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Der Eßkünstler

Nur drei Tage wurde ich in Wien verkannt, daher ich mich glücklicher schätzen darf, als viele andere. Nämlich der heiligen Allianz meiner Tischgenossenschaft, welche ihren Zweck, gemeinschaftlich zu verschlingen, gar nicht zu beschönigen suchte, drohte Zweitracht; denn sie konnte nicht einig darüber werden, ob ich verliebt sei, oder ein tiefsinniger Gelehrter, oder ein Narr, oder taubstumm, oder ein langweiliger und trockener Mensch. Allerdings hatte jede dieser Meinungen Gründe für sich. Ich aß wenig, sprach nichts, hörte auf keine Anrede . . . bald war ich düster, bald lachte ich laut auf . . . ich schnitt mehrere Gesichter, mein Blick war starr auf diesen oder jenen Punkt gerichtet, und nicht selten fuhr ich mit der Hand über die Stirne, gleich unseren artigen jungen Herren, die, wenn plötzlich Frauenzimmer in die Stube treten, sich aus dem Stegreife frisieren und ihre Locken in eine liebliche Verwirrung bringen. Aber nach einer Woche klärte sich alles auf, und meine gewöhnliche Liebenswürdigkeit, das heißt meine sehr gewöhnliche, kehrte zurück. Die Sache verhält sich wie folgt:

Mir gegenüber saß ein Mann, an dessen Rocke von unaussprechlicher Farbe eine seltene Seltenheit der Knöpfe meine Aufmerksamkeit anzog. Auf drei Quadratschuh Tuch kam nicht mehr als ein einziger Knopf – eine Bevölkerung, die zwar, wenn von den Menschen die Rede wäre, zu den großen gehörte, denn sie überträfe selbst die von Malta, die aber, da es sich um Knöpfe handelt, von einer Sparsamkeit ohne Beispiel ist. Ich schloß aus Gründen der Anthropologie, daß ein Mensch von so eigentümlicher Physiognomie ein ausgezeichneter Mensch sein müsse, und ich irrte mich nicht. Ich entdeckte bald in ihm einen höchst vortrefflichen Eßkünstler, der mit seinen herrlichen Gaben auch die Tugend der Uneigennützigkeit verband, indem er acht Tage hintereinander in seiner Kunst unentgeltlich öffentliche Vorstellungen gab.

Man wird mir beistimmen, wenn ich behaupte, daß die meisten Menschen wie das Vieh essen, ohne klares Bewußtsein, ohne Überlegung, ohne Regel, und ohne jene Anmut, welche nur die verschönernde Kunst über die Natur haucht. Was ich nur immer dunkel geahnet hatte, daß das Essen etwas viel Erhabeneres bezwecke, als die Befriedigung eines bloß tierischen Triebes, wurde mir klar durch die Anschauung der Meisterschaft, welche der würdige Künstler, von dem ich reden will, vor meinen Augen entfaltete.

Andere Konzertgeber warten gewöhnlich, bis sich das Orchester versammelt hat und das Stimmen zu Ende ist; dann erst treten sie hervor. Unser Künstler aber verschmähte den kleinlichen Kunstgriff, durch Überraschung zu wirken. Im Gegenteil, er war eine halbe Stunde früher als die übrigen Gäste im Speisesaal, so daß die Kellner oft irre wurden und fragten, was er befehle, denn sie glaubten, er suche ein Gabelfrühstück. Diese Einsamkeit benutzte er als ein Mann, dem seine Kunst heilig ist und der sie nicht bloß zum schnöden Zeitvertreibe der Menge übt. Er unterwarf sein Gedeck einer höchst genauen Musterung; die Teller und das Glas wurden nachgesäubert; er untersuchte das Messer, ob es keine Scharten habe, in welchem Falle er es mit einem anderen vertauschte. Am meisten aber war er auf die Elastizität des Stuhles bedacht, wohl erwägend, wie viel auf diesen Resonanzboden des Eßinstrumentes ankäme. Darauf maß er sich mit seinen Ellenbogen einen freien Umkreis ab, indem er die Stühle auf beiden Seiten zusammenrückte, so daß man sich später wunderte, wie ein Mann, der für sechs essen mochte, doch nur für zwei Personen saß. War dieses alles geschehen und es blieb ihm noch Zeit übrig, so präludierte er, indem er sich ein Glas Wein aus den gemeinschaftlichen Beiträgen der benachbarten Flaschen sammelte und dazu ein Milchbrot mit etwas Gurkensalat genoß. So konnte er von seinem sichern Hafen aus mit Ruhe auf den Sturm der heranwogenden Gäste schauen, und durfte sich, während die andern verwirrt ihre Plätze suchten und hungrig der Suppe entgegenseufzten, der Früchte seiner weisen Vorsicht erfreuen.

