uns die Welt gibt, tut genug. Ich möchte nicht Goethe sein; er glaubt nichts, nicht einmal, was er weiß.

Ein Narr im Gesellschafter oder in einem andern Blatte dieser Familie ließ einmal mit großen Buchstaben drucken: Goethe hat sich über die französische Revolution ausgesprochen. Es war ein Trompetenschall, daß man meinte, ein König würde kommen, und es kam ein Hanswurst. Und doch wäre Goethe, gerade wegen seiner falschen Naturphilosophie, der rechte Mann, die französische Revolution gehörig aufzufassen und darzustellen. Aber er haßte die Freiheit so sehr, daß ihn selbst seine geliebte Notwendigkeit erbittert, sobald sie ein freundliches Wort für die Freiheit spricht. Er schreibt an Schiller: »Ich bin über des Soulavie mémoires historiques et politiques du regne de Louis X Vl. geraten. ... Im ganzen ist es der ungeheure Anblick von Bächen und Strömen, die sich nach Naturnotwendigkeit von vielen Höhen und vielen Tälern gegeneinander stürzen und endlich das übersteigen eines großen Flusses und eine Überschwemmung veranlassen, in der zugrunde geht, wer sie vorhergesehen hat, so gut als der sie nicht ahnete. Man sieht in dieser ungeheuren Empirie nichts als Natur und nichts von dem, was wir Philosophen gern Freiheit nennen möchten.« Goethe, als Künstler Notwendigkeit und keine Freiheit erkennend, zeigt hier eine ganz richtige Ansicht von der französischen Revolution, und ohne daß er es will und weiß, erklärt er sie nicht bloß, sondern verteidigt sie auch, die er doch sonst so hasset. Er hasset alles Werden, jede Bewegung, weil das Werdende und das Bewegte sich zu keinem Kunstwerke eignet, das er nach seiner Weise fassen und bequem genießen kann. Für den wahren Kunstphilosophen aber gibt es nicht Werdendes noch Bewegtes; denn das Werdende in jedem Punkte der Zeit, das Bewegte in jedem Punkte des Raumes, den es durchläuft, ist in diesem Punkte, und der schnelle Blick, der ein so kurzes Dasein aufzufassen vermag, wird es als Kunstwerk erkennen. Für den wahren Naturphilosophen gibt es keine Geschichte und keine Gärung; alles ist geschehen, alles fest, alles erschaffen. Aber Goethe hat den Schwindel wie ein anderer auch, nur weiß er es nicht, daß das Drehen und Schwanken in der Vorstellung liegt und nicht in dem Vorgestellten.

Soden, den 18. Mai

Ich war immer erstaunt, daß unsern zwei größten Dichtern der Witz gänzlich mangelt; aber ich dachte: sie haben Adelsstolz des Geistes und scheuen sich, da, wo sie öffentlich erscheinen, gegen den Witz, der plebejischer Geburt ist, Vertraulichkeit zu zeigen. Im Hause, wenn sie keiner bemerkt, werden sie wohl witzig sein. Doch als ich ihren Briefwechsel gelesen, fand ich, daß sie im Schlafrocke nicht mehr Witz haben als wenn den Degen an der Seite. Einmal sagt Schiller von Fichte: »Die Welt ist ihm nur ein Ball, den das Ich geworfen hat und den es bei der Reflexion wieder fängt.« Man ist erstaunt, verwundert; aber diese witzige Laune kehrt in dem bändereichen Werke kein zweites Mal zurück.

Der Mangel an Witz tritt bei Goethe und Schiller da am häßlichsten hervor, wo sie in ihren vertraulichen Mitteilungen Menschen, Schriftsteller und Bücher beurteilen. Es geschieht dieses oft sehr derb, oft sehr grob; aber es geschieht ohne Witz. Das Feuer brennt, aber es leuchtet auch; das Licht warnt vor dem Schmerz und bezahlt ihn. Tadel ohne Witz ist Glut ohne Licht. Das Lob braucht den Witz, verträgt ihn nicht; Wohlgefallen ist nur, wo Einheit der Empfindung, und der Witz trennt, zerreißt. Der Tadel braucht ihn; der Witz macht ihn milder, erhebt den Ärger zu einem Kunstwerke. Ohne ihn ist Kritik gemein und boshaft.

