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In Jüterbog fertigten ihn die Schaffner, von denen keiner den hochgewachsenen Herrn in Inkognito kannte, kurz ab. Ja, der fahrplanmäßige Zug komme gleich. Ob der König wirklich damit fahre? Möglich, ein besonderer Salonwagen sei nicht dabei. Er möge selber nachsehen. Der Zug lief ein, und Otto fand den König in einem gewöhnlichen Kupee erster Klasse allein. Er sah sehr ernst und sorgenvoll aus und grüßte den unerbetenen Besucher, der ihn in seinen bittern Gedanken überfiel, nicht allzufreundlich.

»Ich habe gewagt, Eure Majestät aufzusuchen, um über die Vorgänge zu berichten, die in höchstdero Abwesenheit –«

»Nicht nötig«, unterbrach der König schroff, »Ich sehe voraus, wo das alles hinaus will. Vor meinen Fenstern auf dem Opernplatz wird man Ihnen den Kopf abschlagen und etwas später mir.«

» Et après, Sire?« kam die kurze Antwort.

»Ja, après, dann sind wir eben tot.«

»Gut, dann sind wir tot, was früher oder später jedem begegnet, aber können wir anständiger sterben? Ich im Kampf für meinen König, mein König in Verteidigung seines guten Rechts. Ob man auf dem Schlachtfeld fällt oder auf dem Schafott, ist gleich, wenn man rühmlich sein Leben opfert. Eure Majestät tragen die Krone von Gottes Gnaden und sind nur Gott verantwortlich. Ich weiß wohl, daß man von Ludwig XVI. redet.« Das war in Baden wirklich geschehen. »Das war ein Schwächling, der vor der Geschichte als eine wenig erhebende Erscheinung gilt. Karl I. dagegen, der zwar die Schlacht verlor, wo er tapfer kämpfend voranzog, und dann sein Königtum mit dem Blute unter Henkerbeil besiegelte, wird er nicht immer vornehm und königlich vor der Nachwelt stehen? Und hat er nicht so für England das monarchische Prinzip gerettet?« Das war alles wahr, und das erzkonservative England feiert noch heute den »Märtyrer-König«, aber daß dieser bis zum Meineid verlogene und heuchlerische Tyrann mit dem Blut vieler Märtyrer seine eigene weiße Hand befleckte, und daß ein Abgrund ihn von dem streng gewissenhaften, durch und durch redlichen, im wahrsten Sinne ehrenhaften Wilhelm I. trennte, das wußte Otto natürlich auch. Was hier vor allem nötig schien, war die Berufung auf Tapferkeit und Selbstverleugung. Das edle Gesicht des Königs belebte sich zusehends, es fuhr gleichsam ein Leuchten darüber hin.

»In der Tat«, bekräftigte er ruhig, »hat der Tod dieses Königs etwas Begeisterndes.«

»Eure Majestät sind jetzt in gleicher Lage wie er. Sie sollen vergewaltigt werden und müssen fechten. Und selbst wenn leibliche Gefahr droht, dürfen und sollen Sie nicht kapitulieren.«

»Nein, das will ich nicht.« Die große Gestalt des königlichen Greises straffte sich. Jetzt war er der preußische Offizier, der für König und Vaterland ohne Besinnen dem sicheren Tode trotzt. Otto hatte ihn am Portepee gefaßt, und solchem Alarmappell gehorcht jeder Soldat. »Die leibliche Gefahr beunruhigt mich wirklich sehr wenig,« fügte er mit einem herzerfrischenden, leisen Lächeln hinzu. Die beiden gänzlich Furchtlosen blickten sich in die Augen.

