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Honestus

Oskar, ein junger Schwede, lebte in Paris und übte die Malerkunst. Oskar war immer fröhlich, denn er war immer gut. Wohl tändelte er mit der Gefahr des Lasters, doch nie beschmutzte er sein Herz, und dann geschah, daß er den Verworfenen auf eine kurze Stunde den Schmerz und die Lust der Reue wiedergab, und über dämmernden Wangen flammte das düstere Abendrot der Tugend noch einmal auf. Oft stürmte Oskar zu seinen Freunden und rief: Kommt, Brüder! laßt uns trinken! Sie eilten in ein Zechhaus: duftende Speisen, köstliche Weine wurden aufgetragen; aber Oskar genoß mäßig aus der Schüssel und nippte nur am Glase – der Becher seines Lebens war mit glühendem, schäumendem Blute bis zum Rande voll, und jeder Tropfen hinzugegossen machte ihn überströmen.

Eines Tages eilte Oskar zur italienischen Oper, Mozart's Don Giovanni zu sehen. Das Haus war noch geschlossen, und die wartende Menge war groß. Oskar mischte sich in das Gedränge und zog einen Taler aus der Tasche, um, wenn die Kasse geöffnet würde, gleich bereit zu sein. Es stieß ihn einer an, das Geldstück entfiel seinen Händen und rollte weit über die Gasse weg. Er suchte es vergebens mit den Augen. Da hinkte ein alter Bettler auf Krücken zu ihm heran und überreichte ihm das verlorene Geldstück.

– Behaltet es, ehrlicher Alter – sprach Oskar – für Eure Mühe.

– Meine Mühe war klein, erwiderte dieser; es ist zuviel.

– Nicht für mich, erwiderte Oskar. Doch er war nicht reich, und schnell eilte er fort, daß ihn keiner der Umstehenden über der List seines Herzens ertappe.

Oskar wohnte in einem weit entfernten Teile der Stadt, und mit starken Schritten kehrte er nach Hause zurück. Als er dort ankam, sah er den alten Bettler vor der Türe stehen, der ihm entgegenrief: Ihr seid sehr schnell, junger Herr!

– Und Ihr noch schneller! erwiderte Oskar.

– Was mich betrifft, ich bin nicht zu Fuße gegangen, ich bin gefahren.

Oskar sah ihn verwundert an . . . doch – sagte er – wohl bekomm Euch, Alter, die Bequemlichkeit! Er wollte in sein Haus treten, der Alte hielt ihm die Krücke vor.

– Ihr müßt nicht so schnell von mir eilen, Ihr dürft nicht schlimm von mir denken, daß ich mir von Eurer Wohltat habe etwas zugute getan. Glaubt Ihr, betteln sei leicht? Versucht es einmal. Geben ist schwer, nehmen ist noch schwerer, aber am schwersten ist fordern. Oft wenn ich einem reichen Lüstling, dem ich mit dieser Krücke den hohlen Schädel einschlagen möchte, Schmeichelworte geben muß: dann fühle ich, welch' eine saure Mühe das Betteln ist! Gestern sah ich in der Abenddämmerung einen Mann, in seinen Mantel gehüllt, aus dem Hause eines ehrlichen Bürgers kommen, dessen Tochter er verführt. N'oubliez – pas le garçon! flüsterte ich ihm zu, und streckte ihm meine offene Hand entgegen. Der Bösewicht lachte und gab mir ein Goldstück. Ach, das Betteln ist schwer! Wie manchmal habe ich mir schon vorgenommen, es mir in meinen alten Tagen bequemer zu machen, zu arbeiten und nicht mehr zu betteln; aber die Gewohnheit ist eine verführerische Gebieterin; auch die Qual des Kerkers vermag sie in verzärtelnde Lust umzuwandeln.

Oskar stand mit verschränkten Armen vor dem Bettler.

– Ihr sprecht sehr klug, Alter; Ihr habt Euch gut geübt. Nun, schlaft wohl!

– Nein, junger Herr, Ihr sollt noch nicht gehen. Ihr habt Euch einen Zeitvertreib machen wollen und habt Euer Vergnügen mir aufgeopfert. Der Abend ist lang, kommt mit mir; ich will Euch schöne Geschichten erzählen. Seht Ihr dort das Haus mit dem Schilde: au gagne petit? Dort wohne ich.