Ich weiß nicht, wie hoch die Gesetzbücher der Ästhetik den Witz stellen; aber ohne Witz, sei man noch so großer Dichter, kann man nicht auf die Menschheit wirken. Man wird nur Menschen bewegen, Zeitgenossen, und sterben mit ihnen. Ohne Witz hat man kein Herz, die Leiden seiner Brüder zu erraten, keinen Mut, für sie zu streiten. Er ist der Arm, womit der Bettler den Reichen an seine Brust drückt, womit der Kleine den Großen besiegt. Er ist der Enterhaken, der feindliche Schiffe anzieht und festhält. Er ist der unerschrockene Anwalt des Rechtes und der Glaube, der Gott sieht, wo ihn noch kein anderer ahndet. Der Witz ist das demokratische Prinzip im Reiche des Geistes; der Volkstribun, der, ob auch ein König wolle, sagt: ich will nicht!

Der Verstand ist Brot, das sättigt; der Witz ist Gewürz, das eßlustig macht. Der Verstand wird verbraucht durch den Gebrauch, der Witz erhält seine Kraft für alle Zeiten. Goethes und Schillers so verständige Lehren nützen nicht mehr; denn man hat ihre Lehren befolgt, und neues Wissen braucht neue Regeln. Auch Lessing und Voltaire haben gelehrt, die Kunst und ihre Zeit haben von ihnen gelernt; aber ihre Lehren sind für immer. Sie kämpften mit dem –Witze, und der Witz ist ein Schwert, das in jedem Kampfe zu gebrauchen. Die Geschichte zählt große Menschen, die sind Register der Vergangenheit: so Goethe und Schiller. Sie zählt wieder andere, die sind Inhaltsverzeichnisse der Zukunft: so Voltaire und Lessing.

– Ihr, die ihr nicht Menschen, nur Göttern glaubt: so hört doch einmal, was eure verehrten Orakel sprechen! Schiller, wo er an Goethe von dem schlechten Absatze der Propyläen berichtet, spricht von der »ganz unerhörten Erbärmlichkeit des Publikums« ... Er schreibt: »Ich darf an diese Sache gar nicht denken, wenn sie mein Blut nicht in Bewegung setzen soll, denn einen so niederträchtigen Begriff hat mir noch nichts von dem deutschen Publikum gegeben« ... Er meint: »Den Deutschen muß man die Wahrheit so derb sagen, als möglich.« Ach! diese Wahrheit habe ich schon oft gesagt und derber als Schiller. Man m uß nicht aufhören, sie zu ärgern; das allein kann helfen. Man soll sie nicht einzeln ärgern – es wäre unrecht, es sind sogar gute Leute, man muß sie in Masse ärgern. Man muß sie zum Nationalärger stacheln, kann man sie nicht zur Nationalfreude begeistern, und vielleicht führt das eine zum andern. Man muß ihnen Tag und Nacht zurufen: Ihr seid keine Nation, Ihr taugt nichts als Nation. Man darf nicht vernünftig, man muß unvernünftig, leidenschaftlich mit ihnen sprechen; denn nicht die Vernunft fehlt ihnen, sondern die Unvernunft, die Leidenschaft, ohne welche der Verstand keine Füße hat. Sie ganz Kopf – caput mortuum. Europa gärt, steigt, klärt sich auf; Deutschland trübt sich, sinkt und setzt sich ganz unten nieder. Das nennen die Staatschemiker: die Ruhe, den Frieden, den trocknen Weg des Regierens.