»Eure Majestät sind der erste Offizier im Lande und haben Ihre Instruktion von Gott, den Posten zu halten. Es ist kein verlorener Posten, aber wenn dem so wäre, so erfüllen Sie den Befehl Ihres einzigen Vorgesetzten, und naseweise Manöverkritik läßt Sie unberührt. Auch sind wir hier auf keinem Manöver, sondern im wirklichen Krieg, und da werden Eure Majestät als oberster Kriegsherr und preußischer Offizier wissen, was Sie zu tun haben.«

»Ich danke Ihnen.« Der König reichte ihm die Hand. In dem dunkeln Kupee ging ihm ein großes Licht auf. »Wie Sie zu mir halten, so werde ich zu Ihnen halten und mich fortan durch keine Kritik und keine furchtsamen Vorstellungen beirren lassen.«

Es war ein Meisterstreich von Psychologie, daß sein Berater ihn mit einem Ruck auf den Pfad stellte, wo sein gerades, ritterliches Wesen die vertrautesten Wegweiser fand, in die Gefechtsposition eines Soldaten vor dem Feind. So hoch er die politische Weisheit seiner weiblich beredsamen Gemahlin ursprünglich einschätzte, es dämmerte seiner Bescheidenheit schon lange, daß diese anscheinende geistige Überlegenheit sich nur auf das Reden und nicht auf das Handeln verstand. Der von seinem Vater geerbte klare, gesunde Verstand und die persönliche Unerschrockenheit, die aber bei jenem etwa Hausbacken-Philiströses an sich trugen, gewannen bei ihm durch mütterliche Beimischung ein höheres Gepräge. Das Weiche, Humane, für poetische Regungen Empfängliche befähigte ihn zu schwunghafter Seelenerhebung, zu einer stillen Begeisterung. So hatten die unerforschlichen Mächte in ihm gerade denjenigen Herrscher ausgewählt, der einzig und allein geeignet schien, sich vom Dämon Genie, den ihm das Schicksal beigesellte, emportragen zu lassen. Seine eigene stumme und inartikulierte Weisheit fand so eine Stimme.

Als der Zug auf dem Berliner Bahnhof einlief und die übrigen Minister dort den Monarchen empfingen, staunten sie über die wider jedes Erwarten heitere Stimmung. »Ja, meine Herren,« äußerte er sich mit leuchtendem Auge, »wir stehen in ernster, aber großer Zeit. Wir werden der Übelstände schon Herr werden und nicht einen Schritt nachgeben. Das Vaterland ruft, und wir werden dem Rufe folgen.« –

Der ehrliche Vincke hatte es wahr gemacht, was er andeutete, er anerkannte das halbe Entgegenkommen der Regierung durch ein »Amendement«, wonach der Regierung angeboten wurde, »die Bewilligung eines vorläufigen extraordinären Kredits zu beantragen«. Er wollte so eine Art Eselsbrücke schlagen, um den Konfliktriß einigermaßen zu überkleistern und den Weg zur Verständigung offen zu lassen. Der Ministerpräsident erkannte dies in der Sitzung vom 7. Oktober ausdrücklich an und gab die Hoffnung nicht auf, daraus einen Anknüpfungspunkt zur Vermittelung zu gewinnen. Die übrigen »Resolutionen« der Budgetkommission bezeichnete er als Zurückweisen der dargebotenen Hand, als eine Herausforderung nach dem Vorschlag zum Waffenstillstand. Die Regierung nehme davon Akt. Die Kompetenzfrage sei niemals rechtlich ausgetragen worden, jetzt werde sie durch theoretische Dialektik und persönliche Polemik nicht gelöst werden. Interpretierung mit Interpretierung zu bekämpfen sei erst an der Zeit, wenn jeder friedliche Ausgleich unmöglich werde. Dagegen sei das Amendement Vincke ein Unterpfand der Verständigung, und er beantrage daher Vertagung der Verhandlung.