– Ich sehe das Schild, sprach Oskar, aber nicht, was Ihr im Schilde führt!

– Wie, junger Herr, Ihr werdet mich doch nicht fürchten? Seht Ihr nicht selbst, wie alt und schwach ich bin?

– Weil Ihr alt und schwach seid, darum fürchte ich Euch; ich dürfte ja meine Stärke nicht gebrauchen.

Der Alte faßte den Jüngling bei der Hand, zog ihn fort bis an sein Haus, dessen Türe sich nach einem leichten Schlage öffnete. Sie stiegen eine Treppe hinauf, der Alte zündete Licht an, und Oskar sah sich mit Verwunderung in einem freundlichen Zimmer, das mit allen Bedürfnissen wohlhabender Leute versehen war.

– Sie haben es gut, armer Herr, sagte Oskar.

– So, so! erwiderte der Bettler. Aber nicht gestohlen, alles ehrlich zusammengebettelt, und nebenbei – setzte er leise und lächelnd hinzu – zaubere ich auch etwas.

– Wahrhaftig? fragte Oskar lachend. Ei, laßt mich doch von Euren Zauberkünsten einiges sehen.

– Ist es Euer Ernst, junger Herr! Wollt Ihr Beweise? Traut Ihr Euren Sinnen?

– Nein! rief der Jüngling mit Hast! Ich traue meinen Sinnen nicht, sie betrügen, denn sie werden betrogen; sucht Euch einen andern für Eure Gaukelkünste!

– Nun, nun, seid nur nicht gleich so wild, junger Herr. Aber ein Gläschen müßt ihr mit mir trinken.

Der Alte ging hinaus und kam bald mit drei Flaschen Wein zurück.

– Ihr habt es gut vor, Alter! sprach Oskar.

– Nicht für mich, ich trinke niemals Wein. Sie sind alle für Euch, und vielleicht reichen sie nicht; doch ich habe noch mehr.

Der Alte schenkte ein. Oskar's Blicke waren festgebannt auf das Glas. Wie geschmolzenes Gold glänzte der Wein, und in jedem Tropfen perlte, blinkte und lockte ein schönes Mädchenauge. Oskar leerte das Glas, der Bettler füllte es wieder. Immer rascher trank Oskar, immer schneller füllte der Alte. Des Jünglings Blut stürzte wütend durch die Adern, sein Herz pochte laut, seine Lippen bebten.

– Graukopf, dein Wein ist gut!

– Nicht wahr, mein Bübchen? Er ist am Indus gekocht, und ich habe noch bessern.

– Her damit, lustiger Krüppel!

– Geduld noch ein Weilchen, ich will dir erst meine schönen Sachen zeigen.

Ein Vorhang rauschte empor, und über den taumelnden Oskar wölbte sich ein kristallener Saal, der im Widerschein tausend unsichtbarer Kerzen leuchtete. Was der dunkle Schoß der Erde an Schätzen verbirgt, was des Menschen kunstreiche Hand nur Herrliches bildet, vereinigte der Saal in Pracht und Fülle. Gold, Silber und Edelsteine bedeckten den Boden; tausend Kleinodien und Gefäße standen umher; an den Wänden hingen blinkende Waffen aller Art, und hundert Vögel zwitscherten und sangen und hüpften auf goldenen Stäben hin und her. Oskar war in Entzücken getaucht; bald zog ein neuer Glanz seine dürstenden Blicke an, bald senkten sich die trunkenen müde zur Erde hinab. Da rief eine heisere Stimme: nimm mich, nimm mich! Oskar sah hin, und gewahrte einen Star, von dessen Halse an einem seidenen Bande ein goldenes Dreieck herabhing. Ein Diamant, ein Saphir und ein Rubin schmückten die Spitzen des Dreiecks. Mit unwiderstehlicher Gewalt zog dieses Kleinod Oskar's Blicke an. Nimm mich, nimm mich! rief der Star.

– Alter! sprach Oskar, dieses Dreieck müßt Ihr mir geben.