Man kann sich nicht genug darüber wundern, wie es so viel tausend Menschen, die seit undenklichen Zeiten täglich in Gasthöfen speisen, entgehen konnte, daß der Gebrauch der Gabel einer der Gebräuche sei, welche die Wirte aus Spitzbüberei eingeführt haben. Bei nur einiger Aufmerksamkeit hätte man entdeckt, daß jenes Werkzeug weniger geeignet ist, die Speisen zu halten, als herab- und durchfallen zu lassen. Einen so hellsehenden Eßkünstler wie den unsrigen, konnte die heuchlerische Hilfsleistung der Gabel nicht betören, und er bediente sich ihrer nie, sondern gebrauchte bei allen Speisen den sichern und weitumfassenden Löffel, den er vor den räuberischen Händen der Kellner, die nach der Suppe alle Löffel wegräumten, dadurch sicherte, daß er Exerzitien und gymnastische Übungen mit ihm anstellte, so daß er nicht zu erhaschen war.

Die Völker germanischen Ursprungs leben alle in dem Wahne, als wären die verschiedenen Beiessen, von welchen das Rindfleisch begleitet zu werden pflegt, rote Rüben, Gurkensalat usw., nur zur Auswahl da: aber unser großer Künstler ging von dem Standpunkt aus, daß jene Beiessen Simultanspeisen wären, und die glückliche Anwendung seines Grundsatzes zeugte von dessen Richtigkeit. Meerrettich, geröstete Kartoffeln, die gewöhnliche braune Brühe, eingemachte Bohnen, Gurkensalat, Radieschen, rote Rüben, Rettichscheiben, Senf und Salz brachte er sämtlich auf seinen Teller und wußte sie durch eine weise Benutzung des Raumes dergestalt im Kreise zu ordnen, daß keines das andere berührte. Nur ein einziger Platz blieb leer, wie an Arthur's Tafelrunde, und war für das Beiessen bestimmt, welches er etwa übersehen haben und das noch kommen könnte.

Das Vorurteil, daß die Künste in monarchischen Staaten größere Aufmunterung fänden als in republikanischen, hat jenes andere Vorurteil veranlaßt, daß die meisten Künstler aristokratisch gesinnt wären. Bedarf es noch eines Beweises, daß diese Ansicht falsch sei, so hat ihn unser Eßkünstler gegeben. Seine Neigung für Freiheit und Gleichheit war so heftig, daß ihn der Vorzug, welchen er Frauenzimmer genießen sah, bei Tische mit Übergehen der Herren zuerst bedient zu werden, in die größte Wut versetzte, und er schwatzte nicht bloß für die Freiheit gleich den deutschen Liberalen, sondern er kämpfte auch für sie, indem er jeden Kellner, der ihn überspringen wollte, um die Schüssel einer Dame zu reichen, gewaltsam am Ärmel zurückhielt und ihn Achtung der Menschenrechte lehrte. Den Kellnern selbst kam diese Freiheitsliebe unseres Künstlers am meisten zustatten; denn da der Wirt die geringste Nachlässigkeit, welche jene sich gegen die Gäste zuschulden kommen ließen, streng bestrafte, so arbeitete der Eßkünstler solcher Tyrannei dadurch entgegen, daß er den Kellnern unaufhörlich zurief und zuwinkte, sie sollten ihn nicht vernachlässigen und an ihn denken.

Gemüse sind die Freuden des Eßpöbels und der Wirte; sie befriedigen das rohe Bedürfnis auf eine wohlfeile Art. Unser Künstler offenbarte seine Geringschätzung gegen dieselben hinlänglich, indem er bei keinem Gemüse lange verweilte, sondern von einem zum andern eilend, sich unter das Gefolge, die sogenannten Beilagen, mischte, wo er, wie dieses oft der Fall ist, größere Bildung fand als bei der Herrschaft. Einen neuen Hering, der noch sehr schüchtern war und dem man die Verlegenheit, vor so vielen Gästen zu erscheinen, ansah, munterte er auf und unterhielt sich so zutraulich mit ihm, daß dieser ein Leib und eine Seele mit ihm ward. Freilich murrten die Tischgenossen über diese Vernachlässigung des sogenannten Anstandes, aber unser Künstler lachte dazu und fragte einen österreichischen Grafen, ob nicht der älteste Hering auch einmal neu gewesen wäre? Vorzüge adeln, nicht Jahre – setzte er hinzu.