Nichts da! Hic Rhodus, hic salta! Jetzt wird verhandelt und mit großer Mehrheit Vinckes Versöhnungsantrag verworfen. Verschiedene Abgeordneten umarmten sich in heller Siegesfreude. Otto hatte ein so drückendes Gefühl seines Besiegtseins, daß er in der Kammersitzung gemütlich an Nanne schrieb, er befinde sich sehr wohl. Die Schwester sandte ihm Blutwurst und Leber, von denen er ein reiches Frühstück zu sich nahm und ihre Schlachttaten segnete. –

In folgenden Ministersitzungen ging es etwas beklommen her. Die Herren machten zum Teil lange Gesichter. Der arbeitsscheue Graf Eulenburg klagte: »Ich bin ganz nervös. Sie kennen ja wohl das Bonmot: Jemand ist klüger als Herr v. Talleyrand, nämlich Herr Tout-le-Monde. Die öffentliche Meinung ist ein harter Knochen. Und was wird das Ausland sagen!«

»Das lassen Sie gefälligst meine Sorge sein. Une grande puissance ne se reconnait pas, elle se révèle, das ist ein anderes Bonmot, und zwar von meinem Freunde Gortschakow, auf Italien angewendet. Wir sind sicher eine viel stärkere und ältere Großmacht als das junge Italien, und werden uns schon ›enthüllen‹. Sobald das Ausland merkt, daß wir ruhig unsern Weg gehen, ohne uns um das Zeitungsgeschrei zu kümmern, wird diese Erkenntnis sich schon durchringen.«

»Aber die finanzielle Seite!« wehklagte Graf Itzenplitz, der Handelsminister, den seine Untergebenen, die Dezernenten oder Vortragenden Räte, völlig beeinflußten. Diese und noch mehr die des Finanzministeriums hatten nur Fühlung mit den Liberalen und haßten das neue Ministerium von ganzer Seele.

»Was soll ich dann erst sagen!« betonte der Finanzminister Bodelschwingh. »Meine Räte machen mir die Hölle heiß.«

»Dann verabreichen Sie ihnen einige kalte Wasserstrahlen. Ihr Delbrück«, wandte er sich an Itzenplitz, »ist eine Kapazität. Aber es sind Durchstechereien in Ihrem Ressort vorgekommen. Haben Sie ein Auge auf die verdächtigen Beamten?«

»O ja,« murmelte jener verlegen, »aber es sind gerade höchst begabte Leute für die Diensttechnik.« Otto wußte, daß er von beiden Ministern keinen werktätigen Beistand erwarten durfte, beide älteren Herren unterhielten sich über ihn nach dem Leitmotiv: Ein dilettantischer Anfänger, der ins Unglück reiten wird!

»Ich werde Ihnen empfehlen, verehrter Kollege, sich an mich zu wenden und mir die geehrten Herren zu dienstlicher Behandlung zu überweisen«, lächelte der Justizminister Graf zur Lippe, wobei er nach seiner staatsanwaltschaftlichen Gewohnheit die Lippe höhnisch verzog. Er glaubte immer noch, sich vor armen Sündern zu befinden, denen sein Plaidoyer ein paar Jährchen Zuchthaus aufbrummen sollte, und hielt jeden Opponenten im Landtag für einen Verteidiger-Rechtsanwalt, den er seine amtliche und geistige Überlegenheit fühlen lassen dürfe. Er brachte damit die Kammer zur Wut und glaubte damit noch ein nützliches Werk zu tun. Wenn Bodelschwingh und Itzenplitz von liberalen Räten am Seil geführt und Selchow als Freimaurer mindestens indifferent, so bot Graf Lippe durch seine ultrareaktionäre Gesinnung dem Ministerium auch keinen rechten Halt, da er nur immer nach den unvernünftigsten Maßregeln drängte. Nur Eulenburg besah politisches Verständnis, aber er haßte als Lebemann trockene Arbeit, die seine Vergnügungssucht beeinträchtigte. Als der Konflikt sich immer weiter bis Neujahr zuspitzte und es ihm ans Leder ging, hielt er sich zwar schneidig genug, aber jammerte dann: »Ich bin hin, mein Nervenleiden nimmt zu, der Arzt verordnet mir Ruhe, und wo die finden!«

»Wenn Sie etwas weniger auf Bälle gehen und der Venus huldigen!« mahnte ihn Otto ernst, der ihn jedoch nicht entbehren konnte.