– Ihr seid nicht dumm, Herr; damit bezahle ich drei Königreiche.

– Guter Alter, laßt mir das Dreieck; Ihr habt ja so viele.

– Nein, Herr, wählt Euch, was Ihr wollt, nur dieses nicht.

Nimm mich! nimm mich! rief immer heiserer der Star. Oskar streckte seine Hand nach dem Dreieck aus; der Alte hielt ihn ab. Oskar stieß ihn zurück; der Alte hob drohend seine Krücke auf. Der Jüngling stürzte den Greis zu Boden, der mit seiner letzten Kraft sich sträubte.

Nimm mich! nimm mich! kreischte der Star. Da zischte der Strahl eines blinkenden Dolches in Oskar's Auge. Er riß den Dolch von der Wand, zückte ihn, und stieß ihn dem Alten in die Brust, der ohne Laut leblos zu Boden sank.

Nimm mich! nimm mich! rief der Star schneller und schneller. Oskar löste das Dreieck vom Bande und suchte den Ausgang. Da fingen alle Vögel zu rufen an: Nimm mich auch! nimm mich auch! Oskar sah zurück und begegnete den gebrochenen Augen des Greises. Da rieselte Entsetzen von den Gliedern des Jünglings; Todesblässe bedeckte ihn, seine Knie schlotterten und brachen zusammen. Mörder! Mörder! heulten tausend Stimmen von der Decke herab. Verzweiflung ergriff Oskar; er zog den Dolch aus der Brust des Toten und zückte nach seinem eigenen Herzen. Er fühlte seinen Arm zurückgehalten. Der Greis stand vor ihm, aber ohne Krücken. Ein schneeweißes Gewand floß von seinen Schultern, ein langer Bart wallte über seine Brust herab!

– Oskar! sprach er lächelnd, deinen Sinnen wolltest du nicht trauen, doch deinem Herzen trautest du wohl? Edler Jüngling, du hast dich berauscht, du hast geraubt, du hast gemordet – glaubst du nun, daß ich zaubern kann?

Oskar, von Beschämung und Ehrfurcht niedergedrückt, sank zu den Füßen des Alten. – Vergib, mein Vater!

– Stehe auf, mein Sohn! du hast nichts begangen; nur im Traume warst du ein Missetäter.

– O mein Vater, zaubere diesen Glanz vor meinen Blicken weg, der mir die schauerlichen Abgründe meines Herzens zeigte!

Der Alte winkte, der Saal verschwand, und Oskar sah sich wieder im freundlichen Zimmer. Aber das Dreieck, das ihn verführt, lag vor seinen Augen auf dem Tische.

– Bann auch dieses weg! flehte Oskar.

Der Alte berührte es, und das Dreieck verwandelte sich in einen Blumenstrauß. Der Diamant wurde zur Lilie, der Saphir zum Veilchen, der Rubin zur Tulpe.

– Nimm diese Blumen, Oskar, sprach der Greis. Unschuld ist die Lilie, Demut das Veilchen, Gesundheit die Tulpe. Warte die Tulpe nur; so lange sie blüht, blühen auch die anderen. Gesundheit ist das Gefäß jeder Tugend; mangelt dir dieses, kannst du keine fassen. Erfahre jetzt, mein Sohn, wer ich bin. Geister, die mich begreifen, nennen mich den Zauberer Honestus; gewöhnlichen Menschen bin ich auch ein gewöhnlicher Mensch. Schon zweitausend Jahre wandle ich über der Erde und suche die Tugend. Ich habe sie oft gefunden, aber weit von ihr das Glück. Und das schmerzte mich in der tiefsten Seele, und mich verdroß der Hohn der Schlechtern, welche die Tugend eine Bettlerin schalten. Da wurdest du unter einem schönen Gestirne geboren, und ich wachte über deine Tage und deine Wege. Du bist gut, Oskar, und du bist froh und glücklich. Meine Zauberkraft kann dir nicht mehr verleihen; aber kleiden will ich deine Tugend, deinem Glücke auch den Schein geben, damit die Guten ermuntert und die Spötter gedemütigt werden. Nimm diese Pergamente, Oskar, Weisheit steht auf dem einen geschrieben, Reichtum auf dem andern, Macht auf dem dritten. Eines darfst du wählen; die übrigen wirf von dir.