Tutti aß zwar unser Künstler auch mit, sich von andern Künstlern unterscheidend, die hierin eine lächerlich-vornehme Zurückhaltung zu beobachten pflegen; doch wie natürlich versparte er seine meiste Kraft auf die Solos. Wenn er nach einem Halte, in Kadenzen, die gewöhnlich eine Schüssel Apfelkompott als langatmiger Triller schloß, sich ganz seiner freien Phantasie überlassen durfte, dann wurde auch der kälteste Mensch zur Bewunderung hingerissen. Wie aber die Zeit, die während des Tellerwechselns und Auf- und Abtragens der Gerichte verlorengeht, benutzt werden könnte, zeigte unser Eßkünstler zur Beschämung aller Tischgenossen.

Ich weiß nicht, ob es ein passendes Gleichnis ist, wenn ich sage: Mehlspeisen sind die Adagios der Tischsymphonien; aber passend oder nicht, unser Künstler war hierin unerreichbar. Sobald die süße Schüssel auf der Schwelle der Saaltüre erschien, machte er ganz kleine Augen, um seine Sehkraft zu verstärken. Er hatte dieses optische Verfahren nicht aus Haller's Physiologie gelernt, sondern an mehreren europäischen Höfen, wo die Fürsten ihre Augen und Ohren bis auf eine kleine Öffnung verschließen, oder, was in der Berechnung auf eins herauskommt, wo sie nur wenige Höflinge sehen und anhören, um deutlicher zu vernehmen, was das Volk braucht und wünscht. Er machte also solche Hofaugen. Bis die Schüssel an seine Person kam, sprach er laut und viel, um gleich Frauenzimmern während eines Donnerwetters seine Angst zu betäuben. Er lachte mit sichtbarer Anstrengung. Endlich kam sie, und seine Brust ward frei. Er schnitt sich ein Stück von mittlerer Größe ab, das er, ehe er es aus der Schüssel nahm, einige Male darin herumdrehte, angeblich, es von allen Seiten zu beschauen, im Grunde aber, um es recht innig mit Sauce zu durchtränken. Dann überschüttete er es völlig, und wenn beim Schöpfen der Sauce noch etwas Solides im Löffel blieb, so war das schwer zu vermeiden.

Freilich fiel ihm dann immer bei, die anwesenden Engländer möchten seine Anhänglichkeit an das Kontinentalsystem übelnehmen, und um diese zu täuschen, goß er so lange Sauce in den Teller, bis kein Land mehr zu sehen war. Doch gelang ihm dieses nicht immer, und mehrere Male ragte ein Berg Ararat von Mandeln und Rosinen über der Flut empor. Während des Essens der Mehlspeise war er nachdenklich und in sich gekehrt und man sah ihn nicht selten schmerzhaft lächeln. War das erste Drittel der Pudding-Portion verzehrt (denn er teilte seine Speiseportionen von allen Gerichten in drei Teile ab, weil die Teller zu klein waren, die ganze Portion auf einmal zu fassen), dann ließ er sich zum zweitenmal die Schüssel reichen, was gerade nichts Besonderes war. Beim drittenmal gebrauchte er List und rief dem Kellner zu, er wolle nur noch ein bißchen Sauce. Hatte er ihn aber herbeigelockt, dann lachte er ihn aus und griff auch zum übrigen.

Nur deutsche Philister sind imstande, einen großen Mann zu bewundern, ohne ihn zu lieben. Daß große Männer auch immer gut sind, offenbarte unser Künstler in mehreren schönen Zügen. Nie schlug er eine Bitte unbedingt ab; konnte er sie nicht gewähren, so gab er wenigstens Hoffnung. Trug ihm der Kellner eine Schüssel vor, die er zurückweisen mußte, weil er zu beschäftigt war, sagte er: jetzt nicht, aber später, mein Freund! Ein rührender Zug seines sanften Herzens war folgender: eines Mittags wurde ihm zwischen dem Braten und dem Dessert noch einmal Suppe vorgesetzt, weil ihn der Kellner von hinten mit einem Gaste verwechselte, der eben erst in den Saal getreten und sich an den Tisch gesetzt hatte. Unser edler Künstler, um dem Kellner die Beschämung und die Vorwürfe des Wirtes zu ersparen, hatte die Großmut, die Suppe zu essen, als wäre sie für ihn bestimmt gewesen.