In diesem frühen Stadium der Verhandlungen fragte Eulenburg an: »Soll das Herrenhaus nun wirklich das revidierte Budget ablehnen und in der Regierungsform annehmen?«

»Gewiß, ich sprach mich nach Eröffnung der Plenarsitzungen im Herrenhaus so aus, und Arnim-Boitzenburg wird den entsprechenden Antrag stellen.«

Dieser alte Staatspräsident war auch nicht wenig verwundert, seinen ehemaligen faulen Referendar als höchste Spitze des Systems vor sich zu sehen. Wehmütig äußerte er zu seinem Neffen Harry: »Man weiß doch nie, was aus einem Menschen werden kann. Unser verehrter lieber Freund hat nie sein Assessorexamen gemacht und trat sozusagen als Wilder in die Diplomatie ein. Ich für mein Teil gebe viel auf korrektes Abwickeln der Examina und Rangstufen.«

»Otto ist ein Meteor«, seufzte der neidische Harry, »und hat eben Glück.«

»Meteore sind flüchtig«, schüttelte sein Onkel den Kopf. »Natürlich unterstütze ich seine Politik, doch wie lange wird's dauern!«

»Wie der ist,« lachte Harry, »geht er überhaupt nicht mehr vom Fleck und bleibt lebenslänglicher Minister in Permanenz.«

»Erzähle keine Märchen! Allerhöchstenorts sitzt er freilich fest ... fürs erste, aber Neujahr ist auch noch ein Tag, und nächsten Oktober ist Ultimo. Ich gebe ihm gerade ein Jahr, im Maximum.« –

Mit höflicher Ruhe vertrat Otto vor dem vereinten Herren- und Abgeordnetenhaus, den »erlauchten, edlen und geehrten Herren«, den unerschütterlichen Standpunkt der Regierung. Er lobte die Handelsverträge mit Japan, Siam, China, Chile, Türkei und vor allem Frankreich, und sah darin die Bürgschaft, daß die dort maßgebenden wirtschaftlichen Grundsätze fortan die Grundlage unserer Handelspolitik bleiben würden. Die Aufhebung des Ortsbriefbestellgeldes sei eine erwünschte postalische Erleichterung. Das Gesetz über die Bergwerksabgaben richte sich gegen ausländische Konkurrenz. Die neuen Bahnlinien Küstrin–Berlin, Görlitz–Waldenburg, Halle–Kassel würden Verkehr und Wohlstand heben. Die Militärkonvention mit den sächsischen Herzogtümern und Waldeck verbessere die Bundeskriegsverfassung. Das Paßwesen werde auf dem Verwaltungswege erleichtert werden. Bezüglich des Etats seien durch Fortfallen der ursprünglich ins Auge gefaßten Steuerzuschläge die Lasten der Bevölkerung nicht gegen früher vermehrt worden. Die Regierung würde sich aber einer schweren Pflichtverletzung schuldig machen, wenn sie den Beschlüssen der Abgeordnetenmehrheit beitreten wollte. Sie wird daher den Staatshaushalt ohne die verfassungsmäßige Unterlage weiterführen, der erwachsenden Verantwortung vollbewußt. Nur mit Selbstbeschränkung und Achtung der gegenseitigen Rechte könne ein gedeihlicher Ausgleich stattfinden.

»Im allerhöchsten Auftrage erkläre ich hiermit die Sitzung der beiden Häuser des Landtages für geschlossen.«

Er hatte also den Kampf aufgenommen, und verschiedene Exaltados erörterten ernsthaft, ob er nicht den Kopf auf den Block legen müsse. Schon jetzt tauchte der im Februar des folgenden Jahres mit riesiger Stimmenmehrheit durchgeführte Plan auf, die Minister für verfassungswidrige Ausgaben mit Person und Vermögen haftbar zu machen. Ängstlich sprach ihm Blanckenburg zu: »Du solltest eine Zession an Bruder Bernhard machen, um einer Konfiskation deinen Grundbesitz zu entziehen. Du weißt, wie unfreundlich der Thronfolger denkt, bei Thronwechsel wäre so etwas schon denkbar.«