Doch haben Goethe und Schiller das Recht, auf das Volk, dem sie angehören, so stolz herabzusehen? Sie weniger als einer. Sie haben es nicht geliebt, sie haben es verachtet, sie haben für ihr Volk nichts getan. Aber ein Volk ist wie ein Kind, man muß es belehren, man kann es schelten, strafen; doch soll man nur streng scheinen, nicht es sein; man soll den Zorn auf den Lippen haben und Liebe im Herzen. Schiller und Goethe lebten nur unter ausgewählten Menschen, und Schiller war noch ein schlimmerer Aristokrat als Goethe. Dieser hielt es mit dem Vornehmen, den Mächtigen, Reichen, mit dem bürgerlichen Adel. Der Troß ist zahlreich genug; es kann wohl auch ein Unberechtigter ihrem Zuge folgen und sich unentdeckt in ihre Reihen mischen; und wird er entdeckt, man duldet ihn oft. Schiller aber zechte mit dem Adel der Menschheit an einem kleinen Tischchen, und den ungebetenen Gast warf er zornig hinaus. Und seine Ritter der Menschheit wissen das Schwert nicht zu führen, sie schwätzen bloß und lassen sich totschlagen; es ist ein deklamierender Komödiantenadel. Marquis Posa spricht in der Höhle des Tigers wie ein Pfarrer vor seiner zahmen Gemeinde und vergißt, daß man mit Tyrannen kämpfen soll, nicht rechten. Der Vormund des Volkes muß auch sein Anführer sein; einer Themis ohne Schwert wirft man die Waage an den Kopf.

Wenn Gottes Donner rollen und niederschmettern das Gequieke der Menschlein da unten: dann horcht ein edles Herz und jauchzet und betet an, und wer angstvoll ist, hört und ist still und betet. Der Dämische aber verstopft sich die Ohren und hört nicht und betet nicht und betet nicht an. Schiller, während der heißen Tage der Französischen Revolution, schrieb in der Ankündigung der Horen: »Vorzüglich aber und unbedingt wird sich die Zeitschrift alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht.« So spricht noch heute je der Lump von Journalist, wenn er, um die Leser lüstern zu machen nach dem neuen Blatte, sie versichert, es werde das reine Gold der Novellen, der Theaterberichte mitteilen, ohne alle garstige Legierung mit Glaube und Freiheit. Schiller war edel, aber nicht edler als sein Volk. So sprach und dachte auch Goethe. Sendet dazu der Himmel der durstigen Menschheit seine Dichter, daß sie trinken, sie mit den Königen und daß wir, den Wein vor den Augen, den sie nicht mit uns teilen, noch mehr verschmachten? Und so denkend und so sprechend, geziemt es ihnen zu klagen. »So weit ist es noch nicht mit der Kultur der Deutschen gekommen, daß sich das, was den Besten gefällt, in Jedermanns Hände finden sollte?« Wie kann sich in Jedermanns Hände finden, wonach nicht jedermann greift, weil es, wie Religion und Bürgertum, nicht jedermann angeht? Soll etwa das deutsche Volk aufjauchzen und die Schnupftücher schwenken, wenn Goethe mit Myrons Kuh liebäugelt?

Soden, den 20. Mai

Ich habe Goethes und Schillers Briefe zu Ende gelesen; das hätte ich mir nicht zugetraut. Vielleicht nützt es meiner Gesundheit als Wasserkur. Mich für meine beharrliche Diät zu belohnen, will ich mir die hochpreislichen Rezensionen zu verschaffen suchen, die über diesen Briefwechsel gewiß erschienen sein werden. Ich freue mich sehr darauf. Was werden sie über das Buch nicht alles gefaselt, was nicht alles darin gefunden haben! Goethe hat viele Anhänger, er hat, als echter Monarch, es immer mit dem literarischen Pöbel gehalten, um die reichen unabhängigen Schriftsteller in die Mitte zu nehmen und einzuengen. Er für sich hat sich immer vornehm gehalten, er hat nie selbst von oben gedrückt; er ist stehengeblieben und hat seinen Janhagel von unten drücken lassen. Nichts ist wunderlicher als die Art, wie man über Goethe spricht – ich sage die Art; ich sage nicht, es sei wunderlich, daß man ihn hochpreist; das ist erklärlich und verzeihlich. Man behandelt ihn ernst und trocken als ein Corpus Juris. Man erzählt mit vieler Gelehrsamkeit die Geschichte seiner Entstehung und Bildung, man erklärt die dunkeln Stellen- man sammelt die Parallelstellen; man ist ein Narr. Ein Bewunderer Goethes sagte mir einmal: um dessen Dichtwerke zu verstehen, müsse man auch seine naturwissenschaftlichen Werke kennen. Diese kenne ich freilich nicht; aber was ist das für ein Kunstwerk, das sich nicht selbst erklärt? Weiß ich denn ein Wort von Shakespeares Bildungsgeschichte und verstehe ich den Hamlet darum weniger, soviel man etwas verstehen kann, das uns entzückt? Muß man, den Macbeth zu verstehen, auch den Othello gelesen haben? Aber Goethe hat durch sein diplomatisches Verfahren die Ansicht geltend gemacht, man müsse alle seine Werke kennen, um jedes einzelne gehörig aufzufassen; er wollte in Bausch und Bogen bewundert sein. Ich bin aber gewiß, daß die erbende Zukunft Goethes Hinterlassenschaft nur cum beneficio inventarii antreten werde. Ein Goethepfaffe, der so glücklich war, eine ganze Brieftasche voll ungedruckter Zettelchen von seinem Gotte zu besitzen, breitete einmal seine Reliquien vor meinen Augen aus, fuhr mit zarten, frommen Fingern darüber her und sagte mit Wasser im Munde: »J ede Zeile ist köstlich!« Mein guter Freund wird diesen Briefwechsel, der funfzigtausend köstliche Zeilen von Goethe enthält, als ein grünes Gewölbe anstaunen: ich aber gebe lieber für das Dresdner meinen Dukaten Bewunderung hin.