Oskar's lustzitternde Hand faßte die Pergamente, und das Herz schwoll ihm von dem Gefühle, über der Güter Fülle frei schalten zu dürfen. Die Weisheit zog er zuerst hervor, und schon zuckte seine Hand, die andern Pergamente wegzuwerfen, da hielt ihn der gute Geist zurück, und er besann sich.

– Ist Weisheit begehren nicht auch eine Habsucht, die an Sättigung stirbt oder an Hunger kränkelt? Wird sie mich glücklicher machen? Die wenigen Strahlen, die mir mehr geworden als andern, haben mir Abgründe aufgedeckt, wo andere Blumengärten sahen. Soll ich den kleinen Kreis meiner Freunde noch enger machen? Soll ich die Zahl derer, die ich liebe, noch vermindern? Soll ich verachten lernen, die ich geachtet? Bin ich nicht schon einsam genug? Nein! Weisheit ist ein tückisches Geschenk erzürnter Götter. Fort von mir! Oskar warf die Weisheit von sich weg. Honestus drückte gerührt den Jüngling an seine Brust, und sprach zu ihm: den schwersten Kampf hast du bestanden, mein Sohn, und ich zittere nicht mehr für deine Wahl.

Jetzt nahm Oskar den Reichtum, lächelte und ließ ihn gelassen zu seinen Füßen fallen. Die Macht blieb ihm noch. Eine Welt beherrschen! Millionen Menschen beglücken! Millionen Herzen sich gewinnen! Die Guten belohnen, die Bösen züchtigen! Ja, schön ist die Macht, schön wie eine Rose. Doch ihre Dornen! Und unter der Rose lauscht die Schlange Schmeichelei. Wer noch hat das Szepter geführt? es führt die Hand. Ich vermag nicht besser zu sein als andere; nur eins vermag ich mehr – die Krone verschmähen . . . und Oskar warf die Krone weg.

– Ich danke dir, mein Vater, ich bin zufrieden, ich habe keinen Wunsch.

Der Greis sprach streng und ernst zum Jüngling: wie, Oskar? Bist du glücklich, daß du es bist? Bist du zufrieden, daß du nichts wünschest? Ist Oskar allein auf dieser Erde?

Der Jüngling errötete. Und sie kamen alle herbei, die seinem Herzen teuer waren. Sein Vater und seine Mutter zuerst, dann Bruder und Schwester, dann die Freundin, dann der Freund; zu diesem gesellte sich ein anderer und noch einer. Und immer größer war die Schar, und immer höher schwoll dem Jüngling das Herz, und immer weiter ward seine Brust, bis sie die ganze Menschheit umschloß.

– Was wählst du für andere? fragte Honestus.

O mein Vater, ich kann nicht wählen, mach alle Menschen glücklich!

Honestus lächelte. Was du begehrst, Oskar, kann ich nicht gewähren: nur die Tugend macht glücklich.

Oskar sank zu den Füßen des Greises und hob flehend seine Hände auf. So mache sie tugendhaft, daß sie glücklich werden! Mache die Menschen alle gut, mache sie alle glücklich!

Honestus erbleichte und sprach mit leiser, bebender Stimme: fordere das nicht, mein Sohn! Ich darf es dir nicht versagen, doch fordere es nicht! Sünde ist Fäulnis, und Fäulnis ist die Quelle des Lebens.

Aber Oskar, im Rausche seiner Menschenliebe, vernahm die Worte des Greises nicht. Er umklammerte seine Knie und flehte unter heißen Tränen: o mächtiger Vater, gib den Menschen die Tugend, gib ihnen das Glück.

– Fordere es dreimal, Oskar!

Und dreimal wiederholte der Jüngling seine Bitte.

– Es sei! Bald schlägt die Stunde der Mitternacht; in diese Spalte der Zeit muß ich greifen, die Natur von ihrem Gefolge zu trennen, daß ich ihrer Herr werde. Ermanne dich, Oskar!