»Fällt mir nicht ein. Schmutzige materielle Rücksichten und feiges Drückebergern werde ich mir fernhalten. Die arme Nanne ist tapferer als du. Sie hat keine Schwulitäten, wo es um die Ehre ihres Mannes geht.« –

Er stellte dem König vor, daß er nochmals nach Paris zurückmüsse, da er Napoleon bisher sein Abberufungsschreiben nicht überreichen konnte. »Es ist nicht gut, solche offiziellen Förmlichkeiten zu unterlassen. Übergroße Höflichkeit schadet nie, sobald sie nicht zudringlich wird.« »Die Welt wird aber etwas anderes dahinter suchen und an neue Abmachungen denken«, wandte der König ein.

»Was die Welt urteilt, ist mehr als gleichgültig, da sie fast immer das Gegenteil der Wahrheit denkt. Übrigens könnte es nichts schaden, wenn sich solche Gerüchte verbreiteten, um einigen verdächtigen Elementen Angst zu machen.«

»Aber ich erwarte bestimmt, daß Sie sich auf nichts mit Napoleon einlassen.«

»Verlassen sich Eure Majestät auf mich! Hat er etwaige böse Hoffnungen, so werde ich sie ihm benehmen.«

»Sie fürchten nicht Einmischung des Auslandes? Unsere Revolutionäre wären gewiß erbötig zu jedem Landesverrat.«

Otto lächelte. »Da unterschätzen Majestät Ihr braves Volk. Ganz Preußen würde sich wie ein Mann erheben. Zu allererst würden Vincke und Herr v. Bockum-Dolffs die Plempe ziehen. Überhaupt, wer denkt an Revolution! Nur phantastische Unredlichkeit kann so etwas Eurer Majestät einreden. Solche Befürchtungen lähmen nur den freudigen Mut. Den Herren Stänkern in Kammer und Presse werde ich schon zeigen, wie man mit ihnen umspringen muß.«

*

Er traf den Empereur im Lustschloß Saint Cloud. Dieser zeigte eine betrübte und sichtlich verärgerte Miene. Nach den üblichen Formalitäten begann er:

»Sehen Sie sich um! Dieser Raum ist historisch. Hier unterzeichnete der letzte Bourbon die Juli-Ordonnanzen, die ihn vom Throne stießen. Ich möchte Ihnen raten, nicht Polignacs Geschick zu vergessen.«

»Das findet auf unsere Lage keine Anwendung.«

»Was, und 1848? Ich verfolge mit Sorge die Entwicklung. Die Dinge können nicht so weitergehen. Es wird einen Aufstand in Berlin und eine Massenempörung im ganzen Lande geben. Wenn Sie ein Plebiszit beriefen, würde jedermann gegen den König stimmen und sein Votum als Veto gegen Sie einlegen.«

»Sie verwechseln, Sire, Preußen mit Franzosen. Unsere Leute sind keine Barrikadenbauer, bei uns gibt es nur den Umsturz von oben. Friedrich Wilhelm I. begann damit, Friedrich der Große betrieb es im großen, und die gewaltigen Reformen nach 1807, die wirklich eine Revolution bedeuteten, waren vom König selbst sanktioniert. Ein Plebiszit, wie Sie es nennen, Sire, gibt es bei uns nicht. Und wenn, so würden noch jetzt neun Zehntel für uns stimmen.«

Napoleon wiegte den Kopf. »Ich verkenne nicht die Verschiedenheit des Nationalcharakters. Die guten Deutschen sind so langmütig.« Er seufzte, indem er an seine Franzosen dachte. »Doch die Entfremdung von Krone und Volk muß Ihrem Gebieter, dessen wohlmeinenden Charakter ich kenne, höchst peinlich sein.«