Aber in dem letzten Bande der Briefsammlung ist es geschehen, daß Goethe einmal, ein einziges Mal in seinem langen Leben, sich zur schönen Bruderliebe wandte, weil er sich vergessen, sich verwirrt und vom alten ausgetretenen Wege der Selbstsucht abgekommen war. In der Zueignung des Buches an den edlen König von Bayern, worin er diesem Fürsten für die von ihm empfangenen Beweise der Gnade dankt, gedenkt er Schillers, des verstorbenen Freundes, und beweint, daß nicht auch er, da er noch lebte, sich solcher fürstlichen Huld zu erfreuen gehabt; ja ihn rührt der Gedanke, daß Schiller vielleicht noch lebte, wäre ihm solche Huld zu Teile geworden. Goethe sagt: »Der Gedanke, wieviel auch er von Glück und Genuß verloren, drang sich mir erst lebhaft auf, seit ich Ew. Majestät höchster Gunst und Gnade, Teilnahme und Mitteilung, Auszeichnung und Bereicherung, wodurch ich frische Anmut über meine hohen Jahre verbreitet sah, mich zu erfreuen hatte ... Nun ward ich zu dem Gedanken und der Vorstellung geführt, daß auf Ew. Majestät ausgesprochene Gesinnungen dieses alles dem Freunde in hohem Maße widerfahren wäre; umso erwünschter und förderlicher, als er das Glück in frischen, vermögsamen Jahren hätte genießen können. Durch allerhöchste Gunst wäre sein Dasein durchaus erleichtert, häusliche Sorgen entfernt, seine Umgebung erweitert, derselbe auch wohl in ein heilsameres besseres Klima versetzt worden, seine Arbeiten hätte man dadurch belebt und beschleunigt gesehen, dem höchsten Gönner selbst zu fortwährender Freude, und der Welt zu dauernder Erbauung. «

