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Es war am 27. Januar, als ein Frühstück bei Bismarck hergerichtet wurde. »Jules Favre also zum zweiten Male! Unwiderruflich letztes Auftreten!« scherzte er vor seinem Kreise. »Er bringt Trochus Ordonnanzoffizier Comte d'Hérisson mit, ferner einen alten General, der etwas verdreht sich benimmt, und dessen Adjutanten. Wir werden etwas Theatralik haben.«
»Der fremde Herr mit den Generalsepauletten, den ich herzuführen die Ehre hatte,« rapportierte Leutnant Usler vom Examinierkorps, »scheint ohnehin nicht recht bei Troste und ist jetzt ganz rappelig. Er hat sich bei unseren Vorposten festgekneipt, dort sei es so gemütlich, er wolle bei Kameraden bleiben, nicht von dem listigen Satan Bismarck sich die Würmer aus der Nase holen lassen. Als wir ihn wieder in die Kutsche packten, drohte er mit der Faust und schwadronierte.«
»Ist er betrunken, werde ich ihn an die frische Luft befördern, doch ein bißchen Bezechtheit kommt in den besten Familien vor«, entschuldigte Otto mit kameradschaftlichem Mitgefühl. General Beaufort d'Hautpoul pflanzte sich sogleich kriegerisch vor ihm auf: »Ich erkläre, ich bin wider Willen hier, Befehlen gehorsam. Ich möchte lieber mit Preußen Schüsse statt Worte wechseln.« Unter dem kalten Blick des Riesen wurde er anständiger: »Ich schätze mich glücklich, den großen Grafen Bismarck zu sprechen und General Moltke wiederzusehen, den ich einst auf Militärmission in der Türkei traf.«
Gereizt durch die Unziemlichkeit des Untergebenen, den Beginn der Unterredung an sich zu reißen, unterbrach Minister Favre den Geschwätzigen: »Wir haben viel zu tun und möchten die Verhandlung gleich eröffnen.«
»Bezüglich Waffenstillstand bin ich inkompetent. Der König befahl Moltke mittags zu sich, er ist vor zwei Stunden nicht hier, hoffentlich teilen Sie einen Imbiß mit mir.«
Hautpoul fühlte sich zu jeder Schandtat fähig, sogar dem Preußen um den Hals zu fallen, zum Dejeunieren war er stets bereit.
Die französischen Abgesandten setzten sich beim Sieger zu Tische. General d'Hautpoul schnitt Grimassen, als könne er den Anblick nicht ertragen. Seine Gesichtsverzerrung drückte pantomimisch aus, daß er um zehn Jahre plötzlich gealtert sein wolle, seine rotunterlaufenen Augen machten darauf gefaßt, daß ihm heiße Tränen in sie treten würden, wenn ein Elender es wage, einen Zoll des geheiligten altfranzösischen Rheinbodens zu beanspruchen. Schweigend saß er da und rührte keinen Bissen an, um anzudeuten, daß ihm die Kehle zugeschnürt sei. Dagegen trank er sich eins und fluchte dazwischen wie ein Landsknecht. »Ich, französischer General ...« stieß er hervor und schwieg. »Ist Ihnen nicht wohl, mein General?« erkundigte sich der Kanzler und bemühte sich um ihn, denn er empfand Mitgefühl mit dem offenbar Leidenden trotz dessen pathetischer Übertreibung. Doch auf die höflichste Rücksicht wußte der Franzose keine würdigere Antwort als schroffe Einsilbigkeit und mürrische Gebärden. Auch als ihm, einem passionierten Raucher, sein Wirt zum Kaffee eine echte Regalia vorsetzte, besänftigte ihn dies wenig. Soeben hörte er, wie zwei anwesende preußische Leutnants seinem Adjutanten Calvel darlegten, daß in der Schlacht am Valérien nur fünfundvierzigtausend Preußen fochten, und dann Graf Hatzfeld und die Leutnants mit Calvel freundlich anstießen. Da brach er ohne jede Veranlassung los, sein rotes versoffenes Antlitz heroisch vorstreckend:
»Sie können von Glück sagen, daß wir hierher kommen, um zu verhandeln, denn meine Moblots und Nationalgarden sind heut echte Soldaten geworden, und ginge es nach meinem Sinn, würden Sie hier nicht so ruhig dinieren, sondern samt Ihrem Diner weit genug entfernt werden.«
Ein Engel flog durchs Zimmer, und wenn Hérisson nachher die schöne Phrase vom Engel des Patriotismus beschwor, so nannte es der Kanzler richtiger den Genius französischer Ungezogenheit ohne Erziehung und Lebensart, Hautpoul war aufgesprungen und trommelte aufgeregt mit zitternden Fingern auf die Fensterscheiben. Otto hob die Tafel auf und warf über die Achsel hin: »Beabsichtigen Sie, den Herrn wieder mitzubringen, so heißt das so viel, als die Verhandlung abbrechen.«
»Ich bitte sehr um Entschuldigung«, stammelte Favre. »Der General ist seiner schmerzlichen Pflicht nicht gewachsen. Ich werde einen anderen militärischen Bevollmächtigten auswählen.« –
Auf der Bildfläche erschien schon lange ein Bekannter aus alter Zeit, der jetzige Geheimrat im Staatsministerium, ehemaliger Kreuzzeitungs-Wagener, dem diplomatischen Generalstab eingereiht. »Sie werden heut den armen Jules bei mir zu Tische sehen. Er hat einen vortrefflichen Appetit, was seine Redseligkeit beeinträchtigt, und bevorzugt jetzt eine hochdiplomatische Schweigetaktik.« Ottos boshafter Humor gefiel sich darin, wenn man die Friedenspfeife rauchte, den gewiegten Advokaten in ein unauffälliges Kreuzverhör zu nehmen und ihm dann in veränderter und erweiterter Auflage alles das als seine eigene Kenntnis der Pariser Dinge zu wiederholen, was er just vorher ausfragte.