Die Mitternachtsstunde schlug. Honestus streckte seinen Zauberstab nach Ost und West und Nord und Süd und sprach geheimnisvolle Worte. Von dem Himmel herab säuselten süße Harfentöne; von der Erde herauf schallte ein gräßliches Gelächter. Oskar, zwischen Entzücken und Entsetzen geklemmt, fragte: woher das fürchterliche Lachen?

– Still, mein Sohn! erwiderte der Greis mit leiser Stimme, das ist der Geist der Schadenfreude, reiz' ihn nicht, über diesen habe ich keine Gewalt. Komm in's Freie, daß wir unser Werk betrachten.

Sie traten hinaus; es war eine stille, feierliche Nacht, und Oskar trug den frommen Blick zum gestirnten Himmel empor. Gerührt sprach der Greis: labe dich noch einmal an dieser süßen Nacht; sie ist die letzte dieser Erde. Nacht ist Sünde, und die Sonne wird nie mehr untergehen.

Sie kamen in eine düstere Gasse und sahen eine Leiter an einem Hause gelehnt und einen Mann hinaufsteigen, der sich schüchtern umsah. Lässest du es geschehen? fragte Oskar, vielleicht mordet er den sorglosen Schläfer.

– Sei ruhig, mein Sohn. Der Diebstahl war schon vollbracht, die Mitternachtsstunde gab dem Bösewicht die Tugend zurück, und er bringt das gestohlene Gut wieder hinauf.

Honestus ging mit dem frohen Jüngling weiter; überall eindringend, alles sehend, nirgends sichtbar.

– Welche Stimmen sind es, die dort weinen in jenem großen Gebäude?

– Es sind Räuber und Mörder im Gefängnisse; sie beten.

Sie traten in ein Zimmer, das eine Nachtlampe erleuchtete. Ein schönes Weib lag mit aufgelösten Haaren auf den Knien vor der Wiege ihres Kindes und küßte das schlummernde Kind und weinte über ihm. Unter der Türe stand ein Mann, der streckte errötend seine Hand nach dem Weibe aus, und die Mutter bedeckte ihre Augen.

– Wer sind diese, Honestus?

– Dort der Mann ist der Verführer, der um die Stunde gekommen, zu der ihn das Weib seines Freundes gerufen. Mein Zauberstab war schnell; die Reue eilte der Schuld voraus, die Mutter bittet dem Kinde das Verbrechen ab, das sie am Vater begangen, und der Verführer scheidet weinend von der schönen Sünde.

Sie kamen auf einen großen Platz, den viele Bäume zierten. Und rings aus allen Häusern stürzten Tausende von Menschen; und Soldaten eilten herbei, Fußgänger und Reiter, und Fahnen wehten, Trommeln wurden gerührt, Kanonen wurden aufgepflanzt und Waffengetöse, Geschrei und Verwirrung überall.

– Was ist geschehen? fragte Oskar.

– Die aus den Häusern dort kamen, das sind Spieler, Gauner, Liederliche und Späher, die der Zauber der Tugend aus ihrer Verborgenheit gescheucht; und die Macht, der Tugend ungewohnt und vor ihr zitternd, hat ihre Scharen ausgesendet, dem Übermute zu begegnen.

Der Morgen war herangebrochen, aber die nächtliche Stille blieb. Kein Karren rasselte über die Gasse, kein Bauer schrie, kein Hammerschlag ertönte, und der Markt blieb leer.

– Warum diese Stille, Honestus?

– Die Menschen haben keine falschen Begierden mehr, sie sind genügsam und ruhen.

Vor dem Hause eines Bäckers standen jammernde Menschen, die vergebens um Geld Brot verlangten. Das Brot war all schon unentgeltlich an Notleidende verteilt. Hundert Leichen lagen auf der Straße.

– Wer sind diese Unglücklichen, Honestus?

– Das sind Spione, die lieber Hunger starben, als sich länger mit Schande füttern wollten.

Sie kamen vor den Palast des Königs, der nicht bewacht war. Der König fürchtete keinen mehr, seit ihn keiner mehr fürchtete. Sie traten in den Vorsaal, wo sich die Höflinge versammelten, und sie sahen nasse Augen. Ein Greis warf sich jammernd zu den Füßen eines Jünglings und sprach: vergib mir, ich habe dich verleumdet! Sie traten in den Königssaal. Der König saß auf seinem Throne, und ein Weib stürzte kreischend durch die Menge, warf sich nieder und rief: halte dein Schwert zurück, er ist unschuldig! Und des Königs Vertrauter erbleichte und sprach: ich auch, o Herr, habe dich betrogen. Und der König stieg weinend von seinem Throne herab.