Dürfen wir unsern Augen trauen? Der Geheimrat von Goethe, der Karlsbader Dichter, wagt es, deutsche Fürsten zu schelten, daß sie Schiller, den Stolz und die Zierde des Vaterlandes, verkümmern ließen? Er wagt es, so von höchsten und allerhöchsten Personen zu sprechen? Ist der Mann jung geworden in seinem hohen Alter; Ach nein, es ist Altersschwäche; es war keine freie Bewegung der Seele, es war ein Seelenkrampf gewesen. Aber das verdammt ihn, daß er nicht vierzig Jahre früher und auch bei jedem Anlasse so hervorgetreten – das verdammt ihn, weil wir jetzt sahen und erkannten, wie er hätte wirken können, wenn er es getan. Er hat durch die wenigen Worte seines leisen Tadels ein Wunder bewirkt! Er hat die festverschlossene, uneindringliche Amtsbrust eines deutschen Staatsdieners wie durch Zauberei geöffnet! Er hat den fünfundzwanzigjährigen Frost der strengsten Verschwiegenheit durch einen einzigen warmen Strahl seines Herzens aufgetaut! Kaum hatte Herr von Beyme, einst preußischer Minister, Goethes Anklage gelesen, als er bekannt machte: um den Vorwurf, den Goethe den Fürsten Deutschlands macht, daß Schiller keinen Beschützer unter ihnen gefunden, wenigstens von seinem Herrn abzuwenden, wage er, die amtlich nur ihm bekannte Tatsache zur allgemeinen Kenntnis zu bringen, daß der König von Preußen Schillern, als dieser den Wunsch geäußert, sich in Berlin niederzulassen, aus freier Bewegung einen Gehalt von dreitausend Talern jährlich und noch andere Vorteile gesichert hatte. Warum hat Herr von Beyme diesen schönen Zug seines Herrn so lange verschwiegen? warum hat er gewartet, bis eingetroffen, was kein Gott vorhersehen konnte, daß Goethe einmal menschlich fühlte? Daß der König von Preußen strenge Gerechtigkeit übt, das weiß und preist das deutsche Vaterland; aber seinen Dienern ziemte es, auch dessen schöne Handlungen, die ein edles Herz gern verbirgt, bekannt zu machen, damit ihnen die Huldigung werde, die ihnen gebührt, und damit sie die Nachahmung erwecken, die unsern engherzigen Regierungen so große Not tut.

In den europäischen Staaten, die unverjüngt geblieben, fürchten die Herrscher jede Geisteskraft, die ungebunden und frei nur sich selbst lebt, und suchen sie durch verstellte Geringschätzung in wirklicher Geringschätzung zu erhalten. Wo sie dieses nicht vermögen, wo ein Talent sich durchgeschlagen und sich Hochachtung erbeutet, da schmieden sie es an die Schulbank, um es festzuhalten, oder spannen es vor die Regierung, um es zu zügeln. Ist die Regierung voll und kann keiner mehr darin untergebracht werden, zieht man den Schriftstellern wenigstens die Staatslivree an und gibt ihnen Titel und Orden; oder man sperrt sie in den Adelshof, nur um sie von der Volksstadt zu trennen. Daher gibt es nirgends mehr Hofräte als in Deutschland, wo sich die Höfe am wenigsten raten lassen. In Östreich, wo die Juden seit jeher einen großen Tell der bürgerlichen und alle staatsbürgerlichen Rechte entbehren; in diesem Lande, wo man an Gottes Wort nicht deutelt und alles läßt, wie es zur Zeit der Schöpfung gewesen, adelt man doch die niedergehaltenen Juden und macht sie zu Freiherrn, sobald sie einen gewissen Reichtum erlangt. So sehr ist dort die Regierung besorgt und bemüht, dem Bürgerstande jede Kraft, selbst den Reichtum und seinen Einfluß zu entziehen! Es ist zum Lachen, wenn man liest, welchen Weg der Ehre Schiller gegangen. Als er in Darmstadt dem Großherzog von Weimar seine Räuber vorgelesen, ernannte ihn dieser zum Rat, der damalige Landgraf von Darmstadt ernannte ihn auch zum Rat; Schiller war also zweimal Rat. Der Herzog von Meiningen ernannte ihn zum Hofrat, der deutsche Kaiser adelte den Dichter des Wilhelm Tell. Dann ward er Professor in Jena, er bekam Brot, er mußte aber arbeiten, und nur wenige Jahre lebte er frei und seiner Würde angemessen in Weimar von der Gunst seines Fürsten. Kein Zweiter übernahm die irdischen Sorgen dieses ätherischen Geistes, Gold hat ihm keiner gegeben. Doch ja – ein Erbprinz und ein Graf haben ihre beiden Herzbeutel zusammengeschossen und haben in Kompagnie dem Dichter auf drei Jahre einen Gehalt von dreitausend Talern gegeben. Wen Gott empfiehlt, der ist bei unsern regierenden Herren schlecht empfohlen. Und wäre es denn Großmut, wenn deutsche Fürsten das Genie würdiger unterstützen, da sie doch die alleinigen und unbeschränkten Verwalter des Nationalvermögens sind?