Am 29. fand ein Galadiner statt, wobei ein Dutzend Offiziere und Beamte in großer Uniform erschienen. Auf der Tafel prunkten massive Silberbestecke. Um sich für die Ausflucht zu rächen, daß Favre sich hinter die Möglichkeit zu verstecken suchte, seine Vollmachten könnten nicht weit genug gehen, behandelte Otto ihn grausamerweise immer noch nicht als Minister. Er selbst setzte sich in die Mitte der Tafelrunde und lud den Ordonnanzoffizier Hérisson ein, neben ihm Platz zu nehmen, während dessen hoher Vorgesetzter sich ohne Ehrenplatz begnügen mußte, Hérisson zögerte und fragte Favre mit den Augen, der ganz geknickt und gottergeben winkte: »Gehen Sie, mein Kind!« Der junge Offizier staunte zunächst über den germanischen Durst seines schrecklichen Nachbarn, der seinen silbernen Becher mit Bier oder Champagner fortwährend füllte und auf einen Zug leertrank, sodann über dessen heitere Gemütlichkeit, die so rein nichts von den üblichen Gepflogenheiten der sogenannten Staatsmänner hatte. Ihm fehlte jedes Talent zur Feierlichkeit. In die ernstesten Gespräche warf er Witze hinein. Ferner erstaunte Hérisson nicht wenig, als der Kanzler ihm zurief: »Da fällt mir ein, ich kenne Sie ja, ich sah Sie schon früher. Halt, ich hab's! Auf der Freitreppe des Mesmerhauses in Baden-Baden – Fürstin Mentschikow stellte Sie mir vor.« Hérisson wußte das sehr gut, hätte aber nicht erwartet, daß der große Herr sich eines unbedeutenden Sterblichen erinnern könnte. Unterdrückter Bewunderungschorus über ein solches Gedächtnis! Mittlerweile wischte sich der arme alte Favre mehrmals mit der Serviette die Augen und machte seinen patriotischen Schmerz so lächerlich, daß Hérisson als gewandter Franzmann zu blaguieren anfing. Paris sei gar nicht verhungert, sondern mache sich nur lustig über leere Bäuche. Dazwischen erzählte er von Palikao und dem Feldzug in China, wo dieser so viel Diamanten stahl, und tauschte mit dem Kanzler das schönste Jägerlatein aus, da er in Weidmannsdingen Bescheid wußte. Favre hockte zusammengesunken auf seinem Stuhl, wie begraben unter seinen langen weißen Haaren und schien aus einem Traum zu erwachen, wenn jemand ihn anredete. Dann schüttelte er sich und stieg ins obere Stockwerk hinauf, wo das Verhandlungszimmer sich befand. Otto folgte ihm dorthin aus dem Erdgeschoß. Hérisson, mit dem er sich auf herzliche Vertraulichkeit des Umgangstons einließ, verglich den Koloß mit einem gutmütigen Löwen, der mit Hündchen oder Miezekätzchen spielt und seine gewaltige Klaue einzieht, um sie nicht zu verletzen. Doch kam die Tatze des Löwen zum Vorschein, sobald Favre ein Plaidoyer für Frankreichs noble Gesinnungen hielt, die sich so dankbar erweisen würden, wenn man es schone. »Ich bitte, solche larmoyanten Tiraden zu unterlassen. Ihre Nation ist so eitel, daß sie uns nie ihre Niederlage verzeihen würde, selbst wenn wir ihr Gebiet ohne Entschädigung räumten. Die dieser tollen Eitelkeit geschlagene Wunde würde auch dann geradeso bluten und erst vernarben, wenn Sie uns erneut mit Krieg überziehen. Allein werden Sie fortan zu schwach sein, aber Sie würden Bundesgenossen werben, und sollten Sie den letzten Sou drangeben. Im Interesse Europas, nicht nur Deutschlands, müssen wir einen neuen, vielleicht noch ernsteren Krieg zu verhüten suchen, indem wir Frankreich bis aufs Blut schwächen und es auf lange unschädlich machen.«
Auf solche Majestätsbeleidigung der Großen Nation wußte Favre keine andere Antwort als stille Tränen, während Hérisson sich in bitteres Schweigen hüllte. Beide Franzosen fühlten die Wahrheit so unerhörter Sprache. Denn bekanntlich dürfen die leichtfüßigen Gallier überall sengen und brennen, so viel Länder an sich reißen, als ihnen beliebt, aber wenn man sie niederhaut und ihnen geraubtes Gut wieder abnimmt, so lehnt man sich gegen die moralische Weltordnung auf und begeht ein unsühnbares Verbrechen an der Menschheit, die ja bekanntlich nur auf Mariannes schönen Augen beruht.