Honestus und der erschütterte Oskar eilten aus dem Palaste. Sie gingen den Strom entlang; da stießen sie auf die Leiche eines jungen Mädchens. Oskar wandte sein bleiches Antlitz weg.

– Die Unglückliche! sprach Honestus. Die geflüchtete Nacht hat ihre Unschuld geraubt, und verzweifelt über den Verlust ihrer schönsten Habe suchte sie den Tod in den Wellen.

Sie kamen zur Brücke. Dort stand ein hoher, bleicher Jüngling, warf den Blick bald in den Himmel, bald in die Flut. Und er war so jammervoll; doch sein Auge war trocken. Oskar fühlte sich mächtig zu dem Jüngling hingezogen.

– Fort, fort! schrie Honestus mit der Stimme des Entsetzens, und weine, Oskar, daß du ein Mensch geworden!

– O weile, mein Vater; sprich, wer ist dieser leidende Jüngling?

– Tritt näher, Oskar! Sieh diese Wangen, wie bleich sie sind! Einst hatte er sie purpurrot, und sie wurden nur blaß, wenn er von Unterdrückung hörte. Sieh diese Arme, wie mager und schlaff sie sind! Einst waren sie stark und gestählt, für Freiheit und Recht zu kämpfen. Schaudere in dieses ausgebrannte Auge hinab! Einst leuchtete es, vom Himmel angezündet, das Herz eines frommen Mädchens zu durchglühen. Ach, er war so fest und gut; aber wer ist dem Verführer zu fest und zu gut? Die schlauen Werber der Macht kamen hinter ihn, ihn zu verderben. Was im schuldlosen Spiele Schädliches, was im Weine Betäubendes, was in der Liebe Giftiges ist, mischten sie in seine gesunde Seele. Da gab er sich hin um schnödes Gold und um schnöden Ehrenflitter. Sie führten ihn von Scherz zu Leichtsinn, von Leichtsinn zur Falschheit, von Falschheit zu Verbrechen. Dieses Ohr, sonst nur der Stimme der Tugend geöffnet, schlich diebisch umher, ein unbewachtes Wort zu erhorchen. Dieses Auge, sonst nur Liebesblicke wechselnd, suchte die dunkeln Wege des Vertrauens und meuchelmordete die Sorglosen. Diese Zunge, die sonst nur Liebe und Freundschaft sang, ward eine Natter und stach. Da verriet er den treuen Freund, der gestern auf dem Blutgerüste starb. Des Betörten letzter Kuß empfing der Verräter, und: räche mich! lispelte der Verurteilte ihm in's Ohr. Der Teufel sah ihm hohnlächelnd nach und schwelgte am Abende vom Lohne seiner Sünde. Da kam die furchtbare Mitternacht über ihn, die Mitternacht, die ich, Oskar, deiner Bitte geschenkt. Ein fürchterlicher Traum jagte ihn aus dem Schlummer . . . Ich räche dich! schrie er in Verzweiflung und stürzte zur Brücke. Seit Mitternacht sucht der Jammervolle den Tod in den Wellen, fürchtet, ihn zu finden, und sucht ihn wieder.

Der blasse Jüngling sah jetzt starrer hinab in die Flut.

– Halt ihn zurück, Honestus, rief der schaudernde Oskar; es ist zu fürchterlich, mit solcher Schuld vor den Richter zu treten.

– Oskar! sprach der Zauberer, hier endet meine Macht. Die Sünde ist von ihm gewichen, die Reue ist zu ihm gekommen; was er verschuldet, will er büßen.

Oskar stürzte jammernd vor dem Zauberer nieder. So gib ihm die Sünde zurück und nimm ihm die Reue! Gib den Menschen allen ihre Begierden wieder! Gib ihnen ihre Laster zurück! Gib allen Menschen alle ihre Sünden wieder!

Er erwachte .. . sie hatten sie wieder.


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