Goethe hätte ein Herkules sein können, sein Vaterland von großem Unrate zu befreien; aber er holte sich bloß die goldenen Äpfel der Hesperiden, die er für sich behielt, und dann setzte er sich zu den Füßen der Omphale und blieb da sitzen. Wie ganz anders lebten und wirkten die großen Dichter und Redner Italiens, Frankreichs und Englands! Dante, Krieger, Staatsmann, ja Diplomat, von mächtigen Fürsten geliebt und gehaßt, beschützt und verfolgt, blieb unbekümmert um Liebe und Haß, um Gunst und Tücke, und sang und kämpfte für das Recht. Er fand die alte Hölle zu abgenutzt und schuf eine neue, den Übermut der Großen zu bändigen und den Trug gleißnerischer Priester zu bestrafen. Alfieri war reich, ein Edelmann, adelstolz, und doch keuchte er wie ein Lastträger den Parnaß hinauf, um von seinem Gipfel herab die Freiheit zu predigen. Montesquieu war ein Staatsdiener, und er schrieb seine persischen Briefe, worin er den Hof verspottete, und seinen Geist der Gesetze, worin er die Gebrechen Frankreichs richtete. Voltaire war ein Höfling; aber nur schöne Worte verehrte er den Großen und opferte ihnen nie seine Gesinnung auf. Er trug eine wohlbestellte Perücke, feine Manschetten, seidene Röcke und Strümpfe; aber er ging durch den Kot, sobald ein Verfolger um Hülfe schrie, und holte mit seinen adeligen Händen schuldlos Gerichtete vom Galgen herab. Rousseau war ein kranker Bettler und hülfsbedürftig; aber nicht die zarte Pflege, nicht die Freundschaft, selbst der Vornehmen, verführte ihn, er blieb frei und stolz und starb als Bettler. Milton vergaß über seine Verse die Not seiner Mitbürger nicht und wirkte für Freiheit und Recht. So waren Swift, Byron, so ist Thomas Moore. Wie war, wie ist Goethe? Bürger einer freien Stadt, erinnert er sich nur, daß er Enkel eines Schultheißen ist, der bei der Kaiserkrönung Kammerdienste durfte tun. Ein Kind ehrbarer Eltern, entzückte es ihn, als ihn einst als Knabe ein Gassenbube Bastard schalt, und er schwärmte mit der Phantasie des künftigen Dichters, wessen Prinzen Sohn er wohl möchte sein. So war er, so ist er geblieben.

Nie hat er ein warmes Wörtchen für sein Volk gesprochen, er, der früher auf der Höhe seines Ruhms unantastbar, später im hohen Alter unverletzlich, hätte sagen dürfen, was kein anderer wagen durfte. Noch vor wenigen Jahren bat er die »hohen und höchsten Regierungen« des deutschen Bundes um Schutz seiner Schriften gegen den Nachdruck. Zugleich um gleichen Schutz für alle deutschen Schriftsteller zu bitten, das fiel ihm nicht ein. Ich hätte mir lieber wie einem Schulbübchen mit dem Lineal auf die Finger klopfen lassen, ehe ich sie dazu gebraucht, um mein Recht zu betteln, und um mein Recht allein!

Goethe war glücklich auf dieser Erde, und er erkennt sich selbst dafür. Er wird hundert Jahre erreichen; aber auch ein Jahrhundert geht vorüber, und ewig sitzt die Nachwelt. Sie, die furchtlose, unbestechliche Richterin, wird Goethe fragen: Dir ward ein hoher Geist, hast du je die Niedrigkeit beschämt? Der Himmel gab dir eine Feuerzunge, hast du Je das Recht verteidigt? Du hattest ein gutes Schwert, aber du warst nur immer dein eigner Wächter! Glücklich hast du gelebt, aber du hast gelebt.