»So ist es. Aber wenn er nur ein paar Jahre widersteht, gewinnt er das Spiel.«

»Und Sie werden natürlich durchhalten? O, Sie kenne ich auch.«

»Sofern der König nicht ermüdet und mich steckenläßt, werde ich mich nie versagen. Viel ernster ist die Frage, ob das Ausland nicht gesonnen ist, den Konflikt zu benutzen, wobei es eine herbe Täuschung erleben würde.«

»Meinen Sie mich?« Napoleon winkte müde mit der Hand ab. »Ich habe augenblicklich die Hände voll mit Mexiko. Auch sollen Sie mich besser kennen, daß mein politisches System sich keinesfalls gegen Preußen richtet.«

»Ich dachte nicht an Sie, Sire, sondern an Österreich.«

»In diesem Fall ist meine Stellung klar vorgezeichnet: absolute Neutralität. Freilich dürfte ich wohl als Äquivalent eine kleine Grenzberichtigung erwarten. Ich ziele auf das Saarbrückener Kohlenviertel.«

»Ich bedaure, den Wunsch Eurer Majestät abschlägig bescheiden zu müssen. Denn selbst, wenn ich wollte, würde der König nicht ein einziges Dorf hergeben, schon aus Rücksicht auf das übrige Deutschland, das uns des Verrats beschuldigen würde.«

»Und darauf dürfen Sie es nicht ankommen lassen, besonders unter jetzigen Umständen. Ich begreife. Also Sie haben meine bedingungslose Zusage.« Indem er Schluß der Audienz andeutete, erhob er warnend die Stimme: »Österreich ist immer noch sehr stark, sein Heer focht bei Solferino recht gut.«

»Das preußische wird noch besser fechten.«

»Sie haben ein gottgesegnetes Selbstvertrauen. Ich sehe Ihnen an, Sie bleiben hartnäckig. Nun, tun Sie, was Sie nicht lassen können!«

Er hält uns für schwach, dachte Otto mit einer gewissen hämischen Schadenfreude, und hofft, nachher zu intervieren. Ob. der Kaiser etwa der Kaiserin und diese ihrer Freundin Pauline Metternich meine Drohung gegen Österreich ausplaudert? Gleichgültig daß die naiven Toren darüber nur lachen werden. Selbstüberhebung und Unterschätzung des Gegners sind allezeit die Bürgen der Niederlage.

Napoleon aber dachte: Der mag die Überzeugung eines Luthers und den Fanatismus eines Mohammed haben, denn die Machtstellung Preußens scheint seine Religion. Er hat ein wenig den Blick des Fanatikers. Aber er wird sein Land ins Verderben stürzen. Selbstüberhebung und Unterschätzung des Gegners sind allezeit die Bürgen der Niederlage.

Wenn zwei dasselbe denken, ist's nicht dasselbe. Als die Kaiserin bei der Tafel fragte, ob er immer noch günstig über den langen Preußen denke, schnippte er geringschätzig mit den Fingern. » Ah bah, ce n'est pas un homme sérieux

Der nicht seriöse Mann saß mittlerweile im verschlossenen Zimmer mit einem seriösen Besucher. Das war der madjarische Graf Seherr-Toß, der seine Dienste anbot. »Wie ich, denken Unzählige bei uns. Ungarn will und muß seine Selbständigkeit erobern. Antiösterreichische Agitation im geheimen vermag viel. Im Falle eines Krieges gegen Preußen werden wir uns dazu anschicken. Ich bin doch recht berichtet, wenn ich voraussetze, Eure Exzellenz als Todfeind Österreichs zu finden?«

Otto nickte. »Ja, ich habe mir vorgesetzt, die Demütigung von Olmütz zu rächen. Dies Österreich, das uns zu seinem Vasallen erniedrigen will, will ich zu Boden werfen und Preußen aufrichten. Wir als rein deutscher Staat haben nichts mit einem dritteldeutschen Staat gemein, der sich anmaßt, in Deutschland das große Wort zu führen. Was nun Ungarn betrifft –« Er hielt zögernd inne.