In allen Dingen war er ausgezeichnet. So teilte er die Unart der meisten Gäste nicht, welche die großen Krebse auswählten und die kleinen in der Schüssel liegen ließen – er nahm die kleinen auch . . . Der eingeführten lächerlichen Sitte, in eine Pastete von oben einzudringen, und so gleichsam in ein Haus durch das Dach zu steigen, trotzte er mutig. Er machte zweckmäßiger zwei Seitenöffnungen einander gegenüber. Durch die Vordertür steckte er den Löffel und trieb das Wild und Geflügel nach der Hintertüre, wo er es mit Leichtigkeit auffing . . . Die Geschicklichkeit, mit welcher er einen Rebhuhnkopf trepanierte, hatte ihresgleichen nicht . . . Einen Prachthecht von seltener Größe nahm er ungeteilt vor sich, so daß der Fisch nur mit dem Leibe seinen eigenen Teller bedeckte, mit dem Kopf aber über den Teller seines rechten, und mit dem Schwanze über den seines linken Nachbarn hinausreichte, welches ein imposanter Anblick war.

Man wird sich wundern zu hören, daß unser Künstler von den verschiedenen Bratensorten nur gewöhnlich viel aß, da allgemein bekannt ist, daß gerade diese Art Speisen bei wahren Kennern in großem Ansehen stehen. Aber der Meister betrat überall eine neue Bahn, und wie er selbst unnachahmlich war, so ahmte er auch niemals andere nach. Wie gesagt, er aß die Braten als Dilettant und benutzte die Muße, die er dadurch gewann, um sich auf das Dessert würdig vorzubereiten. Von diesem stellte er eine ganz neue Theorie auf, wodurch das bisherige System ganz über den Haufen geworfen wird. Ich werde mich bemühen, die neue Theorie unseres Künstlers in das klarste Licht zu setzen, und man wird erstaunen, daß die falsche Ansicht von Dessert sich so viele Jahrhunderte hat behaupten können.

Joseph in Ägypten, den meine Leser, wenn auch nicht aus der Bibel, doch gewiß aus Mehuls Oper kennen, war in den Jahren der Fruchtbarkeit auf die künftigen Jahre der Hungersnot bedacht und ließ, als guter Staatsverwalter, Vorratskammern anlegen. Ich weiß nicht, ob sich unser Künstler gegen eine Frau Potiphar so streng benommen hätte wie der keusche Joseph, aber in der Nationalökonomie blieb er hinter dem Sohne der Rahel nicht zurück. Auch ihn machte der Überfluß bei Tische nicht sorglos, er gedachte der sieben magern Nachmittagsstunden und traf seine Maßregeln. Ein glücklicher Umstand, der Brand von Moskau, trug viel dazu bei, ihn auf den Weg der Weisheit zu führen. Der Künstler hatte in den ewig denkwürdigen Jahren 1814 und 1815 für die gute Sache gefochten und aus dem glorreichen Freiheitskampfe die wahre Ansicht vom Dom zu Köln, das Hep Hep und die Sprachreinigkeit als Beute des Sieges mit in die Heimat gebracht. Er war es, der den Vorschlag gemacht, der Bundestag solle sich nicht eher versammeln, als bis der Dom zu Köln ausgebaut wäre, um dann darin Platz zu nehmen, und jeder wahre Freund des deutschen Vaterlandes muß bedauern, daß dieser Vorschlag nicht zur Ausführung kam und daß sich der Bundestag früher versammelte. Er war es, der die Judenverfolgung in Gang brachte, um Freiheit und Gleichheit einzuführen, und ihm hat man zu verdanken, daß die Sekte der Puristen sich so allgemein verbreitet hat. Er jagte alle französischen Wörter über den Rhein zurück, und selbst das sanfte Dessert konnte seinem Hasse nicht entgehen; er sagte dafür Nachtisch. Nachtisch! Möchte man doch immer der ursprünglichen Bedeutung der Wörter nachforschen, dann wäre es leicht, sich über die wahre Beschaffenheit aller Dinge zu verständigen! Was heißt Nachtisch? Nachtisch heißt dasjenige Essen, welches nicht bei Tische, sondern nach Tische verzehrt wird. Unser Künstler war nun nach dem zweiten Pariser Frieden gar nicht mehr zweifelhaft über das, was ihm als deutschem Manne zu tun oblag, er aß den Nachtisch nach Tische. Um aber die neue Institution so fester zu begründen, gab er ihr eine historische Basis. Er aß daher, gleich den übrigen Gästen, sein Dessert noch bei Tische, war dieses aber geschehen, so häufte er seinen Teller zum zweiten Male mit Kuchen und Früchten an und ließ dieses durch den Kellner auf sein Zimmer tragen, um es in den Nachmittagsstunden zu verspeisen.