Soden, den 27. Mai

Wo Weiber einkehren, da folgt auch bald Vokalmusik. Schon frühe morgens hörte ich zwei angenehme weibliche Stimmen Conrad, Conrad durch das Haus tönen. Die eine Stimme betonte die letzte Silbe und rief Conrad, die andere die erste und rief Conrad. Wie ungeduldig! Wenn das die Stimme der Witwe ist, wird sie mir viel zu schaffen machen. Ich bin aber auch für mein Alter noch ziemlich dumm. Ein erfahrner Mann würde eine Witwenstimme von hundert andern Stimmen unterscheiden; denn sie hat gewiß etwas Eigentümliches.

– Nein, Madame Molly ist nicht die Heftige. Ich begegnete ihr im Gange. Eine edle schlanke Gestalt mit etwas blassem Gesichte. Das ist eine schöne Blässe! Das schüchterne Blut meldet die freien Wangen; aber im häuslichen Herzen, da zeigt es sich freudenrot und liebeswarm.

Sie hat eine Art sich zu verneigen, die mir ungemein gut gefällt. Es ist, als wenn ein Lüftchen sich beugte, es ist, als wenn uns eine Blume begrüßte.

– Während die Frauenzimmer ausgegangen waren, trat ich in das offenstehende Zimmer, worin das Mädchen säuberte. Dreizehn ausgeleerte Wasserflaschen standen umher. Ich stellte sie in Reihe und Glied vier Flaschen hoch, und die dreizehnte als Lieutenantin voraus. Kämen sie nur zurück und sähen die Parade!

Sie haben auch Bücher. Die Stunden der Andacht. Was schadet's? Der Tag hat vierundzwanzig Stunden und Zeit für alles. Heines Reisebilder. Ossian. Volneys Ruinen, aus der Leihbibliothek. Ist das Ernst oder glaubten sie, es sei eine Räubergeschichte? Abraham a Sancta Clara. Das wunderte mich etwas von Frauenzimmern, die dreizehn Flaschen Wasser verbrauchen: jeder Humor hat doch etwas Unreinliches. Laßt die Toten ruhen, von Raupach. Uhlands Gedichte. Der liebe Uhland! Er begleitet mich auf allen meinen Wegen. ja, so laß ich mir es gefallen! Das ist auch alte Zeit; aber sie ist kindlich, nicht kindisch; sie ist heiter, keift nicht mit der Jugend, sondern spielt mit ihr. Das ist auch süße Minne; aber süß wie Zucker, nicht wie Sirup. Das sind auch treue Bürger; aber demütig sind sie nicht. Das sind auch mutige Ritter; aber hochmütig sind sie nicht. Das ist auch Königsglanz; aber er blinkt nicht wie kalte Sterne, er strahlt wie die Sonne herab und erwärmt die niedrigste Hütte. Golden und warm ist Uhland, wie die Krone in der Schäferin Hand.

– Habe Goethes westöstlichen Divan geendigt. Ich mußte ihn mit Verstand lesen; mit Herz habe ich es früher einmal versucht, aber es gelang mir nicht. So mit keiner Schrift des Dichters, den Ante-Aulischen Werther ausgenommen, den er geschrieben, sich mit der zudringlichen Jugend ein für alle Male abzufinden.

Welch ein beispielloses Glück mußte sich zu dem seltenen Talente dieses Mannes gesellen, daß er sechzig Jahre lang die Handschrift des Genies nachmachen konnte und unentdeckt geblieben!

Nein, das sind keine Weingesänge, das sind keine Liebeslieder! Das sind keine losen, das sind feste Gedichte. Wohl anmutig säuselt die Luft durch die Zweige und Blätter und schüttelt sie freundlich; aber den starren Stamm bewegt sie nicht. Was wurzelt, ist halb der Nacht, halb dem Lichte und hat nur halbes Leben. Warum, ein freier Mann, orientalisch dichten? Gefangene sind jene, die durch das Gitter ihres dumpfen Kerkers hinaussingen in die kühle Luft. Das Lied ist leicht, das Herz ist schwer. Selbst Salomon seufzte bei Wein und Kuß, und er war Herr; wie mochten erst seine Sklaven lieben und trinken!