»Exzellenz verkennen wohl nicht den Wert unserer Beihilfe.«

»Keineswegs. Schon der Alte Fritz pflog mit ungarischen Magnaten eine Geheimverhandlung über ein Bündnis.«

»Vielleicht chokiert Sie der Name Revolution. Doch Sie wissen wohl, daß wir nicht Revolutionäre im sonstigen Sinne des Wortes sind.«

»Gewiß, Herr Graf.« Otto lächelte heimlich. Als ob ihn das was kümmerte! Im Ausland mögen sie so viel revolutionieren als sie wollen, was ja immer nur staatliche Schwächung bedeutet. »Unser Sieg würde auch Ungarn befreien, dessen seien Sie sicher. Ich betrachte Österreich in Deutschland geradeso als Joch der Fremdherrschaft, wie Sie dies für Ungarn tun.«

»Aber wie wird sich Frankreich dazu stellen?« »Darüber schwand mir jedes Bedenken. Ich konferierte heut zwei Stunden mit dem Kaiser und bin seiner Neutralität sicher.« –

Seine alte Flamme, die Kaiserin, empfing ihn liebenswürdig, beim Abschiedsdejeuner bedauerte sie innig, seine angenehme Gesellschaft zu verlieren, auf die sie sich so gefreut habe. Seit er aber »kein seriöser Mann« mehr, also nicht gefährlich, war er vor ihr gerichtet und verlor jeden pikanten Zauber. Dagegen freute sich Kathy Orlow unbändig, ihn wenigstens wiederzusehen.

»Da haben wir's! Nun ist er ein großmächtiger Herr und wird seine alten Freunde vergessen. Abscheulich! Nun kommen wir doch um das gemütliche Zusammenleben in Paris, wie wir's so hübsch uns ausmalten.«

»Wie geht's sonst?« fragte Orlow teilnehmend. »Wie soll's gehen? Sie wissen, wie faul ich bin und nun soll ich arbeiten wie ein Karrengaul. Am liebsten hielt ich auf einer Ofenbank einen Winterschlaf bis nächstes Frühjahr, aber ich muß in die Stränge.« –

Auf der Rückreise hatte er in Magdeburg ein Stelldichein mit dem König, der ihn auf drei Tage zur Hofjagd nach Letzlingen mitnahm.

»Nun, was sagte Napoleon?«

»Alles in Ordnung. Der wird uns ungeschoren lassen.«

»Sie haben ihm doch nicht nach Ihrer stürmischen Art rund heraus gebeichtet, daß wir antiösterreichische Politik machen?«

»Warum denn nicht? Je weitere Kreise dies wissen, um so besser. Das wird in Wien etwas einschüchtern, wo man sich heut so schadenfroh die Hände reibt. Ich hatte auch einige Unterredungen mit Drouyin de l´Huys, dem Minister des Auswärtigen. Ein ziemlich gewandter Spekulant, der auf unseren Konkurs wartet, doch am liebsten den österreichischen Konkurrenten benachteiligt sähe.«

Der König seufzte. »Wir haben heut den 2. November. Wer weiß, wie's übers Jahr an diesem Tage steht!«

»Gut, sicher gut. Immer ruhig vorwärts! Viel wird bis dahin kaum geschehen sein, wir brauchen noch etwas Zeit zur Vervollständigung der Heeresreform.«

»Sehr richtig. Wenn doch die Liberalen nicht so verstockt sein wollten! Sie wissen, wie sehr ich alles Reaktionäre verabscheue. Mir wäre alles recht, wenn wir denn schon mal die Verfassung haben, aber bei dieser Frage lasse ich mir nichts abhandeln. Biegen oder brechen!«

»Es wird nichts brechen, und die Leute werden sich von selber biegen... unter der Gewalt der Ereignisse.«

»Welcher Ereignisse?« Der König sah ihn prüfend an. »Die polnische Frage rührt sich auch schon wieder. Ich habe geheime Nachricht, daß man im Frühjahr neue Insurrektion in Warschau fürchtet. Was dann?«