Fehler wie Vorzüge, Laster wie Tugenden, Wahrheiten wie Irrtümer hängen unter sich zusammen und ziehen sich nach. Unser Künstler gab einen neuen Beweis hiervon. Kaum war ihm über die neue Bestimmung des Nachtisches ein Licht aufgegangen, so schritt er auf der Bahn der neuen Entdeckung weiter, bildete das System aus und wandte es noch auf andere Verhältnisse des Lebens an. Daß er, sich unterscheidend von den übrigen Gästen, seine Serviette unter dem Kinn festband, konnte mich nicht überraschen, denn von einem solchen Manne ließ sich nichts anderes erwarten, als daß er die alte Sitte, Weste und Beinkleider zu schonen, beibehalten werde. Daß er aber genannte Serviette, die während des Gedränges des Essens herabfiel, zur Zeit wenn das Dessert kam und die andern Gäste ihre Serviette zulegten, von neuem unter dem Kinn befestigte, mußte mir auffallen. Ich dachte gleich: dahinter steckt was – und es stak wirklich etwas dahinter, wie sich zeigen wird. Er spielte nämlich während der ganzen Mahlzeit, sooft es ihm seine Geschäfte erlaubten, mit der rechten Hand hinter der Serviette, zog sie aber häufig hervor und zeigte, daß sie hohl war. Hiedurch gewöhnte er die Zuschauer an diesen Anblick, so daß sie zuletzt gar nicht mehr darauf sahen. Kam nun das Dessert, dann nahm er ein großes Stück Brot vor sich, wovon er aber nur wenige Brosamen zu der Torte aß. Er ließ das Brotstück auf dem Tischtuche artige Purzelbäume machen, dann zog er das Schnupftuch aus der Tasche und bediente sich dessen mit vielem Geräusche. Er ahmte hierin glücklich die Taschenspieler nach, die, wenn sie einen großen Streich vorhaben, die Ohren der Zuschauer zu beschäftigen suchen. Ich paßte auf. Husch hatte er die rechte Hand mit dem Brote hinter der Serviette und von da brachte er es unbemerkt in die Tasche, worauf er dann das Schnupftuch wieder einsteckte. Auf dieselbe Art praktizierte er einige Birnen in die Tasche; jedoch hat man dieses letztere Stück schon von Pinetti gesehen. So wendete unser Künstler die Theorie des Nachtisches auch auf andere Lebensmittel an.

Ach, die menschliche Natur ist nie vollkommen! Die größten Männer haben ihre Schwächen und auch unser Künstler war nicht frei davon. Ich hatte gestern in einem Anfalle von übler Laune in mein Tagebuch geschrieben: »Und sei eine Frau noch so kluge Wirtschafterin, sie versteht nur die Küche; der Keller ist – um mich artig und architektonisch auszudrücken – unter ihrem Verstande.« Diese Bemerkung galt der Frau von Staël; aber treffender hätte ich sie auf unsern Eßkünstler anwenden können. Vom Weine hatte er gar keine Kenntnisse, und er trank nur wenige Gläser. Doch hielt er für diese einzige Schwäche durch seine Herzensgüte wieder schadlos, indem er, um zu verbergen, daß ihm der Wein nicht schmecke, was den Wirt hätte kränken können, den übriggelassenen zugleich mit dem Dessert auf sein Zimmer tragen ließ, wo er ihn wahrscheinlich heimlich ausschüttete.

Napoleon sagte nach seinem Rückzuge aus Rußland: »Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.« Die Kellner, welche unsern Eßkünstler bedienten, machten diesen Schritt und fanden dessen Kunstansichten lächerlich. Sie waren nicht allein wegen dieser ihrer Unwissenheit zu bedauern, sondern noch mehr darum, daß sie etwas lächerlich fanden und doch nicht lachen durften. Ich konnte ohne das innigste Mitleid nicht sehen, wie diese armen Menschen sich quälen mußten, um die Konvulsionen ihres Gesichtes zu verbergen und denjenigen Anstand zu beobachten, den jeder Gast von einem loyalen Kellner fordern kann.


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