Von den Orientalen stammen alle Religionen. Gottes Schrecken und Milde, Zorn und Liebe war in ihren despotischen Herrschern ihnen näher geführt als den freien Abendländern. Ihre Poesie ist kindlich, weil aufgewachsen unter dem Schutze und den Augen ihres Vaters; aber auch kindisch aus Furcht.

Das zahme Dienen trotzigen Herrschern hat sich Goethe unter allen Kostbarkeiten des orientalischen Bazars am begierigsten angeeignet. Alles andere fand er, dieses suchte er; Goethe ist der gereimte Knecht, wie Hegel der ungereimte.

Goethes Stil ist zart und reinlich: darum gefällt er. Er ist vornehm: darum wird er geachtet – von andern. Ich aber untersuchte, ob die so glatte Haut Kraft und Gesundheit bedecke, und ich fand es nicht; fand keine Ader, die von der lilienweißen Hand den Weg zum Herzen zeige. Goethe hat etwas Würdiges, aber diese Würde kömmt nicht von seiner Herrlichkeit, sondern von glücklicher Anmaßung, von Etikette. Wie ein König hat er schlau und wohlbedacht alles berechnet und angeordnet, statt Ehrfurcht, dieses ursprüngliche Gefühl, welches die gottentsprungene Macht erweckte, Ehre und Furcht zu erzwingen. Genug für die, welchen solche Huldigung genug ist; aber nicht genug für uns, die wir nur mit dem Herzen dienen. Blinzeln wir auch, wenn es uns um die Augen flittert, lassen wir uns doch nicht verblenden; stutzen wir auch, wenn machtgewohnte Mienen und Worte uns entgegenkommen, kehren wir doch bald zurück und fragen: wo ist das Recht?

Goethe spricht langsam, leise, ruhig und kalt. Die dumme scheinbeherrschte Menge preist das hoch. Der Langsame ist ihr bedächtig, der Leise bescheiden, der Ruhige gerecht und der Kalte vernünftig. Aber es ist alles anders. Der Mutige ist laut, der Gerechte eifrig, der Mitleidige bewegt, der Entschiedene schnell. Wer auf dem schwanken Seile der Lüge tanzt, braucht die Balancierstange der Überlegung; doch wer auf dem festen Boden der Wahrheit wandelt, mißt nicht ängstlich seine Schritte ab und schweift mit seinen Gedanken nach Lust umher. Seht euch vor mit allen, die so ruhig und sicher sprechen! Sie sind ruhig aus Unruhe, scheinen sicher, weil sie sich unsicher fühlen. Glaubet dem Zweifelnden und zweifelt, wenn man Glauben gebietet. Goethes Lehrstil beleidigt jeden freien Mann. Unter allem, was er spricht, steht: tel est notre plaisir; Goethe ist anmaßend oder ein Pedant, vielleicht beides.

Goethes Gedanken sind alle ummauert und befestigt. Er selbst will, sein Leser kann nicht mehr hinaus, sobald er in sie eingedrungen. Das Tor schließt sich hinter ihm, er ist gefangen. Goethe, weil er beschränkt ist, beschränkt. Das Umflattern der Phantasie, der eigenen wie der fremden, belästigt ihn; er stutzt sie, und der flügellahme Leser preist einen Dichter hoch, zu dem er sich nicht zu erheben braucht, weil er so gütig ist, auf gleichem Boden mit ihm zu stehen.

Goethe verbietet, ja selbst dem Eigenwilligsten verhindert er das Selbstdenken. Und sage man nicht: es geschieht, weil er den Gegenstand bis auf den Grund ausschöpft, weil er der Wahrheit höchste Spitze erreicht. Der menschenliebende, gottverwandte Dichter entführt uns der Schwerkraft der Erde, trägt uns auf seine feurigen Flügel hinauf bis in den Kreis des Himmels, dann senkt er sich, auch seine andern Kinder zu heben; uns aber zieht die Sonne an. Sinken wir mit dem Dichter zurück, so ist es, weil er den irdischen Dunstkreis nicht verließ. Der wahre Dichter schafft seinen Leser zum Gedichte, das ihn selbst überflügelt. Wer nicht dieses vermag, dem ist nichts gelungen. Ein Gesell zieht er Gesellen an; aber er ist kein Meister und bildet keinen.


 << zurück weiter >>