»Immer für Rußland eintreten. Dort divergieren am Hofe altrussische und polnische Interessen. Der Zar in seiner Großherzigkeit möchte Polen autonom machen, Gortschakow ist nicht dagegen. Ich muß Eurer Majestät jetzt berichten, was der Zar mir vertraulich antrug: etwaige Abtretung der polnischen Distrikte bis Niemen und Weichsel an Preußen.«

Der König spitzte sozusagen die Ohren wie ein Kavalleriepferd beim Klang der Trompete. Der altpreußische Drang nach Gebietserweiterungen war sehr rege in ihm. »Ist das ernst gemeint?«

»Ich glaube ja. Der Zar meinte, Warschau selbst müsse er wohl behalten, weil es ein beliebter Garnisonort sei und zum Festungsdreieck gehöre. Aber er möchte so viel Polen loswerden als möglich, und denkt dabei nur an uns, will natürlich Österreich nichts zuwenden.«

»Wie begründet er das? Das nimmt mich wunder.«

»Die Russen seien doch nie fähig, die Polen zu assimilieren und zu versöhnen, weil letztere sich überlegener Kultur rühmten. Den Deutschen gegenüber liege es umgekehrt. Das Übergewicht der deutschen Kultur können die Polen in sich aufnehmen.«

»Das läßt sich doch hören. Sind Sie dawider?«

»Ja. Der Zar legt zu viel Wert auf Kulturunterschiede. Beim Volk spielt das gar keine Rolle, die vornehmen Polen sind kulturell französiert ohne jeden Beigeschmack deutscher Kultur. Der Zar sprach auch von der unversöhnlichen Feindschaft der russischen Orthodoxie zur römischen Kirche. Natürlich spricht dies bei den erzkatholischen Polen mit. Aber wird der protestantische Ketzer mit viel milderen Augen angesehen? Wenn katholische Landstriche an Polen grenzten, so ließe sich das wohl regeln, wir Ostelbier sind aber fast alles Protestanten mit Ausnahme der paar Schlesier. Haben wir nicht schon Polen genug in Posen und sogar in Schlesien? Das Volk hat nichts gelernt und nichts vergessen. Je mehr von ihnen auf einen Klumpen beisammen sind, desto heißhungriger werden ihre nationalen Ansprüche. Am liebsten möchten sie den Weißen Adler wieder von Smolensk bis Danzig aufpflanzen. Eine Wiederaufrichtung Polens könnte Gefahren für uns haben, wäre aber angängig als Pufferstaat, falls wir je mit Rußland in Feindschaft gerieten. Gottlob ist daran für lange nicht zu denken, und wir sind heut noch zu schwach, solches Wagnis zu unternehmen, was uns gar nichts einbrächte. Schon das sollte uns vor jeder polenfreundlichen Politik abhalten, daß Österreich im Krimkrieg von einem Königreich Polen unter einem Erzherzog träumte. Österreich als katholisches Land wäre auch eher dazu berufen. Für uns liegt heut keinerlei Veranlassung vor, ein unabhängiges Polen zu wünschen, das in Österreichs Bannkreis stände und uns Ungelegenheiten machen kann. Als Nachbar ist das befreunde Rußland sicher vorzuziehen.«

»Ich folge Ihrem lichtvollen Vortrag mit Interesse. Die Polen haben sich auch, ohne Dynastie, wie sie sind, in eine allgemeine Revolutionsstimmung hineingeredet, die keinem Monarchen sympathisch sein kann.«

Der König sah außerordentlich frisch und rüstig aus. Von Gebrechlichkeit des Alters keine Spur mehr. Die Großfürstin Helene, zur Jagd anwesend, sprach ihre Freude darüber aus. »Eure Majestät müssen eine Kur gemacht haben, die Ihnen vorzüglich anschlug!«

Da legte der greise Fürst seine Hand auf Bismarcks Schulter. »Das ist mein Leibarzt.«


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